Wir sind autistisch und das ist gut so.

Die Idee des Grundeinkommens geht davon aus, dass jeder Mensch das Recht auf Menschenwürde und Teilhabe an der Gesellschaft hat, ungeachtet seiner ökonomischen Verwertbarkeit. Für diejenigen, die das bedingungslose Grundeinkommen nicht kennen, wurde dieses FAQ geschrieben.

Was ist das bedingungslose Grundeinkommen?

Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Mindesteinkommenssicherung. Es ist ein Betrag, den jedes Mitglied einer politischen Gemeinschaft (im Allgemeinen meint das: des Staates) bedingungslos bekommt.
Bedingungslos heißt:

  • Das Grundeinkommen wird gezahlt, ohne zu prüfen, ob die Person bedürftig ist. Jede_r hat einen Anspruch auf das Grundeinkommen, unabhängig davon, was er_sie sonst noch verdient.
  • Das Grundeinkommen wird gezahlt, ohne dass eine Gegenleistung (z.B. Arbeit oder Arbeitsbereitschaft) verlangt wird.

Das bedingungslose Grundeinkommen soll

  • die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen,
  • einen individuellen Rechtsanspruch darstellen,
  • ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt werden,
  • keinen Zwang zur Arbeit bedeuten.

Das bedingungslose Grundeinkommen wird an einzelne Menschen ausgezahlt, nicht an Haushalte (eine Ausnahme ist das bedingungslose Grundeinkommen für Kinder, dass an die Eltern ausgezahlt wird).

Warum ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Früher war es notwendig, das möglichst jeder Mensch Güter erwirtschaftete, damit alle genug zu essen hatten. Heute ist das anders: durch Technik und Rationalisierung produzieren wir in unserer Gesellschaft viel mehr als früher – mit weniger Arbeitskräften. Die hohe Arbeitslosigkeit ist kein Zeichen des Versagens, sondern ein Zeichen des Reichtums unserer Gesellschaft.
Doch Arbeitslose haben von diesem gesellschaftlichem Reichtum nichts. Wer von Hartz IV lebt, dem reicht das Geld kaum zum Überleben – von einer Teilhabe an der Gesellschaft kann dabei keine Rede sein. Zudem müssen Hartz-IV-Empfänger_innen mit Schikanen der Ämter rechnen und auf ihre Grundrechte, ihre Privatsphäre und ihre Würde weitgehend verzichten.
Von den Antragsteller_innen wird verlangt, Kontoauszüge vorzulegen, die nicht nur auf das Vorhandensein von Vermögen oder Einkommen überprüft werden, sondern auch auf die “Angemessenheit” der Ausgaben – Bevormundung pur. Einige Sachbearbeiter_innen observieren monatelang vor allem alleinstehende Frauen, mit der Unterstellung, dass da doch sicher noch ein Mann im Hintergrund wäre, der sie versorgt. Teilweise kommen Sachbearbeiter_innen unangekündigt in die Wohnung, durchwühlen die Schränke, kommen ins Schlafzimmer und untersuchen den Zustand des Bettes und des Badezimmers. Proteste und Weigerungen wurden in einigen Fällen mit Kürzungen oder Streichungen des ALGs quittiert – rechtswidrig, aber eine Klage kann dauern. Abhängigkeit von der Gnade der Sachbearbeiter_innen heißt weitgehende Rechtlosigkeit.
In einem Forum, das ausschließlich Mitarbeiter_innen der Sozialämter bzw. der ARGE vorbehalten war (inzwischen geschlossen), diskutierten selbige in absolut menschenverachtender Weise über ihre Klient_innen – und deren Verwertbarkeit:

So berichtet ein Forenteilnehmer namens “Hartzer Roller” über den Bericht: “Professor fordert legalen Organhandel zur Finanzierung des Lebensminimums” (auch hier). Worüber ein weiterer zu kommentieren meint: “Blöder Vorschlag. Wäre doch nur Vermögensumwandlung” und ein Dritter findet sogar: “Allerdings ist das Vermögen dann verwertbar und überschreitet eventuell die Schonvermögensgrenze. Wenn endlich mal die `Lizenz zum Ausschlachten` käme, Organfreigabe also wie in manchen Ländern die Regel wäre, müsste man solchen Blödsinn nicht diskutieren.”

ARGE-Mitarbeiter_innen versuchten bereits, einen querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer als Dachdecker zu vermitteln; andere Leute werden aufgefordert, sich bei MLM-Firmen zu bewerben, von denen sie mittels betrügerischer Schneeballsysteme abgezockt werden würden. Eine Hartz-IV-Empfängerin wurde sogar zu Zwangsprostitution gezwungen.
Arbeitslose können nichts dafür, dass es nicht genug Arbeit für alle gibt! Arbeitslose können nichts dafür, dass Politiker_innen sich das Ziel gesetzt haben, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und daran (zwangsläufig) scheitern – es ist nicht fair, dass Politiker_innen versuchen, Arbeitslose als die Schuldigen hinzustellen, indem sie diese als “Sozialschmarotzer” bezeichnen.
Warum sollte eine Person Tag für Tag am Fließband eine stupide Arbeit ausführen, die eine Maschine genauso gut oder besser ausführen kann? Wäre es für die Gesellschaft nicht viel besser, wenn die Person stattdessen…

  • Forschungen betreibt
  • Bücher und Blogs schreibt, Podcasts und Videos dreht
  • mit Freunden am See spazieren geht
  • hilft, eine Veranstaltung zu organisieren
  • einen Italienisch-Kurs besucht
  • ein Open-Source-Programm programmiert
  • den Kindern bei den Hausaufgaben hilft
  • oder einfach zufrieden zuhause auf dem Sofa liegt

Das ist aber nur möglich, wenn die Person ein Einkommen hat – eines, dass es ihr ermöglicht, Teil der Gesellschaft zu bleiben und frei von Existenzangst zu leben.
Gleichzeitig gibt es in unserer Gesellschaft viel Arbeit, die nicht bezahlt wird: die Erziehung von Kindern, die Versorgung und Pflege alter oder kranker Familienmitglieder, Hausarbeit, unbezahlte Mitarbeit bei Non-Profit-Organisationen und ähnliches. All das sind Dinge, die gemacht werden müssen – und sie werden gemacht, zumeist von Frauen. Ein Grundeinkommen könnte somit auch dazu beitragen, dass Hausfrauen und (alleinerziehende) Mütter größere wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangen und dass ihre Arbeit eine stärkere Anerkennung erfährt.
Katja Kipping, Bundestagsabgeordnete der Linken, bezeichnet das bedingungslose Grundeinkommen auch als »Demokratiepauschale«: Wer durch das Grundeinkommen abgesichert ist, besteht eher auf seine Rechte.

Wer in jeder Situation grundabgesichert ist, ohne dabei Repressionen à la Hartz IV befürchten zu müssen, ist von Chef oder der Chefin nicht so schnell erpressbar. Demokratie lebt davon, dass sich Menschen auch jenseits der Wahlen einbringen. Politisches Engagement setzt jedoch voraus, dass man sich eine Tageszeitung oder die Fahrt zur Demo leisten kann. Insofern stellt das bedingungslose Grundeinkommen eine Demokratiepauschale dar.

Ist das bedingungslose Grundeinkommen finanzierbar?

Das ist meistens die Frage, die zuerst kommt. Komisch eigentlich, dass keiner fragt, ob ein Milliarden-Paket für die Banken finanzierbar ist – jeder geht offensichtlich davon aus, dass es das so ist. In den letzten dreißig Jahren wurden in Deutschland die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Das war offensichtlich finanzierbar… eine gerechtere Verteilung ist es ebenso – man muss es nur wollen.
Jeder Mensch in Deutschland hat irgendeine Art von Einkommen, sei es ein Gehalt, eine Rente, Arbeitslosengeld oder Unterhalt durch Familienangehörige. Von zehn Menschen in Deutschland sind vier erwerbstätig, drei erhalten ihr Einkommen von den Angehörigen (vor allem Kinder und Jugendliche), zwei leben von Rente oder Pension, weniger als einer lebt von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Einkommen, das nicht auf eigener Erwerbstätigkeit beruht, nennt man Transfer-Einkommen – und offensichtlich sind uns solche Transfer-Einkommen nicht fremd – nur ihre Bedingungslosigkeit. Ob ein Einkommen Arbeitslosengeld oder bedingungsloses Grundeinkommen heißt, ändert nicht unbedingt etwas an der Finanzierung. Über die Höhe wird bei beiden kontrovers diskutiert. Verschiedene Wissenschaftler_innen sind zum Ergebnis gekommen, dass das Grundeinkommen definitiv finanzierbar ist (dazu in den Links unten mehr).
Das Grundeinkommen wird nicht auf Löhne und Gehälter “obendrauf” gerechnet. Löhne und Gehälter würden durch den Markt entsprechend angepasst werden. Mehr Geld hat erst einmal nur, wer bisher weniger hatte als die Höhe des Grundeinkommens. Die verschiedenen Grundeinkommens-Modelle sehen allerdings unterschiedliche Änderungen in der Besteuerung vor, weshalb man bei jedem Modell einzeln sehen muss, wer profitiert.
Die Diskussion um die Finanzierbarkeit scheint eher wie ein Scheingefecht – was viele Politik_innen und Wirtschaft wirklich befürchten, ist Kontrollverlust. Denn das Grundeinkommen schafft mehr Selbstbestimmung und Freiheit. Außerdem unterscheidet sich das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens so stark von unserem bisherigen, veralteten Sozialstaatsmodell, dass es den meisten Menschen schwer fällt, es zu denken.

Wer geht noch arbeiten, wenn es das bedingungslose Grundeinkommen gibt?

Zum einen wird das bedingungslose Grundeinkommen nur ein Mindesteinkommen sein – die meisten Menschen werden mehr Geld haben wollen. Zum anderen bedeutet Erwerbsarbeit für viele Menschen soziale Anerkennung, ein Stück Identität und soziale Kontakte. Interessanterweise nehmen die meisten Menschen an, dass andere Menschen nicht arbeiten wollen, sie selbst jedoch wollen größtenteils arbeiten.
Die meisten Menschen wollen arbeiten – möglicherweise unter anderen Bedingungen. Das bedingungslose Grundeinkommen stärkt auch die Position der Arbeitnehmer: denn solange ihnen nach einer Kündigung Hartz IV droht, erbringen Arbeitnehmer auch unbezahlte Überstunden und andere Zusatzleistungen – auch, wenn sie das nicht wollen und auch, wenn die Forderung des Arbeitgebers rechtswidrig ist. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen im Rücken können sie sich gegen unberechtigte Forderungen wehren – denn ihre Existenz ist gesichert.
In Gesprächen habe ich oft festgestellt, dass viele Menschen im Autismus-Spektrum (aber auch viele andere Menschen) in der derzeitigen Arbeitswelt zwar Geld verdienen können – aber oft nicht genug, um davon zu leben. Das derzeitige Sozialsystem macht es ihnen jedoch fast unmöglich, Geld zu verdienen: Wenn Selbständige ergänzendes Hartz IV beantragen müssen, stehlen stundenlange Wartezeiten im Amt ihnen die Arbeitszeit, die Schikanen des Amtes zermürben sie, das entgegengebrachte pauschale Misstrauen, ob sie nicht “Sozialbetrüger” seien, und die komplizierten Einzelnachweise des Einkommens beanspruchen bald mehr Energie als die selbständige Arbeit – und die Angst, Wohnung und Krankenversicherung zu verlieren, weil das Amt monatelang nicht zahlt, fressen sie innerlich auf. Fazit: Das derzeitige Sozialsystem hindert viele Menschen daran, sinnvoll produktiv zu sein – ob bezahlt oder unbezahlt.
Hinzu kommt: Wer nicht arbeiten will, der arbeitet sowieso nicht, unabhängig davon, ob es ein Grundeinkommen gibt oder nicht. Arbeitnehmer_innen, die ihre Arbeit ablehnen, sind unproduktiv und tun nur das Allernötigste. Im Grunde blockieren sie Arbeitsplätze, die andere gern hätten. Ein Grundeinkommen könnte für mehr Zufriedenheit und zugleich für mehr Produktivität sorgen. Denn wer freiwillig arbeitet, arbeitet produktiver.
Wahrscheinlich werden viele Menschen zwischendurch allein vom Grundeinkommen leben – zum Beispiel, wenn sie kleine Kinder haben, studieren oder ein Sabbatjahr einlegen. Erfahrungsgemäß sind viele davon nach dieser Zeit wesentlich motivierter, (wieder) an die Arbeit zu gehen.

Modelle des bedingungslosen Grundeinkommens

Der wahrscheinlich bekannteste Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens in Deutschland ist Götz W. Werner, Gründer der Drogeriemarktkette dm. Sein Modell sieht vor, dass das bedingungslose Grundeinkommen durch eine hohe Konsumsteuer (Mehrwertsteuer) als einzige Steuer finanziert wird.
Andere Modelle sehen eine Finanzierung durch die Einkommenssteuer, durch eine Super-Tobin-Steuer oder durch Kombinationen davon vor.
Neben dem bedingungslosen Grundeinkommen gibt es auch das Modell eines Bürgergelds, das Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus von der CDU vorschlug. Es erfüllt nicht die Kriterien eines bedingungslosen Grundeinkommens, wird aber trotzdem oft in diesem Zusammenhang genannt, weil es Ähnlichkeiten damit hat. Es gibt noch weitere unterschiedliche Vorschläge und Modelle, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen aussehen könnte. Eine gesellschaftliche Diskussion der verschiedenen Modellen ist auf jeden Fall nötig.

Autist_innen und das bedingungslose Grundeinkommen

Autist_innen leben überproportional häufig von Hartz IV. Sie würden, genauso wie andere, von den Vorteilen eines bedingungslosen Grundeinkommens profitieren. Einige Punkte erscheinen mit noch gesondert erwähnenswert:

  • Viele Autist_innen sind nicht oder nur mit größten Anstrengungen in der Lage, sich von Ämtern ihre Rechte zu erstreiten, wenn ihnen diese vorenthalten werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde diese Probleme lösen.
  • “Erwerbsunfähig” zu sein, heißt nicht, nicht arbeiten zu können, es heißt lediglich, unter den gegenwärtigen Bedingungen des Arbeitsmarktes nicht arbeiten zu können. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen als Grundlage könnte es für viele Autist_innen einfacher sein, etwas dazuzuverdienen.
  • Der Wert und die Würde eines Menschen dürfen nicht an seiner ökonomischen Nützlichkeit festgemacht werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wahrt die Würde von Menschen ungeachtet seiner ökonomischen Verwertbarkeit und würde (müsste!) einen Wandel im Denken bewirken: allen Menschen wird Respekt entgegengebracht, ob sie Arbeit haben oder nicht.
  • Die Autismus-Diagnose, insbesondere die Diagnose “Asperger-Syndrom”, wird oft gestellt, weil Menschen nicht den derzeitigen Ansprüchen an Arbeitnehmer_innen genügen (nicht “teamfähig” genug, nicht genug “soziale Kompetenz”, nicht “flexibel” genug” etc.) und eine Begründung dafür gesucht wird – von ihnen selbst oder von der Arbeitsagentur. Einmal mehr werden gesellschaftliche Probleme individualisiert: statt dass man die Rationalisierung und die damit einhergehende rückläufige Zahl der Arbeitsplätze als Ursache erkennt, psychiatrisiert man Individuen. Hartz IV und eine Diagnose bedeuten eine doppelte Stigmatisierung. Die psychosozialen Auswirkungen dieser Situation weit am Rand der Gesellschaft sind bisher leider nicht erforscht. Es wäre wünschenswert, dass Wissenschaftler_innen beginnen, dieses Thema zu untersuchen.

Bücher, Filme und Websites zum bedingungslosen Grundeinkommen

Bücher

Einkommen für alle: Der dm-Chef über die Machbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommen von Götz Werner. Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit von Andreas Exner, Werner Rätz und Birgit Zenker. Ein Grundeinkommen für alle?: Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags von Yannick Vanderborght, Philippe Van Parijs, Christian Brütt, und Michael Tillmann.

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Filme/Videos

Websites

Zuletzt bearbeitet am 13.04.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus