Wir sind autistisch und das ist gut so.

Therapie?

Wenn Eltern für ihr Kind eine Autismus-Diagnose bekommen, reagieren sie oft mit Entsetzen und Verzweiflung. Unheilbar – lautet das Urteil der Mediziner_innen. Oder doch? Zahlreiche Foren und Mailinglisten, Bücher und Presseartikel erzählen von Therapien und Therapieerfolgen, wecken Hoffnungen.
Hoffnungen worauf? Was soll therapiert werden? Wer braucht eine Therapie?
Diese Fragen können viele Eltern, die Therapien für autistische Kinder fordern, nicht beantworten. Sie wollen ihren Kindern etwas ersparen. Sie wollen ihnen einen normalen Umgang beibringen. Wenn Kinder viel allein sind, sind es die Eltern, die darüber verzweifelt sind – die Kinder werden nicht gefragt. Durch Anpassung und Unauffälligkeit sollen die Kinder für ihre Umgebung annehmbarer gemacht werden.
Wer leidet also? Die Eltern. Sie schreiben ihre eigenen Bedürfnisse ihren autistischen Kindern zu, sie unterstellen ihnen Wünsche und Nöte und schaffen einen Handlungsbedarf, der mit Autismus eigentlich gar nichts zu tun hat.
Die Verzweiflung der Eltern kommt daher, dass ihr Kind nicht ihren Erwartungen entspricht und sie nicht wissen, wie sie mit ihrem Kind umgehen sollen und wie sie mit ihm kommunizieren sollen. Deshalb sind es auch die Eltern, die Hilfe brauchen.
Jim Sinclair, ein autistischer Mensch, schreibt dazu:

Viel von der Traurigkeit, den Eltern von autistischen Kindern erleben, kommt daher, dass die erwartete Beziehung zu einem erwarteten normalen Kind nicht eintritt. Die Trauer ist sehr real und sie muss erwartet und es muss daran gearbeitet werden, damit die Menschen ihr Leben fortführen können – aber sie hat nichts mit Autismus zu tun.

Zu versuchen, ein autistisches Kind mittels Therapien dazu zu bringen, sich möglichst normal und unauffällig zu verhalten, ist so absurd, als würde man schwarzen Kindern die Haut bleichen – mit dem Argument, dass sie es dann einfacher hätten in unserer Gesellschaft.
Als Therapieerfolg wird es gewertet, wenn ein autistisches Kind sich so verhält, als wäre es nicht-autistisch. Diese Normalisierung lehnen wir ab und betrachten sie als Verletzung unseres Rechts auf Achtung und Entfaltung der Persönlichkeit.
Insofern stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit der Delfintherapie für uns nicht. Wir wollen nicht therapiert werden, sondern als autistische Menschen akzeptiert und respektiert werden.
Wenn Autist_innen sprechen, wird ihnen oft abgesprochen, wirklich autistisch zu sein, sie seien ja nur leicht betroffen und könnten deshalb nicht für nicht-sprechende Autist_innen sprechen. Es ist immer problematisch, für andere Personen zu sprechen – allerdings scheint es niemand als problematisch zu empfinden, wenn nicht-autistische Eltern für Autist_innen sprechen.

Autismus?

Autismus ist der Name einer medizinischen Diagnose. Im ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation wird Autismus als eine Liste von gesellschaftlich negativ bewerteten Verhaltensweisen beschrieben, anhand derer Menschen kategorisiert und benannt werden können. Diese Verhaltensweisen dienen auch als Arbeitshypothese für die weitere Erforschung dieser Kategorien, wobei eine negative Arbeitshypothese für die Forschung und die daraus resultierenden Angebote für so klassifizierte Menschen nachteilig ist. Andere Forscher_innen arbeiten an der Erforschung von Stärken und positiv bewerteten Verhaltensweisen oder Fähigkeiten, mit denen Autismus beschrieben werden kann. Danach stellt Autismus keine medizinische Erkrankung dar, die geheilt werden könnte oder sollte, sondern eine Art von Persönlichkeit, die eine Bereicherung der Gesellschaft darstellt.

Was wollen wir?

Autistische Menschen sind nicht krank und brauchen keine Therapie. Sondern Akzeptanz und autistenfreundliche Lebensbedingungen. Autistische Kinder dürfen nicht für kommerzielle Zwecke missbraucht werden. Selbst Ärzt_innen und andere Fachkräfte vertreten die Ansicht, dass in den Eltern falsche Hoffnungen auf Heilungen geweckt werden, die nicht erfüllt werden können.
Eine Studie der Stiftung AquaThought, die sich der medizinischen Heilwirkung von Delfinen verschrieben hat, leitete mit einem mobilen EEG die Hirnwellen von Kindern während der Delfintherapie ab. Die Zacken im EEG deuteten auf einen entspannten Zustand des Gehirnes hin. Der gleiche Grad der Entspannung tritt beim Streicheln einer Katze oder einem heißen Bad ein.
Autistische Kinder sind in ihrem Alltag ständig sehr großem Stress ausgesetzt: es ist zu laut, zu grelles Licht, ständig müssen sie damit rechnen, dass andere Menschen auf sie zukommen und irgendwelche Reaktionen von ihnen erwarten.
Statt eine Woche in die Sonne zu den Delfinen zu fahren und das Therapie zu nennen, sollte man die Stressmenge, der autistische Menschen täglich ausgesetzt sind, reduzieren. Viele Verhaltensweisen, die als autistisch bezeichnet werden, sind nur eine Reaktion auf Stress. Wenn Autist_innen entspannt sind, werden diese Verhaltensweisen weniger oder hören auf. Befürworter_innen der Delfintherapie werten das als Therapieerfolg – zurück zuhause sind die Stressfaktoren aber wieder da und alles ist wie gehabt (nur der Geldbeutel ist leerer).
Autist_innen sind nicht krank, sondern sie leben in einer feindlichen Umgebung. Statt in Therapien soll in autistenfreundliche Umgebung investiert werden. Wir brauchen geeignete Schulen (NICHT therapeutische Einrichtungen), selbstbestimmte Wohnprojekte (NICHT Heime), Erholungsorte, Berufsperspektiven und Kulturangebote. Unser Antrag auf Förderung eines AutismusKulturZentrums, den wir Anfang des Jahres bei der Senatsverwaltung eingereicht haben, blieb bisher unbeantwortet. Mit Kursen, Ausstellungen, Konzerten, Beratungsangeboten und Freizeitgestaltung speziell für autistische Kinder und Erwachsene möchten wir unsere Stadt autistenfreundlicher machen.

Tiertherapien?

Viele autistische Menschen haben gerne Kontakt zu Tieren und bauen mit ihnen intensive Beziehungen auf. Doch Tiere sind keine Gebrauchsgegenstände wie eine Wärmflasche oder eine Badeente. Autistin und Anthropologin Dawn Prince-Hughes vergleicht in ihrem Buch Heute singe ich mein Leben den heutigen Umgang mit Tieren mit der Sklaverei:

Oft, wenn ich mich mit diesen Themen beschäftige, musste ich das Buch umdrehen und den Umschlag ansehen, damit mir wieder einfiel, ob ich gerade eine Rechtfertigung der Sklaverei im Vorkriegssüden las oder eine unserer heutigen Begründungen dafür, Affen in Gefangenschaft zu halten. Die üblichen Rechtfertigungen sind dieselben: Die betreffenden Lebewesen gehörten zu unterschiedlichen Spezies, die Menschen profitierten finanziell – oder sogar medizinisch – von ihrer Versklavung, sie seien unfähig, für sich selbst einzutreten, intellektuell weit unterlegen…

Nur von Freiheit und Gegenseitigkeit geprägte Beziehungen zwischen Menschen und Tieren halten wir für ethisch vertretbar.
Delfintherapie

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus