Wir sind autistisch und das ist gut so.

Alle Menschen können schwierige Lebenslagen und Krisen durchleben. Um Menschen in solchen Situationen zu helfen, gibt es verschiedene Angebote, zum Beispiel Kriseneinrichtungen. Was ist aber mit Autist*innen in einer Krisensituation – welche Bedürfnisse haben sie? Sind bestehende Kriseneinrichtungen für Autist*innen geeignet? Was muss anders werden?

Diesen Text habe ich anlässlich des sogenannten Fachkräftetreffen am 19.04.2007 verfasst, er wurde dort mit meiner Erlaubnis vorgetragen und war Grundlage der Diskussion mit Vertreter*innen verschiedener Einrichtungen.

Was ist eine Krise?

Der Begriff Krise bezeichnet die aktuelle Zuspitzung der sozialen und existentiellen Situation mit den Folgen, daß dem Betreffenden die notwendigen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, die zur Bewältigung des eigenen Alltags notwendig sind, fehlen. Die Anlässe für eine Krise können innerer oder äußerer Natur sein.

In einer solchen akut bedrohlichen Lebenssituation sind die Betroffenen häufig nicht mehr in der Lage, selbständig Hilfesysteme in Anspruch zu nehmen. Nahe Bezugspersonen oder andere soziale Kontakte sind entweder überfordert oder fehlen ganz.

Derartige Krisen sind durch eine hohe Dynamik gekennzeichnet, können lebensgefährliche Folgen haben und zu völliger Isolation führen.

Krisen gehören zum Leben und können einen neuen Zugang zu eigenen Ressourcen eröffnen. Sie können aber auch in einen psychischen und sozialen Ausnahmezustand münden, der eine unmittelbare und niedrigschwellige Unterstützung rund um die Uhr notwendig macht.

Autistische Menschen haben in Krisensituationen mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen, da sich vorhandene Formen der Unterstützung als schwer zugänglich oder ungeeignet erweisen.
Zum Beispiel der Berliner Krisendienst: Unter „Leistungsspektrum“ ist auf der Homepage des Krisendienstes folgendes zu lesen:

Zu diesen Zeiten können Hilfesuchende mit den Beratern telefonisch Kontakt aufnehmen oder den nächstgelegenen Standort aufsuchen, um vor Ort ein Gespräch zu führen – ohne Voranmeldung, kostenlos und auf Wunsch anonym.

Diese Form der Kontaktaufnahme ist für viele autistische Menschen ein Hindernis, selbst für die, die in krisenfreien Zeiten telefonieren und Gespräche führen.

Neben Adresse und Telefonnummer ist keine Email-Adresse angegeben, Beratung per Mail oder Chat wird offenbar (auf den ersten Blick) nicht angeboten. Dass man den Krisendienst aufsuchen kann, um ein Gespräch zu führen, scheint zu implizieren, dass man ihn nicht aufsuchen kann, um kein Gespräch zu führen.

Menschen, die in Krisen nur schriftlich kommunizieren können oder einen Ort suchen, wo sie nicht allein sind und nicht sprechen müssen, finden in diesem Angebot keine Berücksichtigung.

Ferner teilt der Berliner Krisendienst mit:

Ärzte stehen – ebenfalls rund um die Uhr – in Rufbereitschaft und werden gegebenenfalls hinzugezogen.

Wenn ein Krisendienst mitteilt, dass Ärzte gegebenenfalls hinzugezogen werden – dass Hilfesuchende darüber entscheiden, geht aus diesem Satz nicht hervor –, kann ein solches Angebot auf die Menschen, die keine psychiatrische Behandlung wünschen, abschreckend wirken. Gerade weil man in der Krise möglicherweise nicht so wehrhaft und überzeugend auftreten kann, ist es nicht unwahrscheinlich, dass hier ungewollte Psychiatrisierung droht.

Ärzt*innen schlagen ihren Patient*innen in der Krise üblicherweise stationäre Behandlung vor. Der Vorschlag kann so nachdrücklich kommuniziert werden, dass er mehr wie eine Aufforderung oder Androhung einer Zwangsbehandlung klingt.

Stationärer Aufenthalt kann jedoch für autistische Menschen weitere Probleme mit sich bringen.

Die übliche Klinik-Situation ist nicht auf Bedürfnisse autistischer Menschen ausgerichtet. Zimmernachbarn können eine unerträgliche Belastung darstellen, unabhängig davon, wie rücksichts- und verständnisvoll sie auch sein mögen. Die sind einfach da, man hat als Patient*in keine verlässlichen Rückzugsmöglichkeiten.

Gruppentherapien – wie jede unfreiwillige Gruppensituation – können kontraproduktiv wirken und eine bestehende Krise verschärfen. Ein Badezimmer oder eine Toilette gemeinsam zu nutzen bzw. zu teilen, der Speiseplan, grelle Beleuchtung, Fernseher im Zimmer etc. können weitere Unannehmlichkeiten bedeuten.

Unabhängig davon, was man von der Psychiatrie im Allgemeinen hält, kann die Aussicht auf eine Krankenhaussituation so beängstigend sein, dass man auf die Hilfe des Krisendienstes von vornherein verzichtet.

Damit der Krisendienst für möglichst viele autistische Menschen geeignet erscheint, sollte Folgendes berücksichtigt werden:

  1. Schriftliche Kommunikation sollte angeboten werden, ohne dass Hilfesuchende*r darum bitten, sich erklären und rechtfertigen muss.
  2. Der Krisendienst sollte rund um die Uhr per Mail oder Chat erreichbar sein.
  3. Der Krisendienst sollte neben Gespräch auch die Möglichkeit anbieten, nicht sprechen zu müssen. Egal, ob Hilfesuchende*r sich schriftlich mitteilen mag oder nicht.
  4. Es sollte wählbar sein, ob Hilfesuchende*r Kontakt zu Ärzt*innen, insbesondere Psychiater*innen, in welcher Form auch immer möchte oder nicht möchte. Es sollte eine Garantie geben, dass keine ungewollte Heranziehung von Psychiater*innen erfolgt.
  5. Es kann für autistische Menschen schwierig sein, sich anhand des Webauftritts vorzustellen, wie es beim Krisendienst abläuft: wie es dort aussieht und was dort passiert. Von daher wäre es sinnvoll, das Webangebot um solche Informationen (Räume, Mitarbeiter*innen und ihre Schwerpunkte, wie lange man dort bleiben und was man dort machen kann usw.) zu ergänzen.
  6. Ein Problem ist, dass es in Berlin keine zuverlässigen Rückzugsmöglichkeiten gibt, wo man garantiert nicht gestört wird. Hat man keine eigene bzw. keine ruhige Wohnung – findet man keine Ruhe. In Parks sind Menschen, auf Friedhöfen sind Menschen, überall besteht die Gefahr, kontaktiert zu werden. Das kann einen geschwächten Menschen sehr belasten. Und je auffälliger man sich verhält, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, von Außenstehenden behelligt zu werden. Es sollte Ruhe-Orte geben, wo man garantiert nicht gestört wird.

Wie sieht eine Krisenintervention aus?

Das Krisenhaus des Caritas-Verbandes teilt dazu Folgendes mit:

Krisenintervention: Hierbei geht es um emotionale Entlastung, Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen den Bewohner/innen und Sozialarbeiter/in, Fokussierung und Bearbeitung des aktuellen Krisengeschehens, Einschätzung und Bearbeitung aggressiver und autoaggressiver Gefährdungen, Abklärung der sozialen Rahmenbedingungen und Aufzeigen möglicher Ressourcen und Motivation, diese zu nutzen.

Emotionale Entlastung funktioniert bei autistischen Menschen anders und es kann passieren, dass die Krisenintervention sie nicht erreicht, weil sie nicht richtig angesprochen werden.

Ähnlich kann die Einschätzung aggressiver und autoaggressiver Gefährdungen unzutreffend sein, weil Signale autistischer Menschen von nicht-autistischen Menschen regelmäßig falsch gedeutet werden. Es ist also notwendig, dass Fachkräfte in Kriseneinrichtungen ausgebildet werden, mit autistischen Menschen richtig zu kommunizieren.

Am besten sollte es eine Kriseneinrichtung geben, die auf Unterstützung autistischer Menschen spezialisiert ist und in der autistische Fachkräfte arbeiten. Das würde nebenbei zur Enthierarchisierung beitragen und autistischen Hilfesuchenden die Kontaktaufnahme erleichtern.

Neben der Einzelarbeit kommt der Arbeit in der Gruppe im Krisenhaus eine besondere Bedeutung zu. – Das ist für autistische Menschen in einer Krise ungeeignet.

Abgesehen von den inhaltlichen Anmerkungen fällt mir auf, dass verfügbare Informationen zu kurz und zu ungenau sind. Für autistische Menschen ist es wichtig, konkrete und verlässliche Vorstellungen zu haben, was sie erwartet, worauf sie sich einlassen.

Detaillierte Beschreibungen der Umgebung, der (räumlichen und personellen) Ausstattung der Kriseneinrichtung wären dabei hilfreich. Die müssen auch stimmen! Gerade in der Krise kann die Empfindlichkeit gegenüber Unstimmigkeiten und Widersprüchen sehr hoch sein. Plötzliche Veränderungen sind zu vermeiden. Dazu gehören auch minimale Veränderungen der Umgebung – verstellte Möbel oder neue Gardinen, veränderte Sitzsituation und natürlich neue Mitarbeiter*innen.

Man kann sich das so vorstellen: jemand mobilisiert seine gesamten Energie-Ressourcen, um in einer Kriseneinrichtung Hilfe zu suchen, und diese werden restlos verbraucht, wird man mit einer – für nicht autistische Menschen banalen – Situation konfrontiert wie zum Beispiel: wir haben hier eine neue Praktikantin, es macht Ihnen nichts aus, dass sie beim Gespräch dabei ist? Das allein kann bei manchen Menschen eine Krise auslösen.

Autistische Menschen sind sehr verschieden, auch in Krisen verhalten sie sich natürlich unterschiedlich. Das Einordnen und Deuten des Verhaltens ist daher nicht so einfach.

Was als Zustände der Reglosigkeit gilt:

Sichtbar sind besonders die auffällige Bewegungsstarre (eingeschränkte Psychomotorik), die sehr spärliche oder fehlende Mimik (evtl. wirkt ein Gesichtsausdruck wie eingefroren) und die ausgeprägte Teilnahmslosigkeit des Betroffenen, dessen Möglichkeit zur Kontaktaufnahme spärlich ist oder ganz fehlt.

oder als Verwirrtheitszustände bei Wikipedia beschrieben wird:

Der Betroffene hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren und ist unfähig, sich geordnet zu unterhalten (Gedankenflucht) oder sich zu konzentrieren. Evtl. ist die Sprache schlecht verständlich oder zusammenhanglos. Störungen von Gedächtnis und Merkfähigkeit, Unruhe und Umtriebigkeit kommen dazu.

müssen nicht zwangsläufig Krisensymptome sein – sie können zum üblichen Verhaltensrepertoire einer autistischen Person gehören.

Manche Empfehlungen der Krisenkommunikation wie zum Beispiel Gesprächskontakt aufbauen, körperlichen Kontakt herstellen, beispielsweise über Berührungen, die Hand reichen etc. hätten bei vielen autistischen Menschen einen gegenteiligen als erwünschten Effekt.

Wenn jemand schweigt, sollte er*sie nicht zum reden gedrängt werden, unfreiwilliges Reden und unfreiwilliges sich öffnen ist das Gegenteil von hilfreich.

Menschen, die stundenlange Monologe über ihre Probleme oder andere Themen halten, neigt man als nervig und anstrengend zu bezeichnen, weil nicht-autistische Menschen offenbar davon ausgehen, dass ihre Beteiligung bzw. Anteilnahme gefordert ist. Sich in den Monolog einzuklinken oder gar eine Diskussion anzufangen, um ihr eigenes Weltbild als richtigeres hinzustellen, wäre dabei keine Hilfe. Monologe sind nicht immer kommunikativ, oft haben sie eher die Funktion, das Erlebte, die Situation und das Problem zu gliedern, zu strukturieren und zu definieren – und das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Lösung.

Still zuhören, eventuell strukturierende Fragen stellen oder einfach weg gehen, falls man überfordert ist, wäre wesentlich hilfreicher als ominöse Versuche, den Hilfesuchenden in die Realität, also in die soziale Realität der Mehrheit, zurückzuholen.

Man sollte auch bedenken:

  • Stereotypien sind nicht zwangsläufig ein Stress-Symptom
  • Spezialinteressen können ein Weg aus der Krise sein
  • Entwicklung individueller Kommunikationsmittel zum Schutz vor unerwünschtem Kontakt ist eine hilfreiche Strategie auch für schwierige Lebenslagen.

Autismus: Barrierefreier Krisendienst?

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.