Wir sind autistisch und das ist gut so.

Laut Laurent Mottron, Professor der Abteilung für Psychiatrie der Universität Montreal, wird allgemein angenommen, dass 75% der Menschen im Autismus-Spektrum intelligenzbehindert sind, jedoch sei dies überhaupt nicht belegt. Er schlägt vor, dass 25% ein zutreffenderer Wert sei. »Das Problem ist«, so Mottron, »dass autistische Intelligenz nicht korrekt gemessen wird«.

Seine kürzlich vorgestellte Arbeit zeigt, dass der Intelligenzquotient von Autisten stark variieren kann, je nachdem wie man ihn misst und wie alt die getestete Person ist.
Die Daten, die Mottron gesammelt hat, stellen nicht nur in Frage, auf welche Art die Intelligenz von Autisten gemessen werden kann, sondern auch unsere Wahrnehmung von Autismus an sich.
Mottron, der seine Beobachtungen vor kurzem auf der Konferenz der Amerikanischen Assoziation für die Förderung der Wissenschaft in St. Louis vorstellte, hat seine Ansicht über Autismus geändert, seitdem er mit Michelle Dawson, die selbst autistisch ist, zusammenarbeitet.
Autistische und nicht-autistische Kinder mit demselben IQ wurden zu Forschungszwecken verglichen. Dabei realisierte Mottron, dass die Ergebnisse der Autisten deutlich variierten, abhängig von dem Test, mit dem gemessen wurde – dem Hamburger-Wechsler-Test oder Raven-Matrizen-Test. In Autisten ohne Sprachprobleme« meint Mottron »haben wir beobachtet, dass der Raven-Test eine im Vergleich zum Wechsler-Test um 30 Perzentile höhere Intelligenz misst.
Das ist der Unterschied zwischen einer leichten Intelligenzbehinderung und normaler Intelligenz, oder der zwischen normaler Intelligenz und Hochbegabung.
Ein großes Problem, denn standardmäßig wird meist der Hamburger-Wechsler-Test verwendet. Dadurch kann es vorkommen, dass autistische Kinder systematisch unterschätzt werden – zusätzlich zu Vorbehalten aufgrund der ungewöhnlichen Art der Kinder. Das kann dazu führen, dass Kindern im Autismus-Spektrum eine ihrer Intelligenz angemessene Schul- und Berufsausbildung, weitergehende Bildung und entsprechende Unterstützung und Förderung versagt wird.
Die Konvention klinischer Untersuchungen setzen voraus, dass, wenn nichts unternommen wird, um Autismus zu korrigieren, die Defizite der Kinder bestehen bleiben würden. Aber das ist eine Legende, sagt Dawson. »Sie wollen uns so machen wie jeden anderen, aber das was wichtig ist zu messen, ist nicht das Level, sondern die Art der Intelligenz.«
Dawson begleitet die Autismus-Forschung schon lange mit kritischen Analysen. »Sie leistet einen unersetzlichen Beitrag zur Wissenschaft« sagt Mottron über Dawson.

Zuletzt bearbeitet am 13.04.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus