Wir sind autistisch und das ist gut so.

Ich habe in der Siegessäule, dem Berliner Queer-Magazin, von Daniel Tammet erfahren. Zwar hatte ich zuvor schon in einigen Autismus-Foren über den Savant Daniel Tammet gelesen, es hatte mich aber wenig interessiert – bis ich in der Siegessäule über den Menschen Daniel Tammet las. Dort beschränkte sich die Berichterstattung nicht darauf, aufzuzählen, wieviele Sprachen Tammet spricht oder wieviele Stellen der Zahl Pi er aufzählen konnte; ich las jetzt zum ersten Mal, dass er schwul war, einen Freund hatte und eine Website mit Online-Sprachkursen betrieb. Das war spannend und sympathisch und jetzt wollte ich auch das Buch Elf ist freundlich und Fünf ist laut von Daniel Tammet lesen.

Als ich das Buch aufschlug, sah ich als erstes zwei Vorworte von einem Psychiater und einem Psychologen, völlig fehl am Platz – ich versuchte, sie zu ignorieren. Ich wollte Tammet hören. Als dieser gleich im zweiten Absatz erzählte, „Ich habe eine seltene Krankheit, das sogenannte Savant-Syndrom“, dachte ich, das Buch würde eine Enttäuschung werden. Seit wann beschreibt man besondere Fähigkeiten als Krankheit?
Aber ich habe weitergelesen und das Buch wurde aber keine Enttäuschung, es ist durchaus lesenswert. In seiner Autobiografie schildert Daniel Tammet viele Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend, in denen vermutlich viele Autist_innen eigene Erlebnisse in ähnlicher Form wiedererkennen werden. Richtig spannend wird das Buch aber, nachdem Daniel Tammet die Schule abgeschlossen hat und erst einmal ein Jahr einen Freiwilligendienst in Kaunas in Litauen macht; später seinen Freund Neil übers Internet kennenlernt, sich verliebt und weitere Abenteuer folgen.
Daniel Tammet schreibt über sein Coming-Out, misslungene Vorstellungsgespräche, über Synästhesie und Metaphern mit kurzen Exkursen zu Shakespeare und Lakoff sowie über seine Sprache „Mänti“, die er selbst erfunden hat. Im Zuge eines Dokumentarfilms, dessen Protagonist er ist, begegnet Daniel Tammet auch Kim Peek, dem Vorbild für die Figur des Raymond Babbitt in „Rain Man“. Und er begegnet einem Menschen, nicht einer Karikatur oder einem Daten-Freak, als welcher Kim Peek viel zu oft portraitiert wurde.
Gefreut hat es mich ja auch, dass es ein ganzes Kapitel über meine Lieblingszahl gibt, über Pi. Ich will nicht verraten, worum es dabei geht, sondern nur einen der Sätze zitieren, in dem Daniel Tammet schildert, wie er Zahlen wahrnimmt und wie er Sprachen lernt:

Die berühmteste Zahlenfolge in Pi ist der „Feynman-Punkt“, der die 762ste bis 767ste Dezimalstelle von Pi umfasst und folgendermaßen aussieht; „…999999…“ […] Der Feynman-Punkt ist ein wunderschöner Anblick für mich. Ich sehe ihn als tiefen, dicken Saum von dunkelblauem Licht.

(Daniel Tammet, S.197)
Irritierend und unangenehm wirken dagegen die hin und wieder eingestreuten pathologisierenden Aussagen über Autismus, die nicht zur weitgehend positiven Haltung des Buches passen. Denn eines wird in dem Buch besonders deutlich: Daniel Tammet schließt ehrliche und sehr gute Freundschaften, ohne sich dafür zu verbiegen. Er schreibt:

Noch vor ein paar Jahren wäre es unmöglich erschienen, dass ich in der Lage sein würde, ein so eigenständiges Leben zu führen: Ich war mit dem Flugzeug zu einem anderen Kontinent aufgebrochen, hatte ihn bereist, die unterschiedlichsten Menschen kennengelernt, alle möglichen Orte besucht und genügend Selbstvertrauen besessen, um meine geheimsten Gedanken und Erlebnisse mit anderen zu teilen. Auch der Besuch in Island war eine erstaunliche und bewegende Erfahrung gewesen, und ich hatte es als Ehre empfunden, dass die Menschen in Island mich so warmherzig und begeistert empfangen hatten. Es war äußerst seltsam: Genau dieselben Eigenschaften, die mich in meiner Kindheit und Jugend von den anderen unterschieden und mich isoliert hatten, hatten mir jetzt als Erwachsenem geholfen, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten und neue Freunde zu gewinnen.

(Daniel Tammet, S.230f)

Bild oben: Jérôme Tabet, CC-by-sa

Zuletzt bearbeitet am 29.01.2022.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus