Wir sind autistisch und das ist gut so.

Eltern berichten oft, dass es das traumatischste Erlebnis war, das ihnen je widerfahren ist, als sie erfuhren, dass ihr Kind autistisch ist.

Nicht-autistische Menschen sehen Autismus als eine große Tragödie, und Eltern erleben während aller Lebensphasen des Kindes und der Familien ständige Enttäuschungen und Traurigkeit.

Aber diese Traurigkeit stammt nicht vom Autismus des Kindes an sich. Es ist eine Trauer über den Verlust des normalen Kindes, auf das die Eltern gehofft und das sie erwartet hatten.

Die Einstellungen und Erwartungen der Eltern und die Unterschiede zwischen dem, was die Eltern von Kindern eines bestimmten Alters erwarten und der tatsächlichen Entwicklung ihres eigenen Kindes, rufen mehr Stress und Schmerz hervor als die vielschichtige Praxis des Lebens mit einem autistischen Menschen.

Ein gewisses Maß an Trauer ist natürlich, wenn Eltern sich auf die Tatsache einstellen, dass ein Ereignis und eine Beziehung, auf die sie sich gefreut haben, nicht zu Stande kommt. Aber diese Trauer um ein phantasiertes normales Kind muss getrennt werden von der elterlichen Wahrnehmung des Kindes, das sie tatsächlich haben: das autistische Kind, das Unterstützung von erwachsenen Bezugspersonen braucht und das sehr bedeutungsvolle Beziehungen zu diesen Personen aufbauen kann, wenn sie ihm die Möglichkeit dazu geben.

Sich weiterhin auf den Autismus des Kindes als eine Quelle der Traurigkeit zu konzentrieren, ist sowohl für die Eltern als auch für das Kind schädlich und hindert die Entwicklung einer bejahenden und authentischen Beziehung zwischen ihnen. Um ihrer selbst und ihrer Kinder Willen empfehle ich Eltern dringend, ihre Wahrnehmung darüber, was Autismus bedeutet, grundlegend zu ändern.

Ich lade dich ein zu einem Blick auf unseren Autismus und deiner Trauer von unserer Perspektive aus.

Autismus ist eine Art zu sein. Jim Sinclair

Autismus ist kein Anhängsel

Autismus ist nicht etwas, das eine Person hat, oder eine Glaskugel, in der eine Person gefangen ist. Es gibt kein normales Kind hinter dem Autismus. Autismus ist eine Art zu Sein. Er ist tiefgreifend; er färbt jede Erfahrung, jede Empfindung, jede Wahrnehmung, jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Begegnung, jeden Aspekt des Daseins.

Es ist nicht möglich, den Autismus von der Person zu trennen – und wenn es möglich wäre, wäre die Person, die übrig bliebe, nicht dieselbe Person, die sie vorher war. Das ist wichtig, also nimm Dir einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken: Autismus ist eine Art zu Sein. Es ist nicht möglich, die Person vom Autismus zu trennen.

Deshalb, wenn Eltern sagen:

Ich wünschte, meine Kind hätte keinen Autismus,

sagen sie in Wirklichkeit:

Ich wünschte, das autistische Kind, das ich habe, würde nicht existieren und ich hätte stattdessen ein anderes (nicht-autistisches) Kind.

Lies das noch mal. Das ist es, was wir hören, wenn ihr euch über unsere Existenz beklagt. Das hören wir, wenn ihr um eine Heilung betet. Das wissen wir, wenn ihr von euren größten Hoffnungen und Träume für uns erzählt: dass euer größter Wunsch ist, dass wir eines Tages aufhören zu existieren und Fremde, die ihr lieben könnt, sich hinter unsere Gesichter schieben.

Autismus ist keine undurchdringliche Wand

Du versuchst, eine Beziehung zu deinem autistischen Kind herzustellen und das Kind reagiert nicht. Er scheint dich nicht zu sehen; du kannst sie nicht erreichen; es gibt kein Durchzukommen. Damit ist am Schwierigsten umzugehen, nicht wahr? Es ist nur so, dass das nicht der Wahrheit entspricht.

Schau dir die Sache noch einmal an: Du versuchst eine Eltern-Kind-Beziehung herzustellen, indem du dein eigenes Verständnis von normalen Kindern nutzt, deine eigenen Gefühle gegenüber Elternschaft, deine eigenen Erfahrungen und Eingebungen über Beziehungen. Und das Kind reagiert in keiner Weise, die du als Teil dieses Systems erkennen kannst.

Dies bedeutet nicht, dass das Kind allgemein unfähig ist, Beziehungen einzugehen.

Es bedeutet nur, dass du ein gemeinsames System unterstellst, ein geteiltes Verständnis von Signalen und Bedeutungen, die das Kind tatsächlich aber nicht teilt. Es ist, als ob du versuchst, ein vertrautes Gespräch mit einer Person zu führen, die deine Sprache nicht versteht. Natürlich wird die Person nicht verstehen, worüber du redest, wird nicht in der Art reagieren, wie du erwartest und es ist gut möglich, dass sie die ganze Unterhaltung als verwirrend und unangenehm empfindet.

Es braucht mehr Anstrengung, mit jemandem zu kommunizieren, dessen Muttersprache nicht die gleiche wie die deine ist. Und Autismus geht tiefer als Sprache und Kultur; autistische Menschen sind in jeder Gesellschaft Ausländer. Du wirst deine Auffassung von gemeinsamen Bedeutungen aufgeben müssen.

Unsere Art, Beziehungen herzustellen, ist anders.

Du wirst lernen müssen, dich auf eine Ebene zu begeben, die grundlegender ist, als du vorher wahrscheinlich dachtest, zu übersetzen und zu überprüfen, ob deine Übersetzungen verstanden werden. Du wirst die Gewissheit aufgeben müssen, die man bekommt, wenn man sich auf seinem eigenen vertrauten Terrain bewegt, dass du die Zügel in der Hand hältst, und musst dir von deinem Kind ein bisschen von seiner Sprache beibringen lassen, dich von ihm ein kleines Stück in seine Welt führen lassen.

Und das Ergebnis, wenn du erfolgreich bist, wird dennoch keine normale Eltern-Kind-Beziehung sein. Dein autistisches Kind wird vielleicht sprechen lernen, wird vielleicht eine Regelschule besuchen, zur Universität gehen, ein Auto fahren, selbständig leben, Karriere machen – aber wird niemals so eine Beziehung zu dir haben, wie sie andere Kinder zu ihren Eltern haben.

Oder dein autistisches Kind wird vielleicht niemals sprechen, wird vielleicht von einer abgetrennten Sonderschule in ein geschütztes Beschäftigungsprogramm oder Wohnheim kommen, wird vielleicht sein Leben lang Vollzeitbetreuung und Beaufsichtigung brauchen – aber wird dabei nicht unerreichbar für dich sein. Unsere Art, Beziehungen herzustellen, ist anders.

Versuche, Dinge zu erreichen, von denen Deine Erwartungen dir sagen, dass sie normal sind, und du wirst Frustration, Enttäuschung und Groll, womöglich sogar Wut und Hass erleben.

Nähere dich mit Respekt und ohne vorgefasste Einstellungen an, sei offen, etwas Neues zu lernen, und du wirst eine Welt entdecken, wie du sie dir niemals hättest vorstellen können.

Ja, es erfordert mehr Anstrengung als eine Beziehung zu einem nicht-autistischen Menschen. Aber es ist möglich – vorausgesetzt, dass nicht-autistische Menschen nicht viel stärker beschränkt sind in ihrer Fähigkeit, Beziehungen herzustellen als wir.

Wir verbringen unser ganzes Leben damit, das zu tun. Jeder von uns, der lernt, mit euch zu sprechen, jede von uns, die lernt, in eurer Gesellschaft zu funktionieren, jeder von uns, der die Hand ausstreckt, um eine Verbindung zu euch herzustellen, bewegt sich auf außerirdischem Territorium und nimmt Kontakt zu außerirdischen Wesen auf. Wir verbringen unser ganzes Leben damit, das zu tun. Und dann erzählt ihr uns, wir seien nicht fähig, Beziehungen aufzubauen!

Autismus ist nicht der Tod

Zugegeben, Autismus ist nicht das, was die meisten Eltern erwarten oder worauf sie sich freuen, wenn sie der Ankunft eines Kindes entgegensehen. Was sie erwarten, ist ein Kind, das so sein wird wie sie, das ihre Welt mit ihnen gemeinsam haben wird und zu ihnen eine Beziehung aufbaut, ohne dass sie dazu einen Intensivkurs in der Kontaktaufnahme mit Außerirdischen brauchen.

Selbst wenn ihr Kind eine andere Behinderung als Autismus hat, erwarten Eltern, dass sie in der Lage sind, eine Beziehung zu diesem Kind auf Grundlage dessen, was ihnen normal erscheint, herzustellen; und in den meisten Fällen, selbst wenn man die Grenzen verschiedener Behinderungen in Betracht zieht, ist es möglich, die Art von Bindung herzustellen, auf die die Eltern sich gefreut haben.

Nicht so, wenn das Kind autistisch ist. Viel von der Traurigkeit, den Eltern von autistischen Kindern erleben, kommt daher, dass die erwartete Beziehung zu einem erwarteten normalen Kind nicht eintritt. Die Trauer ist sehr real und sie muss erwartet und es muss daran gearbeitet werden, damit die Menschen ihr Leben fortführen können –

aber sie hat nichts mit Autismus zu tun.

Worauf es hinausläuft, ist, dass du etwas erwartest hast, das dir schrecklich wichtig war und auf das du dich sehr gefreut hast und ganz gespannt gewartet hast, und vielleicht dachtest du eine Weile, du hättest es tatsächlich – und dann, vielleicht allmählich, vielleicht ganz plötzlich, musstest Du erkennen, dass das, worauf du dich gefreut hast, nicht passiert ist. Es wird nicht passieren. Egal, wie viele andere, normale Kinder du hast, nichts kann die Tatsache ändern, dass dieses Mal das Kind, auf das du gewartet und gehofft und geplant und das du dir erträumt hast, nicht gekommen ist.

Das ist dieselbe Erfahrung, wie sie Eltern machen, deren Kind totgeboren wird, oder wenn die Eltern ihr Kind nach der Geburt kurz in den Armen halten, nur um ansehen zu müssen, wie es noch als Baby stirbt. Es geht nicht um Autismus, es geht um zerstörte Erwartungen.

Ich schlage vor, dass der beste Raum, diese Probleme anzusprechen, nicht Organisationen sind, die sich Autismus widmen, sondern Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen für trauernde Eltern. In dieser Umgebung lernen Eltern, ihren Verlust zu bewältigen – nicht ihn zu vergessen, aber ihn in der Vergangenheit zu lassen, damit die Trauer ihnen nicht in jedem wachen Augenblick ihres Lebens ins Gesicht schlägt. Sie lernen zu akzeptieren, dass ihr Kind gegangen ist, für immer, und dass es nicht mehr zurück kommt.

Am wichtigsten ist, dass sie lernen, ihre Trauer um das verlorene Kind nicht an ihren überlebenden Kindern auszulassen. Dies ist von entscheidender Bedeutung, wenn eins der überlebenden Kinder zur selben Zeit ankommt, zu der das Kind, um das man trauert, starb.

Du hast kein Kind an den Autismus verloren. Du hast ein Kind verloren, weil das Kind, auf das du gewartet hast, nie zur Welt kam.

Wir brauchen und verdienen Familien, die uns sehen können und uns um unser selbst willen schätzen.

Das ist nicht die Schuld des autistischen Kindes, das lebt, und wir sollten dafür nicht die Last tragen. Wir brauchen und verdienen Familien, die uns sehen können und uns um unser selbst willen schätzen, nicht Familien, deren Bild von uns verschleiert wird durch die Geister von Kindern, die nie gelebt haben.

Trauer ist notwendig, Trauer um deine eigenen verlorenen Träume. Aber trauere nicht um uns. Wir leben. Wir sind Wirklichkeit. Und wir warten hier auf dich.

Darum, denke ich, sollte es in Autismus-Organisationen gehen: kein Trauern um etwas, das niemals war, sondern eine Erkundung dessen, was ist. Wir brauchen euch. Wir brauchen eure Hilfe und euer Verständnis. Eure Welt ist nicht sehr offen für uns, und ohne eure entschlossene Unterstützung schaffen wir es nicht.

Ja, es gibt eine Tragödie, die mit Autismus einhergeht: nicht das, was wir sind, sondern das, was uns widerfährt.

Sei darüber traurig, wenn du über etwas traurig sein willst. Besser jedoch als traurig darüber zu sein, werde wütend darüber – und dann tu etwas dagegen. Die Tragödie ist nicht, dass wir hier sind, sondern dass eure Welt keinen Platz für uns hat. Wie kann es anders sein, solange unsere eigenen Eltern sich immer noch grämen, dass sie uns auf die Welt gebracht haben?

Schau dir hin und wieder dein autistisches Kind an und nimm dir einen Moment Zeit, um dir klar zu machen, was dein Kind nicht ist. Denke im Stillen: Das ist nicht das Kind, das ich erwartet und für das ich geplant habe. Dies ist nicht das Kind, auf das ich all die Monate während meiner Schwangerschaft und all die Stunden bei der Entbindung gewartet habe. Das ist nicht das Kind, für das ich all die Pläne gemacht habe, um alle Erfahrungen mit ihm zu teilen. Jenes Kind ist nicht gekommen. Das ist nicht jenes Kind. Dann arbeite an jeglicher Trauer, die du bewältigen musst – in Abwesenheit deines autistischen Kinds – und fange an zu lernen, loszulassen.

Nachdem du angefangen hast, loszulassen, komm zurück und betrachte wieder dein autistisches Kind und sage zu dir selbst: Das ist nicht mein Kind, das ich erwartet und für das ich geplant habe. Das ist ein außerirdisches Kind, das durch Zufall in meinem Leben gelandet ist. Ich weiß nicht, wer dieses Kind ist oder was aus ihm werden wird. Aber ich weiß, dass es ein Kind ist, gestrandet in einer fremden Welt, ohne Eltern von seiner eigenen Art, die sich um es kümmern könnten. Es braucht jemanden, der sich um es kümmert, ihm etwas beibringt, es versteht und sich für seine Rechte einsetzt. Und weil dieses fremde Kind zufällig in mein Leben hereingeschneit ist, ist das meine Aufgabe, wenn ich es behalten will.

Wenn Du diese Aussicht aufregend findest, dann komm und schließe Dich uns an, mit Kraft und Entschlossenheit, voller Hoffnung und Freude. Das Abenteuer deines Lebens liegt vor dir.

Ein Zitat von Jim Sinclair

Dieser Artikel wurde im Newsletter des Autism Network International »Our Voice« 1993 (Vol. 3, Nr. 3) veröffentlicht. Es ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den Jim Sinclair 1993 auf einer internationalen Autismuskonferenz in Toronto hielt und richtet sich speziell an die Eltern autistischer Kinder.

Zuletzt bearbeitet am 29.01.2022.

Jim Sinclair, B.A.

Jim Sinclair ist ein autistischer Aktivist, der zusammen mit Kathy Lissner Grant und Donna Williams 1992 das Autism Network International (ANI) gründete. Sinclair studierte Rehabilitationsberatung an der Universität von Syracuse.