Wir sind autistisch und das ist gut so.

Anderssein & Norm: Was heißt das?Autistische Menschen sind anders als andere Menschen. Wir hören das die ganze Zeit, aber was bedeutet es wirklich?

Für nicht-autistische Menschen, einschließlich der meisten unserer Eltern und Lehrkräfte, ist das Anderssein einer der beunruhigendsten Aspekte von Autismus.

Eine Therapie wird in dem Maße als erfolgreich betrachtet, in dem sie bewirkt, dass die autistische Person sich mehr wie eine nicht-autistische Person verhält. Eine autistische Person wird in dem Maße als erfolgreich betrachtet, in dem sie gelernt hat, sich normal zu verhalten.

Aber was bedeutet Anderssein und Normalsein für uns?

Karen und Arnold Reznek fragen, wann ich ein Bewusstsein dafür entwickelt habe, anders zu sein. Meine Antwort ist, dass ich das immer noch nicht habe, zumindest nicht in dem Sinn, in dem sie es meinen. Ich hab mich einfach nicht mit der Erwartung aufgemacht, dass ich gleich wie andere Menschen sein sollte.

Ich bin aufgewachsen umgeben von Dingen, die nicht so waren wie ich – Eltern und andere Erwachsene, Hunde, Hamster, Bäume, Blumen, Möbel – und es kam mir nie in den Sinn, überrascht darüber zu sein, dass sie nicht so waren wie ich. Andere Kinder waren nur eine weitere Kategorie von Dingen in der Welt.

Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich eins von ihnen sein sollte.

Was für mich so etwas wie ein Offenbarung war (und es passierte erst, nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte), ist, dass andere Menschen erwarten, dass ich einer von ihnen sein sollte. Das war ziemlich überraschend für mich und es schien mir mehr als ein bisschen lächerlich, als ich es feststellte, und ich verstehe es bis heute nicht wirklich.

Es gab einige Dinge, denen ich mir von einem viel früheren Alter an bewusst war. Ich habe bemerkt, dass andere Kinder mich gehänselt haben.

Das war einfach Teil des Lebens: Ich mochte es nicht, und manchmal hab ich mich gefragt, was mit ihnen los war, dass sie so gehässig waren, aber ich dachte ganz bestimmt nicht, dass ich so sein sollte wie diese gehässigen Menschen.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich drängte: Sei nett zu ihnen und sie werden deine Freunde werden. Ich wusste nicht, wovon sie redete. Nett sein? Ich hab nichts getan, um sie zu verletzen. Ich habe sie in keiner Weise gestört. Ich hab mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert. Was wollte sie mehr von mir? Und ich wollte ganz bestimmt nicht, dass sie meine Freunde wurden. Ich mochte Menschen nicht, die mich so behandelten; warum um alles in der Welt sollte ich sie als Freunde haben wollen? (Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass es einige Kinder gab, die nett zu mir waren und ich habe ihre Freundschaft geschätzt. Es kam mir ebenfalls nicht in den Sinn, sie in eine Gruppe mit dem Kindern, die mich gehänselt haben, einzuordnen.)

Ich habe andere autistische Menschen sagen gehört, dass sie aus folgendem Grund wünschten, sie wären nicht so anders als andere Menschen: Sie wollen nicht schlecht behandelt werden und wissen, dass der Grund für die schlechte Behandlung ist, dass sie anders sind und nicht dazupassen.

Ich selbst bin nie zu dieser Schlussfolgerung gekommen (warum sollte ich unglücklich damit sein, wie ich bin, nur weil die Art, wie einige andere Menschen sich verhalten, unausstehlich ist?), aber ich kann die Argumentation verstehen. Sie wollen mehr wie andere Menschen sein, weil sie einige Vorteile erkennen, die den Status des Angepasstseins begleiten, nicht, weil das Angepasstsein an sich besonders wünschenswert wäre.

Die Vorstellung des Angepasstsein-Wollens um seiner Selbst willen, von Anderssein als Unglück an und für sich, ist keine Vorstellung, die ich von autistischen Menschen gehört habe. Wenn eine autistische Person unglücklich darüber ist, anders zu sein, dann ist es, weil nicht-autistische Menschen der autistischen Person beigebracht haben, dass Schlimmes passiert, wenn du anders bist.

Ich habe über die schlechte Behandlung durch Gleichaltrige gesprochen, aber von meiner Beobachtung her werden einige der verheerendsten Folgen des Andersseins von Eltern und anderen, die glauben, sie handelten aus Liebe, zugefügt.

Was für eine Botschaft vermitteln Eltern, die ständig Traurigkeit darüber ausdrücken, dass ihr Kind anders ist als andere Kinder? Was kommunizieren Eltern, die ihr Kind ständig dazu antreiben, sich normal zu verhalten und deren größtes Lob und Anerkennung man bekommt, indem man sich nicht autistisch verhält?

Die unmissverständliche Botschaft ist: Meine Eltern mögen mich nicht so, wie ich bin. Sie sind traurig, dass sie mich anstatt eines normalen Kindes haben. Der einzige Weg, dass sie mich mögen werden, ist, wenn ich mich wie jemand anderes benehme.

Einige autistische Kinder verinnerlichen diese Botschaft und akzeptieren Normalsein als ihr größtes Ziel im Leben. Und es ist meine Beobachtung, dass, umso mehr eine autistischer Person es darauf anlegt, normal zu sein, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie unter Ängsten, Depressionen und niedrigem Selbstbewusstsein leidet.

Es ist eine natürliche Folge davon, es zu seiner höchsten Priorität zu machen, jemand anderes zu werden als man selbst.

Was schlage ich also vor? Zuallererst denke ich, dass jeder erkennen muss, dass autistisch zu sein nichts ist, dessen man sich schämen oder genieren müsste. Hör auf, traurig darüber zu sein!

Zweitens denke ich, dass nicht-autistische Menschen aufhören sollten, sich den Kopf über Dinge wie Normalität und Unterschiedlichkeit zu zerbrechen, und autistische Menschen müssen damit aufhören, sich in den Denkblockaden nicht-autistischer Menschen bezüglich dieser Themen zu verfangen.

Hört auf zu versuchen, die Unterschiede zu bagatellisieren, und hört auf, so zu tun, als ob Autismus von der Person getrennt werden könnte.

Autistische Menschen sind sehr anders als nicht-autistische Menschen, und die Unterschiede reichen bis tief in den Kern unserer Persönlichkeit und unseres Bewusstseins.

Und daran ist nichts Falsches! Es liegt in unserer Natur als autistische Menschen, auf diese Art anders zu sein – es ist die Art, wie wir sein sollen.

Traurig zu sein über die bloße Tatsache, anders zu sein, ist ein Handicap, das nicht-autistische Menschen haben. Es ist nicht unser Problem, und wir müssen aufhören, zuzulassen, dass es unser Selbstkonzept schädigt.

Außerdem denke ich, obwohl nicht-autistische Menschen uns vielleicht dafür hassen oder fürchten oder bemitleiden, dass wir anders sind, brauchen sie uns wirklich und zwar genauso, wie wir sind.

Wir sind es, die feststellen, dass der Kaiser keine Kleider hat.

Heißt das, dass ich denke, autistische Menschen sollten keine Therapie oder Erziehung bekommen? Ganz und gar nicht. Jedes Kind muss gelehrt bekommen, wie es in der Welt funktionieren kann. Jeder Erwachsene stößt von Zeit zu Zeit auf Probleme und Herausforderungen, muss neue Fähigkeiten lernen oder Hilfe bei anderen suchen.

Mein Punkt ist, dass autistischen Menschen geholfen werden sollte, in der Welt als autistische Menschen zu funktionieren und nicht ihr Leben damit zu verbringen, nicht-autistisch zu werden.

Wenn eine autistische Person sich mit einem Verhalten beschäftigt, das gefährlich oder zerstörerisch ist, oder das die Rechte anderer beeinträchtigt, dann ist das sicher ein Problem, das gelöst werden muss. Wenn einer autistischen Person eine Fertigkeit fehlt, die die Fähigkeit dieser Person, ihre Ziele zu verfolgen, steigern würde, dann sollte jede Anstrengung unternommen werden, ihr die Fertigkeit beizubringen.

Das Problem, das ich sehe, liegt da, wo autistische Menschen intensiven, stressigen und oft sehr teuren Behandlungen unterworfen werden, mit dem einzigen Zweck, sie normaler erscheinen zu lassen: harmlose Verhaltensweisen zu unterdrücken, nur weil nicht-autistische Menschen sie merkwürdig finden, oder Fertigkeiten und Aktivitäten zu lehren, die für die autistische Person nicht von Interesse sind, nur weil die nicht-autistische Person sie mag.

Ein anderes wichtiges Thema dabei, autistischen Menschen zu helfen, als autistische Menschen zu funktionieren, ist, dass selbst wenn eine autistische Person das gleiche Ziel hat wie eine nicht-autistische Person, er oder sie vielleicht einem anderen Ablauf folgen muss, um dorthin zu gelangen.

Das ist es, was ich mit Autismus arbeiten nenne, anstatt dagegen.

Autistische Menschen haben Wege zu lernen, sich zu erinnern, sich zu orientieren und zu arbeiten, die anders sind als die von nicht-autistischen Menschen. Wir sollten nach Wegen suchen, wie wir unsere natürlichen Verfahren produktiv nutzen können, nicht versuchen, alles auf die selbe Art zu machen, wie nicht-autistische Menschen es machen.

Das bringt uns natürlich zurück auf die Sache des Andersseins, und sich deshalb nicht zu schämen.

Wenn ich in meine persönliche Erfahrungen zurückgehe, schaffte es natürlich Komplikationen, als ich meine eigenen autistischen Verfahren verwendete, um Interessen und Ziele zu verfolgen, die bedeutsam für mich waren, und keine Anstrengungen machte, die Dinge so zu tun, wie andere Menschen sie tun. Es verletzt die Erwartungen der Menschen.

Aber lebenslange Erfahrungen haben gezeigt, dass ich in dieser Sache keine Wahl habe – ich werde die Erwartungen der Menschen verletzen, egal, was ich tue, weil ich nicht weiß, wie ich mich normal verhalten sollte, selbst wenn ich es wollte.

Die Wahl, die ich habe, liegt darin, wie ich diese Erwartungen verletze.

Wenn ich die Normen anderer Menschen als meine Ziele akzeptiere, obwohl ich sie nicht verstehe, dann kann ich versichern, dass, wenn ich den Erwartungen anderer Menschen nicht entsprechen kann, ich auch nach meinen eigenen Maßstäbe versage.

Aber wenn ich mich nur in Begriffen definiere, die für mich bedeutsam sind und mich weigere, Maßstäbe und Rollen, die nicht Teil meiner Wirklichkeit sind, zu akzeptieren, dann kann ich ein starkes Gefühl der Identität und der Selbstsicherheit behalten.

Wenn ich den vorherrschenden Erwartungen an normales Verhalten nicht entsprechen kann, weiß ich und kann erklären, warum nicht: Diese Normen beziehen sich auf nicht-autistische Menschen. Da ich keine nicht-autistische Person bin, gibt es keinen Grund, warum ich versuchen sollte, mich wie eine zu benehmen, und es ist kein Gefühl des Versagens damit verbunden, mich nicht wie eine zu benehmen.

Das scheint vielleicht ein separatistischer Standpunkt zu sein scheinen. Ob es einer ist oder nicht, hängt davon ab, ob die nicht-autistischen Menschen, denen ich begegne, bereit sind, mich als autistische Person unter ihnen leben und funktionieren zu lassen.

Es läuft daraus hinaus: Es ist für mich auf viele Arten schwierig oder unmöglich, die üblichen Definitionen von Normalität zu erfüllen.

Einige davon beziehen sich auf Beeinträchtigungen oder Defizite in Tätigkeiten, die den meisten Menschen leicht fallen. Einige beziehen sich auf Fertigkeiten oder Stärken in Tätigkeiten, die für die meisten Leute schwierig sind. Einige beziehen sich auf Arten der Wahrnehmung oder der Reaktionen, die weder besser noch schlechter sind, aber qualitativ anders sind als die anderer Menschen.

Unter meinen größten Stärken sind meine innere Stabilität und mein starker Sinn dafür, wer ich bin und was mir wichtig ist. Einige meiner größten Defizite beinhalten meine Unfähigkeit, soziale Normen zu lernen und zu verinnerlichen, die mir sinnlos erscheinen.

Das Leben hat gezeigt, dass ich effektiver funktionieren kann, wenn ich aus einer Position der Stärke heraus starte als aus einer der Schwäche: Das heißt, indem ich mich selbst als mich selbst zeige anstatt zu versuchen, jemand anderes zu werden.

Ist es auf dieser Grundlage möglich für mich, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden – oder zu schaffen – der es mir erlaubt, ein Maximum meiner Stärken zu nutzen und die Begrenzungen durch das, was ich nicht kann zu minimieren?

Und die Antwort darauf wird ein lebenslanges Abenteuer sein, für alle von uns.

Dieser Artikel von Jim Sinclair wurde im Newsletter des Autism Network International »Our Voice« 1992, Nr. 1, veröffentlicht.

Zuletzt bearbeitet am 29.01.2022.

Jim Sinclair, B.A.

Jim Sinclair ist ein autistischer Aktivist, der zusammen mit Kathy Lissner Grant und Donna Williams 1992 das Autism Network International (ANI) gründete. Sinclair studierte Rehabilitationsberatung an der Universität von Syracuse.