Wir sind autistisch und das ist gut so.

Autistische Menschen verwenden Fidget Spinner schon seit einiger Zeit – und jetzt sind auch neurotypische Menschen darauf gekommen: In den USA sind Fidget Spinner seit kurzem ein großer Hype bei Schülerinnen und Schülern. Jetzt ist der Trend auch in Deutschland angekommen.

Ein Fidget Spinner dreht sich

Was sind eigentlich Fidget Spinner?

Ein Fidget Spinner ist ein Mittel zum Stressabbau. Er kann aus unterschiedlichen Materialien bestehen – zum Beispiel Messing, Edelstahl, Titan, Kupfer und Plastik. In der Mitte ist ein Kugellager. Die Spinner wurden entwickelt für Menschen, die (in einer bestimmten Umgebung oder Situation) Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren oder gestresst und angespannt sind – zum Beispiel Menschen im Autismus-Spektrum, mit ADHS oder Angststörungen). Nervöse Energie oder Stress kann durch die Nutzung eines Fidget Spinners gelöst werden.

Die Anwendung: Wie geht das?

Die einfachste Verwendung eines Fidget Spinners besteht darin, ihn mit Daumen und Zeigefinger (oder Mittelfinger) zu halten und mit den Fingern der gleichen oder der anderen Hand in Rotation zu versetzen. Ähnlich wie mit einem Jo-Jo kann man auch mit einem Fidget Spinner verschiedene Bewegungen und Tricks machen, zum Beispiel lange Drehzeiten oder ein Wechsel der haltenden Finger, ohne dass die Rotation aufhört.

Was bedeutet der Fidget Spinner Hype für autistische Kinder?

Bisher haben nur autistische und andere neurodivergente Menschen Fidget Spinner verwendet, und jetzt ist es plötzlich cool, ein Fidget Toy zu wollen, und wenn man das Must-Have-Fidget nicht hat, ist man ein Außenseiter. Nutzt diese Wandlung autistischen Kindern?

Wenn ein autistisches Kind in der Schule einen Fidget Spinner verwendet, um sich zu beruhigen oder zu konzentrieren, war das mit sozialem Stigma verbunden. Zumindest in den USA (in Deutschland sind wir noch nicht mal so weit) anhand von Fidget Spinnern, Anti-Stress-Bällen, speziellen Kissen und ähnlichem erkennbar, welche Kinder eine Autismus- oder ADHS-Diagnose hatten: Sie durften diese Gegenstände verwenden, andere Kinder nicht (zumindest in US-amerikanischen Schulen war das so, in Deutschland sind wir in der Inklusion sowieso weit hinterher). Man nahm auch nicht an, dass neurotypische Kinder ein Bedürfnis oder Interesse an ihnen haben könnten.

Plötzlich hat sich das alles verändert.

Das hat zwar den Vorteil, dass autistische Kinder vielleicht mehr mit einbezogen sind und sich weniger isoliert fühlen. Vielleicht sind sie sogar cool. Aber es hat auch Nachteile.

Fidget SpinnerLehrkräfte beklagen, dass sie keinen Unterricht mehr machen können, wenn die halbe Klasse an ihren Fidget Spinnern herumspielt. Und das ist verständlich. Viele Kinder nutzen die Fidget Spinner nur zum Spielen. Und während ein Spinner hilfreich sein kann, um sich zu konzentrieren, sieht es schon ganz anders aus, wenn sich zehn Spinner im Klassenzimmer drehen.

Wie soll man entscheiden, wer den Fidget Spinner nur als Spielzeug will und wer ihn wirklich braucht? Sollten die Schulen ihn erlauben, um den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre Konzentration und Produktivität zu verbessern oder sind die Dinger eigentlich eine riesige Ablenkung?

In den USA haben viele Schulen Fidget Spinner bereits verboten. Es ist nicht der erste Hype, der verboten wurde – aber es ist der erste, der negative Auswirkungen auf autistische Schülerinnen und Schüler hat. Denn die Fidget Spinner sind eigentlich zum Stressabbau für autistische Menschen, ADHSler und andere neurodivergente Menschen konzipiert worden – nicht als Spielzeug für gelangweilte neurotypische Schulkinder.

Für manche autistischen Schülerinnen und Schüler ist der Fidget Spinner eben kein Hype, den man mitmachen muss, um cool zu sein. Er ist ein notwendiges Mittel, um den Stress abzubauen, der durch die Anforderungen des Schultags entsteht. Wenn Schulen Fidget Spinner verbieten, schaden sie diesen Kindern.

Autistische Kinder, die den Fidget Spinner als Stressabbau nutzen, haben im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden gelernt, ihn zu verwenden. Denn die neurotypischen Kinder wissen meist nicht, wie sie Fidget Spinner nutzen können, um sich besser zu konzentrieren. Für sie wird er oft zum primären Objekt ihrer Aufmerksamkeit statt ein Fokuspunkt im Hintergrund.

Zum Glück finden einige Schulen einen differenzierteren Umgang mit den Fidget Spinnern, der es autistischen und ADHS-Kindern weiterhin ermöglicht, die Spinner zu nutzen. Zum Beispiel dürfen Kinder mit einer Diagnose die Spinner weiterhin verwenden, oder Kinder, deren Eltern einer Verwendung im Unterricht zugestimmt haben, weil ihre Kinder sich dann besser konzentrieren können. Optimal ist das nicht, aber sicherlich besser als ein generelles Verbot.

Was mich so an dem Fidget Spinner Hype ärgert

Es ist etwas anderes, das mich an dem Fidget Spinner Hype ärgert.
Autistische Menschen wurden und werden mit ethisch zweifelhaften Methoden dazu gebracht, sich, soweit irgendwie möglich, so zu verhalten wie neurotypischen Menschen. Ihr Wohlbefinden ist dabei oft zweitrangig. Viele autistische Menschen verwenden Stimming, um sich konzentrieren zu können, störende Reize auszublenden oder sich in einer stressigen Situation zu beruhigen. Stimming besteht oft (nicht immer) aus kleinen, sich wiederholenden Bewegungen – wie zum Beispiel etwas zu drehen.

Die Anstrengungen, autistischen Menschen das Stimming abzugewöhnen, waren und sind immens. Wenn eine autistische Person zu erklären versucht, warum sie das Stimming braucht und was es ihr nutzt, ist das fast immer vergeblich. Die Stimming-Objekte autistischer Schülerinnen und Schülern wurden konfisziert, sie bekamen einen Klaps auf die Hände, wenn sie diese zum Stimming verwandten, oder sie wurden gezwungen, auf ihren Händen zu sitzen, damit sie ruhig waren. Früher (und manchmal auch heute noch) wurden autistische Kinder in Schulen, Therapiestunden oder anderen Situationen festgebunden – ja, richtiggehend gefesselt, damit sie mit dem Stimming aufhörten.

Und jetzt ist es der große Hype.

Und warum? Weil neurotypische Menschen autistischen Menschen zugehört haben und verstanden haben, dass Stimming sinnvoll ist? Dass jeder Möglichkeiten zur Reizregulierung braucht?

Nein.

Ein nicht-autistischer Mensch schrieb einen Artikel darüber, wie der Fidget Spinner ihm hilft, sich bei Meetings zu konzentrieren. Und plötzlich wollen alle einen Fidget Spinner.

Das gleiche Verhalten, das pathologisiert und zu korrigieren versucht wurde, als autistische Menschen es taten, ist jetzt völlig akzeptabel, weil neurotypische Menschen es tun.

Wie kann das sein?

Normalität ist flexibel. Was normal und was gestört ist, steht nicht von vornherein fest. Es wird durch Machtstrukturen festgelegt.

Vielleicht sagen jetzt manche: Hauptsache, das Verhalten ist jetzt akzeptierter als bisher. Und ja, das ist eine gute Sache.

Viele Entwicklungen der letzten Zeit lassen einen optimistisch werden: Schon vor dem Fidget Spinner Hype erkannten viele Fachleute an, dass sensorische Bedürfnisse real sind, dass man sie anerkennen und stillen sollte. Auch andere Produkte zur Reizregulierung werden an ein allgemeines Publikum vermarktet, zum Beispiel Apps zur sensorischen Entspannung. Viele Eltern und Fachkräfte erkennen inzwischen an, dass Stimming für autistische Menschen wichtige Funktionen erfüllt und nicht unterbunden werden sollte.

Nur: Das ein autistisches Verhalten, das bisher pathologisiert wurde, jetzt akzeptierter ist, heißt nicht, dass Autismus akzeptierter ist.

Autistische Menschen werden immer noch pathologisiert, auch wenn die Begründungen dafür sich im Laufe der Zeit ändern.

Die Machtstrukturen sind immer noch da. Es gibt immer noch eine Hierarchie, wer festlegen darf, welche Verhaltensweisen normal sind und welche behandlungsbedürftig. Es gilt immer noch als Ziel, dass autistische Menschen möglichst so sein sollte wie neurotypische Menschen.

Wenn wir Autismus als Teil der natürlichen neurologischen Vielfalt der Menschheit sehen, sind es diese Machtstrukturen, an denen wir arbeiten sollten.

Stimming mit einem Fidget Spinner

Im Überblick: Was ist Stimming?
Repetitive Bewegungen, Stereotypien, sagen medizynische Fachkräfte.
Stimming, sagen wir.

Stimming ist wichtig für Menschen im Autismus-Spektrum. Es dient der Regulierung von Reizen, Gefühlen, Stress und um sich besser konzentrieren zu können. Stimming kann zum Beispiel helfen, sich von zu vielen Reizen abzuschirmen, oder sich von negativen Gedanken zu lösen. Es kann helfen, stressige oder beängstigende Situationen zu meistern. Es kann helfen, Ablenkungen auszublenden.

Es gibt sehr viele verschiedene Arten des Stimmings, zum Beispiel:

  • mit dem Oberkörper schaukeln
  • Fingernägel kauen
  • mir dem Fuß wippen
  • auf einem Kugelschreiber herumklickern
  • auf etwas herumkauen
  • mit der Zunge schnalzen
  • mit Gelenken knacken
  • kritzeln
  • mit den Händen wedeln

Stimming ist nichts Schlechtes. Leider sind viele Arten des Stimmings gesellschaftlich nicht akzeptiert. Wer zum Beispiel mit dem Oberkörper schaukelt (das ist eine sehr schöne und beliebte Art des Stimming) oder lautiert, wird oft stigmatisiert, abgewertet und ausgegrenzt.

Andererseits ’stimmen‹ viele (auch neurotypische) Menschen. Manche Menschen klickern auf einem Kugelschreiber herum oder wippen mit dem Fuß, wenn sie sich konzentrieren müssen, andere streichen sich ständig die Haare zurück, wenn sie nervös sind. Auch das ist Stimming.

Manche Formen des Stimmings führen zu Problemen, wie zum Beispiel absichtliche oder versehentliche Selbstverletzungen. Die Sicherheit der stimmenden Person hat natürlich Priorität, aber es ist wichtig zu bedenken, dass auch selbstverletzendes Stimming eine Funktion hat. Das Stimming einfach zu unterbinden wird das zugrundeliegende Problem nicht lösen, und eine neue Form des Stimmings wird ihren Platz einnehmen, vielleicht eine noch gefährlichere. Besser ist es, Kindern (oder Erwachsenen) Stimming zu erklären und zusammen sichere Arten des Stimmings zu finden.
Stimming ist gut. Es erfüllt wichtige Funktionen und ist für viele Menschen einfach notwendig.

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus