Autismus-Ursachen: Was wir wissen, und was nicht
Eines der ungelösten Rätsel der Autismus-Forschung ist die Frage, was die Ursache dafür ist, dass sich das Gehirn anders entwickelt. Weil die Unterschiede im Verhalten manchmal offensichtlich sind, könnte man annehmen, dass die Ursache es ebenfalls wäre.
Aber die Forschung der letzten 70 Jahre hat gezeigt, dass dem nicht so ist. Diese Wissenslücke haben alle möglichen merkwürdigen und verrückten Theorien über die Ursache von Autismus zu füllen versucht: Fernsehen, Überlandleitungen, Impfungen und die Position beim Geschlechtsverkehr während der Empfängnis. Keine davon ist wissenschaftlich haltbar, aber sie haben dem Mysterium um die Frage nach der Ursache von Autismus immer wieder neue Nahrung gegeben.
Inhaltsverzeichnis
Der Mythos der Kühlschrank-Mütter
Während der 50er und 60er Jahre des war die Ansicht weit verbreitet, dass Autismus dadurch ausgelöst würde, dass Eltern ihrem Kind gegenüber emotional kalt wären. Die Mütter autistischer Kinder wurden oft als Kühlschrankmütter
bezeichnet.
Leo Kanner, der als einer der ersten autistische Verhaltensweisen beschrieb, sah ein Fehlen mütterlicher Wärme
als Ursache von Autismus. Diese falsche Vorstellung verursachte den Eltern autistischer Kinder mindestens zwei Jahrzehnte lang Scham und Schuldgefühle. Familien wurden auseinandergerissen, autistische Kinder in Psychiatrien weggesperrt.
Mehrere angesehene Wissenschaftler konnten schließlich diesen Mythos auslöschen. Einige von ihnen wiesen auf eine wesentliche Schwäche dieser Theorie hin: Eltern, die dem Kühlschrank
-Stereotyp entsprachen, hatten auch nicht-autistische Kinder.
Andere untersuchten Zwillinge, um abschätzen zu können, wie groß der Einfluss der Gene im Verhältnis zur Umwelt ist.
Auf der Suche nach den Autismus-Genen
Um diese Studien zu verstehen, muss man wissen, dass es zwei Arten von Zwillingen gibt. Eineiige Zwillinge haben ihre gesamte DNA gemeinsam und, wenn sie im selben Haushalt aufwachsen, auch ihre gesamte Umgebung. Zweieiige Zwillinge haben ebenfalls ihre gesamte Umgebung gemeinsam, aber nur die Hälfte ihrer DNA, genauso wie Geschwister, die keine Zwillinge sind.
Bei Zwillingsstudien wird anfangs festgelegt, welche Bevölkerung untersucht wird, zum Beispiel die Einwohner einer bestimmten Stadt. Dann suchen die Forscher in dieser Stadt nach möglichst vielen Zwillingen, die die jeweilige Eigenschaft aufweisen, in diesem Fall Autismus.
Die Forscher untersuchen dann die Konkordanzrate, das heißt die prozentuale Wahrscheinlichkeit, dass, wenn ein Zwilling autistisch ist, der andere es auch ist. Wenn die Konkordanzrate für eineiige Zwillinge höher ist als für zweieiige Zwillinge, deutet das auf genetische Ursachen hin.
Eine große Meta-Studie untersuchte die Erblichkeit von Autismus anhand von Zwillingsdaten. In diese Studie gingen die Daten von 14.921 Zwillingspaaren ein, von denen ein Zwilling oder beide autistisch waren (einschließlich Asperger-Syndrom) oder autistische Züge hatten. Das Ergebnis der Studie: Erblichkeit hat einen wesentlich größeren Einfluss als die Umwelt. Wenn ein eineiiger Zwilling autistisch ist, ist der andere es mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch. Für zweieiige Zwillinge ist diese Wahrscheinlichkeit viel geringer: In der Studie liegt sie bei 53-67%, je nachdem, wo man die Grenze zieht zwischen Autismus und Nicht-Autismus.
Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen.
Das heißt aber nicht, dass autistische Kinder nur in Familien geboren werden, in denen es weitere autistische Familienmitglieder gibt. Die Vererbung von Autismus ist komplexer.
Das Autismus-Gen gibt es nicht
Nachdem die Forscher festgestellt hatten, dass Gene eine Ursache von Autismus sind, versuchten sie als nächstes, die genauen Gene zu identifizieren, die dabei eine Rolle spielen könnten. Doch auch nach jahrzehntelanger intensiver Forschung konnten sie keine einzelne Genvariante finden, die alle Menschen im Autismus-Spektrum gemeinsam hatten, und nicht-autistische Menschen nicht.
Vielleicht könnten mehrere Gene zusammen Autismus verursachen? Doch die Forscher konnten auch keine Kombination von Gen-Varianten finden, die alle untersuchten autistischen Menschen aufwiesen.
Diese Erkenntnis (oder der Mangel an Erkenntnis) ließ die Wissenschaftler in eine andere Richtung denken: Sie hörten auf, Autismus als einen einzigen Befund mit einer einzigen Ursache zu betrachten, und begannen, ihn als viele verschiedene Befunde zu sehen, deren Symptome sich ähneln.
Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl genetischer Faktoren, die Autismus verursachen. Diese können für sich allein oder in Kombination mit Umweltfaktoren dazu führen, dass das Gehirn sich anders entwickelt und die Person sich in einer Weise verhält, die wir autistisch nennen.
Es gibt verschiedene Formen von Autismus, und es gibt nicht eine einzelne genetische Ursache.
Daniel Geschwind
2010 wurde eine große Studie zu den genetischen Ursachen von Autismus in Nature veröffentlicht. Die Autoren stellten fest, dass selbst die häufigsten genetischen Faktoren in ihrer Forschung in weniger als einem Prozent der untersuchten autistischen Kinder gefunden wurden.
Stanley Nelson, einer der Autoren der Studie, erklärt:
Wenn man hier 100 Kinder mit Autismus hätte, könnte ihr Autismus 100 unterschiedliche genetische Ursachen haben.
Stanley Nelson
Es gibt also nicht den Autismus, sondern viele verschiedene Autismen. Das könnte auch eine plausible Erklärung dafür sein, warum autistische Menschen so unterschiedlich sind.
Von wie vielen Genen reden wir hier?
Vor einigen Jahren war die Rede von 100 Genen, die mit Autismus in Verbindung gebracht wurden – nicht unbedingt als einzelnes Gen für sich allein, sondern in unterschiedlichen Kombinationen. Und es werden immer mehr gefunden. Der Neurogenetik-Forscher Daniel Geschwind sagte damals, es würde ihn nicht überraschen, wenn die Anzahl in absehbarer Zeit 500 erreicht. Inzwischen sprechen wir von bis zu 1000 Genen.
Um diese Zahlen in einen Kontext einordnen zu können: Das menschliche Genom hat ca. 25.000 Gene. Ein Gen besteht aus vielen sogenannten Basenpaaren, ähnlich wie ein Wort mit vielen Buchstaben. Und jedes 25. Gen hat eine Variante, die mit Autismus in Verbindung gebracht wird.
Das ist ein beträchtlicher Anteil des menschlichen Genoms.
Für mich sprechen diese Erkenntnisse dafür, dass Autismus seit sehr langer Zeit ein wesentlicher Aspekt der Neurodiversität der Menschheit ist.
Wäre Autismus durch irgendeine Zauberei auf der Erde ausgerottet worden, dann würden die Menschen immer noch vor einem Holzfeuer am Eingang einer Höhle miteinander plaudern.
Temple Grandin
Mögliche Umweltfaktoren
Es gibt viele krude Theorien über Umweltfaktoren, die durch nichts belegt sind.
Dennoch: Wenn wir uns die Zahlen aus der obigen Zwillingsstudie ansehen, gibt es Zwillinge, bei denen einer autistisch ist und der andere nicht.
- In 98% der Fälle waren beide eineiigen Zwillinge autistisch.
- In 2% der Fälle war ein eineiiger Zwilling autistisch, der andere nicht.
Ich habe oben gesagt, dass meine Darstellung der Zwillingsstudien vereinfacht war. Eine Komplikation ist diese: Es gibt genetische Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen.
- Es gibt Unterschiede in der Kopienzahlvariation (Copy number variation, CNV). CNV bezeichnet eine Form struktureller Variation des Erbguts, die Abweichungen der Anzahl der Kopien eines bestimmten DNA-Abschnittes innerhalb eines Genoms erzeugt. Eine Studie hat gezeigt, dass CNV als Autismus-Ursache bei 5-10% der autistischen Menschen eine Rolle spielen.
- Es gibt de-Novo-Mutationen. Das sind genetische Unterschiede, die nicht vererbt wurden, sondern neu entstanden sind.
- Bei Menschen mit zwei X-Chromosomen (im Allgemeinen: Frauen) wird eines inaktiv. Welches X-Chromosom inaktiv wird, ist zufällig, und kann bei eineiigen Zwillingen unterschiedlich sein.
- Epigenetische Veränderungen können durch Umwelteinflüsse entstehen, sie können aber auch zufällig entstehen. Sie können bei eineiigen Zwillingen unterschiedlich sein.
Das heißt: Es gibt genetische Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen. Wenn man annimmt, dass eineiige Zwillinge zu 100% genetisch identisch sind, unterschätzt man bei der Analyse die genetischen Faktoren.
Ob solche genetischen Unterschiede die 2% der Fälle erklären können, in denen ein eineiiger Zwilling autistisch ist und der andere nicht, können nur genetische Analysen klären.
Es ist durchaus möglich, dass auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Ich will hier nur deutlich machen, dass sie bei weitem nicht so wichtig sind, wie manche Lobbygruppen es behaupten.
Außerdem: Mit dem Wort Umweltfaktoren
sind nicht nur Chemikalien wie Luftverschmutzung oder Medikamente gemeint. Als Umweltfaktoren bezeichnet man in der Autismus-Forschung alles, was keine Gene sind ‐ einschließlich Messfehler.
Als mögliche Faktoren werden zum Beispiel Infektionen während der Schwangerschaft (besonders Röteln) diskutiert, Komplikationen während der Geburt, Hormone und andere Stoffe in der Gebärmutter. Handfeste Beweise gibt es allerdings für keinen davon.
Autismus ist nicht wie Tuberkulose. Autismus ist keine Krankheit, er ist ein Syndrom. So wie es keine Krankheit ist, Fieber zu haben ‐ es gibt viele verschiedene Ursachen für Fieber.
Daniel Geschwind
Natürlich gibt es viele nicht-autistische Kinder, deren Mütter sich während der Schwangerschaft mit Röteln angesteckt haben. Die Forscher gehen davon aus, dass davon nur Kinder autistisch werden, die eine genetische Veranlagung dazu haben.
Und andererseits hatten die meisten Mütter autistischer Kinder während der Schwangerschaft nachweislich keine Röteln. Die Forscher gehen nicht davon aus, dass alle autistischen Menschen den gleichen Umweltfaktor erlebt haben, sondern eher davon, dass es mehrere Umweltfaktoren gibt.
Und letztlich erklären die Theorien über Umwelteinflüsse in der Gebärmutter nicht die eineiigen Zwillinge, bei denen einer autistisch ist und der andere nicht ‐ denn die waren ja zusammen in der Gebärmutter.
Es gibt keinen Umweltfaktor, von dem tatsächlich bewiesen ist, dass er eine (Mit-)Ursache von Autismus ist. Andererseits gibt es Umweltfaktoren, die gründlich untersucht wurden und die nachgewiesenermaßen keine (Mit-)Ursache von Autismus sind ‐ zum Beispiel Impfungen.
Die Ursache von Linkshändigkeit (oder Rechtshändigkeit) ist ebenso ungeklärt: Man vermutet eine genetische Ursache, aber die eineiigen Zwillinge spielen da nicht so mit, die die Theorie es vorgibt. Dennoch äußert bisher niemand die Theorie, dass Luftverschmutzung linkshändig (geschweige denn rechtshändig) macht.
Warum kommen solche Theorien bei Autismus auf? Wissenschaftliche Theorien sind immer durch gesellschaftliche Vorstellungen geprägt. Autismus gilt als Krankheit
der modernen Zeit, als Störung
des Technologie-Zeitalters. Diese Vorstellung wurde befördert durch den Mythos. dass es immer mehr autistische Kinder gäbe (dem ist nicht so).
Kann Luftverschmutzung neurotypisch machen? Man weiß es nicht.
Neurologische Unterschiede
Erst wenn ein Kind zwei Jahre alt ist, ist es möglich, anhand der Verhaltensweisen festzustellen, ob es autistisch ist. Eltern haben deshalb oft den Eindruck, dass ihr vorher so normales
Kind plötzlich autistisch geworden
sei. Tatsächlich ist das aber nicht so.
Eine neue Studie untersuchte, wie sich die Gehirne von autistischen und nicht-autistischen Kindern im Alter von 6-24 Monaten entwickeln. Dazu machte ein Forschungsteam mittels MRT-Scans mehrmals Bilder der Gehirne von 148 jüngeren Geschwistern von autistischen Kindern ‐ diese sind mit größerer Wahrscheinlichkeit ebenfalls autistisch. Tatsächlich wurden später 15 der Kinder mit Autismus diagnostiziert.
Das Forschungsteam stellte fest, dass sich die Gehirne der autistischen Kinder schon im Alter von 6-12 Monaten von denen der nicht-autistischen Kinder unterschieden: In diesem Alter wuchs die Oberfläche ihrer Großhirnrinde schneller als die der nicht-autistischen Kinder. Und im Alter von 24 Monaten hatten die autistischen Kinder dann (im Durchschnitt) größere Gehirne als die nicht-autistischen.
MRT-Scan (Symbolbild)
Die Ergebnisse anderer Studien weisen darauf hin, dass die Gehirne autistischer Menschen sich bereits vor der Geburt, im Uterus, von denen nicht-autistischer Menschen unterscheiden.
Diese sehr frühen Unterschiede im Gehirn sind ebenfalls ein starkes Indiz für einen wesentlichen Einfluss der Gene.
Wozu die Suche nach Autismus-Genen?
Mehrere Unternehmen in der Genforschung suchen nach den Ursachen von Autismus ‐ und das nicht aus akademischem Interesse. In ihren Präsentationsvideos diskutieren sie offen selektive Abtreibung. Denn das ist ihr Ziel: Mit einem pränatalen Test auf Autismus viel Geld zu verdienen.
Wenn wir versuchen, Autismus auszulöschen, könnten wir die Zukunft der Menschheit wirklich verpfuschen.
Steve Silberman
Ich bin vor langer Zeit einmal auf eine Website gestoßen, die eine autism genocide clock enthielt. Die Uhr zählte die geschätzte Zeit bis zu einem pränatalen Autismus-Test, einen Countdown zum Autismus-Genozid. Die Website gibt es nicht mehr, aber die Uhr tickt immer noch.
Sind wir die Letzten unserer Art?
Noch ist die Forschung nicht soweit, einen solchen Test zu entwickeln. Und wer weiß, ob es ihnen jemals gelingen wird? Bis dahin aber fließen Millionen Euro in die Suche nach Autismus-Ursachen ‐ Geld, das fehlt, um Barrierefreiheit und Unterstützung für autistische Menschen zu schaffen.
So lange wir uns selbst belügen und denken, dass Autismus ein toxisches Erzeugnis unserer modernen Welt ist, kümmern wir uns nicht um die älteren autistischen Erwachsenen, die schon unter uns leben, ohne Unterstützung zu bekommen. Wir müssen unseren Fokus abwenden von
Lass uns noch mal 10 Millionen Dollar ausgeben, um weitere mögliche Autismus-Gene zu finden, oder diesen oder jenen möglichen Umweltfaktor zu untersuchen.Wir sollten dieses Geld ausgeben, um Familien zu helfen, ein glücklicheres und gesünderes Leben zu führen.
Steve Silberman
Quellen und Literatur
Zuletzt bearbeitet am 29.04.2023.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus