Wir sind autistisch und das ist gut so.

Autistische Menschen an der Universität? Wirklich???

Ja, wirklich. Schon immer seit der Entdeckung von Autismus haben Forschende vermerkt, dass eine Anzahl von Menschen im Autismus-Spektrum zur Universität geht.

1966 erwähnten Lorna Wing und J. K. Wing (in: Early Childhood Autism: Clinical, Educational and Social Aspects), dass sie von einem jungen Mann mit Autismus gehört haben, der an der Universität war.

Leo Kanner, der den frühkindlichen Autismus entdeckte, berichtete 1972 (in einer Veröffentlichung namens How Far Can Autistic Children Go in Matters of Social Adaptation?), dass von den 96 Patienten, die vor 1953 an der kinderpsychiatrischen Klinik der John-Hopkins-Psychiatrie, eine*r sich in Mathematischer Physik auf einem Stipendium an der Columbia University auszeichnete, eine*r schnitt im College außergewöhnlich gut ab, Thomas G. ging auf die John-Hopkins-Universität (obwohl er das Studium letzten Endes abbrach), Sally S. machte ihren Abschluss auf einem Frauen-College, Edward F. machte einen Hochschulabschluss in Geschichte, Clarence B. machte den Bachelor auf einem College in Illinois, und Fred G. schnitt an der Universität gut ab.

Es gibt einige gut bekannte Fälle (wie zum Beispiel Temple Grandin) von Menschen, die in ihrer Kindheit mit Autismus diagnostiziert wurden und weitermachten bis zur Promotion – vor einigen Jahren wurde Therese Joliffe die erste autistische Person, die ihren Doktortitel in der Autismus-Forschung machte (an der Universität von Cambridge in Großbritannien).

In Hans Aspergers Veröffentlichung von 1944, in der er das beschrieb, was als »Asperger-Syndrom« bekannt wurde, erwähnt er, dass einer seiner Patienten nicht nur Theoretische Astronomie an der Universität studiert hatte, sondern auch einen mathematischen Fehler in Newtons Arbeit bewiesen hatte und einer vielversprechenden Karriere entgegen ging.

In seinem Buch »Das Asperger-Syndrom: Das erfolgreiche Praxis-Handbuch für Eltern und Therapeuten« schreibt Tony Attwood, dass eine der Menschen mit Asperger-Syndrom, denen er begegnete, ein pensionierter Professor, der für den Nobelpreis nominiert wurde, war.

Christopher Gillberg, der schwedische Experte für Autismus und Asperger-Syndrom, schlug vor, dass Ludwig Wittgenstein, von dem viele meinen, dass er der größte Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts sei, Asperger-Syndrom hatte.

Leider wird die Tatsache, dass einige Personen im autistischen Spektrum zur Universität gehen, oft als entweder unmöglich betrachtet oder als Beweis dafür genommen, dass eine Wunderheilung irgendeiner Art statt fand. Aber wie die obigen Beispiele zeigen, ist es möglich, die intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten zu haben, die für wissenschaftliches Arbeiten auf Universitätsniveau notwendig sind, und zugleich das soziale Anderssein und andere Probleme, die das autistische Spektrum charakterisieren, zu erfahren.

Wie viele autistische Studierende gibt es?

Das weiß niemand. Soweit ich weiß, hat bisher kein_ Forscher_in versucht, es herauszufinden. Weil die Menschen mit High-Functioning-Autismus/ Asperger-Syndrom, die es bis zur Universität schaffen, zu den am besten funktionierenden und fähigsten auf dem autistischen Spektrum gehören, fallen sie auch am ehesten durchs diagnostische Netz. Viele gelangen nicht-diagnostiziert oder fehldiagnostiziert zur Universität.

Warum kann die Universität vorteilhaft sein für autistische Menschen?

  • die unterstützende Umgebung einer Universität kann den Übergang vom Leben zu Hause hin zu einem unabhängigen Leben erleichtern.
  • weil eine Disposition auf dem autistischen Spektrum es erschweren kann, Arbeit zu finden oder zu behalten, sind Qualifikationen besonders wichtig. Ein Studium kann typisch autistische Fähigkeiten (wie zum Beispiel ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Spezialinteressen, Affinität zu Computern usw.) in sinnvolle und nützliche Qualifikationen verwandeln.
  • Interessanterweise scheint ein Beruf, je mehr akademische Qualifikationen er verlangt, desto weniger soziale Fähigkeiten zu verlangen (wenn du eine Professur erlangst, wird exzentrisches Verhalten nicht nur toleriert, es ist praktisch verpflichtend …)

Welche besonderen Bedürfnisse haben autistische Studierende?

Es gibt bisher keine Forschungen bezüglich der besonderen Bedürfnisse und Probleme von Studierenden mit High-Functioning-Autismus/Asperger-Syndrom, und weil dies eine sehr breite Kategorie ist, haben Individuen sehr unterschiedliche Bedürfnisse. Einige besondere Bedürfnisse, die in Diskussionen auf der Mailingliste Autuniv-L erwähnt wurden oder woanders geschrieben wurden, schließen mit ein:

  • Größte Schwierigkeiten, mit Zimmergenoss*innen in gemeinsamen Unterkünften umzugehen, und Bedarf von Ruhe und Einsamkeit, um arbeiten zu können.
  • Schwierigkeiten mit der Nähe zu anderen – das führt zum Bedarf eines Gangplatzes bei Prüfungen, oder dazu, Prüfungen in einem getrennten Raum zu machen.
  • Bedürfnisse, die ähnlich denen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche und anderen Lernbehinderungen sind, wie zum Beispiel zusätzliche Zeit für Prüfungen
  • Probleme, in Seminaren und Diskussionsgruppen mit anderen zu interagieren
  • Große Schwierigkeiten, in der Öffentlichkeit zu reden, besonders ohne Notizen
  • Schwierigkeiten, Anweisungen und Anforderungen zu verstehen
  • Hoher Grad an Angst und Anfälligkeit für Stress
  • Schwierigkeiten, mit dem sozialen Umfeld an der Universität zurechtzukommen und mit anderen Studenten umzugehen

Universitäten und Fachhochschulen sollten die Good Practice Guidelines der National Autistic Society kennen.

Wenn ich mit den Fingern schnippen konnte und nicht-autistisch wäre, würde ich es nicht tun – weil ich dann nicht mehr ich wäre. Autismus ist Teil dessen, was ich bin.

Temple Grandin

Diesen (leicht gekürzten) Text veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Clare Sainsbury

Clare Sainsbury ist Autorin des Buchs Martian In The Playground, in dem 25 Menschen im Autismus-Spektrum über ihre Schulerfahrungen berichten. Sie las über das Asperger-Syndrom, als sie 20 Jahre alt war und erkannte sich darin wieder. Heute engagiert sie sich für Menschen im Autismus-Spektrum in Großbritannien.