Wir sind autistisch und das ist gut so.

Die auffälligsten Probleme von Kindern mit Asperger-Syndrom liegen im Umgang mit anderen Menschen: Sie finden es schwierig zu verstehen, was andere denken und fühlen. Und sie verstehen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen.
Asperger-Kinder sind normal intelligent. Gerade deshalb ist es für ihr Umfeld oft unbegreiflich, dass das Kind manchmal »die einfachsten Dinge nicht versteht«.
Kinder mit Asperger-Syndrom wünschen sich zwar oft, »dazuzugehören« und Freundschaften zu haben. Aber sie haben große Schwierigkeiten, freundschaftliche Kontakte zu knüpfen. In Gruppen sind sie oft außen vor. Sie brauchen Unterstützung, um soziale Kontakte zu knüpfen.
Das Asperger-Syndrom ist gehört zum Autismus-Spektrum.
Wenn du dich fragst, ob dein Kind das Asperger-Syndrom hat, kann dir unser Asperger-Test eine erste Einschätzung geben.
Asperger-Kinder: Einzigartig, begabt, ehrlich, sonderbar, detailorientiert, ungeschickt, fokussiert, empfindlich, liebenswert

Asperger-Syndrom und frühkindlicher Autismus: Das sind die Unterschiede

Asperger-Syndrom frühkindlicher Autismus
Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion große Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion
keine Verzögerung der Sprachentwicklung verzögerte Sprachentwicklung, sprechen manchmal gar nicht
normale bis überdurchschnittliche Intelligenz Intelligenz sehr unterschiedlich, oft schwierig zu testen
oft motorische Ungeschicklichkeit keine motorischen Auffälligkeiten
Auffälligkeiten oft erst im Kindergarten- und Schulalter; Durchschnittsalter bei Diagnose: 8 Jahre Auffälligkeiten und Diagnose schon in den ersten Lebensjahren

Merkmale von Kindern mit Asperger-Syndrom

Auf manche Asperger-Kinder treffen viele oder fast alle Punkte dieser Liste zu, auf andere nur ein paar. Jedes Kind ist anders. Diese Liste zeigt, welche Besonderheiten viele Kinder mit Asperger-Syndrom haben – nicht alle.

  • Sie finden es schwierig, Freundschaften zu schließen. Oft werden sie gehänselt oder sogar gemobbt.
  • Sie haben eine verzögerte soziale Reife und soziales Verständnis.
  • Sie haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu kontrollieren.
  • Sie haben oft ein besonders starkes Interesse an einem bestimmten Thema. Das Interessengebiet kann gewöhnlich oder sehr ungewöhnlich sein.
  • Sie sind detailorientiert, manchmal perfektionistisch und übergenau.
  • Sie brauchen oft Unterstützung mit organisatorischen oder lebenspraktischen Fähigkeiten.
  • Sie haben ein ungewöhnliches Profil von Stärken und Schwächen im Lernvermögen.
  • Sie sind oft tolpatschig und haben eine schlechte Koordination des Körpers oder eine auffällige Haltung.
  • Sie sind sehr empfindlich gegenüber bestimmten Geräuschen, Gerüchen, Geschmäckern, Berührung oder ähnlichem.

Soziale Kommunikation

Soziale Kommunikation ist die Verständigung mit anderen Menschen.

  • Ihre sprachlichen Fähigkeiten sind ungewöhnlich verteilt: Ein Kind kann zum Beispiel einen großen Wortschatz und komplexe Grammatik haben. Gleichzeitig hat das Kind Probleme, ein Gespräch zu führen, und einen ungewöhnlichen Satzrhythmus oder Tonfall.
  • Asperger-Kinder verstehen Gesagtes manchmal wörtlich, auch wenn es ironisch oder sarkastisch gemeint war.
  • Sie haben Schwierigkeiten, implizierte Bedeutungen zu verstehen. Aus der Aussage »Mir ist kalt« leiten sie zum Beispiel nicht die Aufforderung ab: »Mach das Fenster zu.«
  • Sie sind oft die letzten, die einen Witz verstehen.
  • Ihre Art zu sprechen kann monoton, flach und roboterhaft klingen, oder altklug, pedantisch und formal. Manche Kinder klingen, als würden sie zitieren oder eine Rolle in einem Theaterstück spielen.
  • Sie haben Probleme, Gesichtsausdrücke oder Körpersprache zu verstehen. Ein Asperger-Kind bemerkt vielleicht nicht, dass es streng angeschaut wird. Oder es weiß nicht, auf wen oder was sich der strenge Blick bezieht.
  • Der Blickkontakt kann auffällig sein. Vielleicht nimmt das Kind nur selten Blickkontakt auf oder es nutzt ihn nicht zur Kommunikation.
  • Sie finden es schwierig, an den Augen anderer zu erkennen, wie diese sich fühlen.
  • Sie haben Schwierigkeiten mit der Wechselseitigkeit in einem Gespräch: Vielleicht reden sie zu viel oder zu wenig. Oder sie wissen nicht, wann sie dran sind mit Sprechen. Oder sie reden nur über Dinge, die sie selbst interessieren und verstehen nicht, dass ihr Gegenüber das Thema langweilig findet.
  • Sie können lange Vorträge über ihre Lieblingsthemen halten. Aber sie finden es vielleicht schwierig, eine Geschichte zu erzählen. Oder zu erzählen, was sie an diesem Tag gemacht haben.
  • Sie sprechen oft zu laut oder zu leise.

Soziale Interaktion

Soziale Interaktion ist der Umgang mit anderen Menschen.

  • Kinder mit Asperger-Syndrom haben Probleme zu erkennen, was andere Menschen denken oder fühlen. Sie finden es schwierig, Dinge aus der Perspektive einer anderen Person zu sehen. Deshalb verstehen sie oft nicht, warum Menschen etwas tun. Und sie können schwer vorhersagen, was als nächstes passieren wird.
  • Sie haben Schwierigkeiten zu erkennen, wie es anderen geht, oder wie andere über eine bestimmte Situation denken. Auch dann, wenn das für Gleichaltrige offensichtlich ist.
  • Oft werden sie als unhöflich oder arrogant eingeschätzt. Auch dann, wenn sie versuchen, freundlich zu sein.
  • Sie sind sehr ehrlich. Auch in Situationen, in denen das nicht angebracht ist.
  • Sie brauchen länger als andere Kinder, um zu lernen, wie man andere überzeugt, Kompromisse schließt und Konflikte löst.
  • Oft spielen sie lieber mit deutlich jüngeren oder älteren Kindern, oder bevorzugen die Gesellschaft von Erwachsenen.
  • Sie haben Probleme zu erkennen, wenn etwas peinlich ist. Deshalb verhalten sie sich manchmal unpassend.
  • Sie haben Schwierigkeiten, persönlichen Raum einzuschätzen. Zum Beispiel stehen sie zu nah bei ihrem Gegenüber oder zu weit weg. Manche Asperger-Kinder gehen sehr unbefangen auf fremde Leute zu und fassen diese auch an. Das ist bei Kleinkindern normal, aber spätestens bei Jugendlichen wird es zum Problem.
  • Sie brauchen länger, um soziale Botschaften zu verarbeiten, weil sie dazu Intelligenz statt Intuition verwenden.
  • Soziale Interaktion oder auch die bloße Anwesenheit anderer Menschen laugt sie körperlich und emotional aus. Sie brauchen danach die Möglichkeit, sich davon zu erholen.
  • Erwachsene finden manchmal, dem Kind mangelt es an »gesundem Menschenverstand«.

Gefühle verstehen und ausdrücken

  • Kinder mit Asperger-Syndrom hängen Gleichaltrigen in ihrer emotionalen Reife mindestens drei Jahre hinterher.
  • Sie haben oft einen begrenzten Wortschatz, um Gefühle zu beschreiben. Ihrem Ausdruck von Gefühlen fehlt es an Vielfalt und feinsinnigen Unterscheidungen.
  • Menschen mit Asperger-Syndrom haben ein höheres Risiko, affektive Störungen zu entwickeln. Affektive Störungen sind Stimmungsstörungen: Das Gefühls- und Gemütsleben ist gestört. Dazu gehören z.B. Depression, Angststörungen, Probleme mit der Aggressionsbewältigung und der Kommunikation von Liebe und Zuneigung.

Eines von drei Kindern und Erwachsenen mit Asperger-Syndrom hat eine klinische Depression.

Tony Attwood

Routinen und Spezialinteressen

KindManche Kinder mit Asperger-Syndrom bestehen darauf, dass bestimmte Dinge in einer ganz bestimmten Reihenfolge getan werden. Sie sind aufgewühlt, wenn sich daran etwas ändert.
Kinder mit Asperger-Syndrom haben oft Schwierigkeiten mit Veränderungen. Sie mögen es, wenn der Tagesablauf vorhersehbar ist. Wenn der Schulweg an einem Tag anders ist als sonst, kann das ein großes Problem für ein Asperger-Kinder sein. Die Welt ist plötzlich in Unordnung. Der ganze Tag fühlt sich chaotisch an.
Kleinigkeiten können die Welt eines Asperger-Kindes durcheinanderbringen: eine andere Anordnung der Möbel im Flur, ein anderer Teller, neue Schuhe.
Kinder mit Asperger-Syndrom haben manchmal bestimmte Angewohnheiten im Alltag, die andere Menschen nicht sinnvoll finden, die auf das Kind aber beruhigend wirken und helfen, die innere Ordnung wiederherzustellen. Sie berühren vielleicht jeden Zaunpfeiler auf einem bestimmten Weg oder zählen die Autos.
Asperger-Kinder haben oft ein besonders starkes Interesse an einem bestimmten Thema. Das Interessengebiet kann sehr ungewöhnlich sein. Es kann auch eine besonders ausgeprägte Beschäftigung mit einem altersüblichen Interessengebiet sein.

  • Solche Spezialinteressen können sich schon bei Zwei- oder Dreijährigen entwickeln. Sie können sich bei Kleinkindern auf Teile von Gegenständen richten: Zum Beispiel sich drehende Räder eines Spielzeugautos, oder das Ein- und Ausschalten von Lichtschaltern.
  • Später sind die Kinder vielleicht fasziniert von etwas, das kein Spielzeug ist, vielleicht mit einer bestimmten Kategorie von Gegenständen. Vielleicht sammeln sie viele solcher Gegenstände.
  • Dem Sammeln von Gegenständen kann sich weiterentwickeln zur Sammlung von Fakten und Zahlen über ein bestimmtes Thema.
  • Die Kinder bringen sich den größten Teil des Wissens über ihr Interessengebiet selbst bei.
  • Jugendliche haben oft umfassende Kenntnisse in ihrem Spezialgebiet, die über bloßes Faktenwissen hinausgehen. Das Interesse kann sich zum Beispiel auf Elektronik und Computer oder auf Fantasy-Romane richten. Manchmal entsteht auch eine Faszination mit einer bestimmten Person.
  • Die Interessen von Mädchen mit Asperger-Syndrom sind oft unauffälliger. Sie richten sich oft auf Dinge, für die sich auch andere Mädchen interessieren (zum Beispiel Pferde oder Mode). Manche Mädchen mit Asperger-Syndrom richten ihr Interesse eher auf Romane und Geschichten als auf die Sammlung von Fakten.

Spezialinteressen haben mehrere Funktionen:

  • Sie machen Spaß.
  • Sie wirken entspannend.
  • Sie helfen, Ängste zu bewältigen.
  • Sie helfen, das Leben vorhersagbarer und (gefühlt) sicherer zu machen.
  • Sie helfen, die Welt zu verstehen.
  • Sie schaffen eine Gegenwelt.
  • Sie helfen, eine eigene Identität aufzubauen.
  • Sie helfen, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und die eigenen intellektuellen Fähigkeiten zu zeigen.

Spezialinteressen können eine Quelle des Vergnügens, Wissen, der Identität und des Selbstbewusstseins sein. Sie können von Eltern, Lehrkräften und therapeutischen Fachkräften konstruktiv genutzt werden.
Solche Interessen können nicht nur der Person mit Asperger-Syndrom nutzen, sondern auch der Gesellschaft: Viele technische und wissenschaftliche Fortschritte, aber auch künstlerische Leistungen entstanden aus einer solchen intensiven Beschäftigung mit einem Thema.

Kognitive Fähigkeiten

Mit kognitiven Fähigkeiten meint man die Fähigkeit zu denken und zu verstehen.
KindEinige Asperger-Kinder stechen zu Beginn der Schulzeit durch schulische Leistungen heraus, die weiter sind als die ihrer Klassenstufe.
Manche Asperger-Kinder sind hochbegabt, andere haben große Mühe mit schulischen Aufgaben.
Typisches Profil kognitiver Fähigkeiten in der Schule:

  • Die Lehrkräfte erkennen bald, dass das Kind einen besonderen Lernstil hat:
    • Es hat eine Begabung, die logische und physikalische Welt zu verstehen,
    • bemerkt Details,
    • hat ein gutes Gedächtnis und
    • kann Fakten in Systeme einordnen.
  • Viele Asperger-Kinder können sich zwar intensiv in etwas vertiefen. Aber im Klassenzimmer oder einer vergleichbaren Umgebung lassen sie sich leicht ablenken.
  • Wenn sie ein Problem lösen sollen, versuchen sie das hartnäckig auf eine einzige Art und Weise, statt mehrere Herangehensweisen auszuprobieren. Oft haben sie Angst davor zu versagen.
  • Im weiteren Verlauf der Schullaufbahn bemerken die Lehrkräfte Probleme mit organisatorischen Dingen, besonders mit den Hausaufgaben.
  • Viele Asperger-Kinder finden Fächer schwierig, in denen sie verstehen müssen, warum jemand etwas tut. Das betrifft zum Beispiel die Interpretation von Literatur und den Geschichtsunterricht (zumindest in den höheren Klassen).
  • Wenn ein Asperger-Kind in der Schule keine Freunde findet, wird der Erfolg in schulischen Leistungen wichtiger. Denn dieser wird zur Motivation, zur Schule zu gehen. Er wird auch für die Entwicklung des Selbstbewusstseins wesentlich.

Motorik und Koordination

Mindestens 60% der Asperger-Kinder wirken unbeholfen oder tolpatschig. Mehrere Studien haben aber gezeigt, dass fast alle Kinder mit Asperger-Syndrom spezifische Besonderheiten in der Bewegung haben. Bei vielen von ihnen fällt das nicht auf.

  • Die Koordination von Asperger-Kindern beim Gehen oder Rennen kann unreif wirken, und Erwachsene mit Asperger-Syndrom haben oft eine merkwürdige Haltung oder einen steifen, ungelenken Gang.
  • Manche Kinder mit Asperger-Syndrom haben Schwierigkeiten, einen Ball zu fangen, zu werfen oder zu kicken.
  • Lehrkräfte und Eltern machen sich Sorgen über Probleme mit der Handschrift.
  • Manche Sportarten sind davon nicht betroffen, zum Beispiel Schwimmen, Reiten oder Trampolin springen.

KindAuch wenn es zunächst wenig intuitiv erscheint: Der Grund für die motorische Ungeschicklichkeit liegt in Besonderheiten der Wahrnehmungsverarbeitung. Es gibt einen Sinn für die Wahrnehmung unseres eigenen Körpers: die Propriozeption. Dieser Sinn sagt uns, wo wir uns im Raum befinden und welche Lage unser Körper einnimmt. Wenn wir unseren Körper nicht gut wahrnehmen, sind unsere Bewegungen ungeschickt und wenig elegant.

Wahrnehmung

Augen und Ohren funktionieren bei Asperger-Kindern gleich wie bei anderen Menschen. Aber ihr Gehirn verarbeitet anders, was sie sehen und hören. Sie spüren manche Reize stärker als andere Menschen, und andere Reize schwächer.

  • Solche Reize können zum Beispiel sein:
    • bestimmte Geräusche
    • Berührungen
    • »kratzende« Kleidung auf der Haut
    • grelles Licht, Neonröhren, flackerndes Licht
    • Geschmack und Konsistenz von Essen
  • Es gibt keine richtige oder falsche Wahrnehmung. Aber unsere Gesellschaft ist für nicht-autistische Menschen gemacht. Die stört es meistens nicht, wenn Neonlichter flackern oder Staubsauger brummen. Deshalb ist die Welt für Asperger-Kinder oft zu laut, zu grell oder zu durcheinander.
  • Asperger-Kinder werden in einer Umgebung mit vielen Reizen manchmal überwachsam, angespannt und leicht ablenkbar. Das gilt zum Beispiel für das Klassenzimmer. Dort wissen sie nicht, welche schmerzhafte sensorische Empfindung sie als nächstes überfällt.

Mehr über Wahrnehmungsverarbeitung
Mehr über das Asperger-Syndrom findest du unter:

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus