Wir sind autistisch und das ist gut so.

Zusammenfassung: Autismus wird durch eine Reihe von Diagnosekriterien definiert, die Dysfunktionen in einer kulturell voreingenommenen Weise identifizieren, die Erwartungen und Urteile schädlich verfälschen.

Es wird argumentiert, dass dies tendenziell eine nachteilige Wirkung auf die Bildung und die Lebensqualität autistischer Individuen hat, indem es unangemessene negative Erwartungen bezüglich ihrer Fähigkeiten verursacht. Es ist konstruktiver, Autismus nicht als eine Krankheit, sondern als Aspekt essentieller menschlicher Vielfalt zu sehen.

Besondere Aufmerksamkeit ist den Themen um Empathie gewidmet. Belege vieler positiver Charakteristika der autistischen Disposition werden diskutiert.

Autismus wird zur Zeit ausschließlich über seine Defizite bestimmt (siehe Diagnosekriterien). Dieser Fokus auf das, was falsch ist, bedeutet, dass autistische Stärken systematisch ignoriert werden.

Dieser Artikel leugnet nicht, dass es hart sein kann, mit Autismus zu leben, aber er konzentriert sich auf die Vorteile der autistischen Veranlagung statt auf die Probleme, die sie für alle Beteiligten schaffen kann. Die Betonung der Defizite und das Etikett einer Krankheit haben öffentliche Erwartungen einer »Heilung« hervorgerufen. Der Gedanke, dass das ein grundlegendes Missverständnis ist, liegt diesem Artikel zugrunde.

Natürlich müssen wir eine Verbindung aufnehmen mit diesen jungen Menschen, die mit so hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, und natürlich müssen wir ihnen Gelegenheiten geben, in einer mit uns geteilten Welt Erfahrungen zu sammeln und zu gedeihen.

Aber es gibt keine Krankheit zu heilen – es gibt eher eine Art zu sein, zu denken und wahrzunehmen, der es entgegenzukommen gilt. Selbst was als »Schwerbehinderung« bezeichnet wird, ist keine Krankheit – es bedeutet, dass manche Menschen Schwierigkeiten haben, und zwar genauso sehr wegen der Welt, in der sie leben wie deswegen, weil sie sind, wie sie sind.

Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, oder die Welt läuft Gefahr, die ausgeprägte Konzentration und Hingabe der autistischen Veranlagung zu verlieren; die Welt läuft Gefahr, einen lebenswichtigen und produktiven Strang menschlicher Vielfalt auszurotten. Eine Dampfwalze der Eugenik rollt auf diese atypischen Bodenwellen zu.

Lorna Wing, bekannt für die »Triade der Beeinträchtigungen« bei Autismus, wies darauf hin1, dass die Triade kein angemessenes Hilfsmittel ist, um Gruppen von Personen eindeutig herauszusuchen und dass ein multidimensionales Modell notwendig ist, um sich mit der tatsächlichen Vielfalt zu befassen. Eine Kategorie wird von mindestens zwei Dimensionen identifiziert – zwei sind an sich genug, um eine Stelle in einer Matrix zu bestimmen.

Aber sowohl die Wirklichkeit als auch wirksames Denken verlangen beide mehr. Wenn man etwas bloß als Teil einer Kategorie betrachtet, wird man schon durch diese Tatsache an sich andere Dimensionen, entlang derer es sich auszeichnet, ignorieren – zum Beispiel seine derzeitige Position in Raum und Zeit, seine Kausalgeschichte, oder seine Farbe, oder die Tatsache, dass es in einer bestimmten Weise leuchtet, wenn man es aus einem bestimmten Winkel betrachtet.

Man kann die Auffassung vertreten, dass kulturelle Einhelligkeit – oft als »allgemein bekannt« verstanden – sich genauso sehr aus gegenseitiger Ignoranz zusammensetzt wie alles andere. Im Fall der kulturellen Erkennung von Autismus hat diese Verschwörung der Ignoranz schwerwiegende praktische Konsequenzen.

Sobald Sprache in unsere frühen Lernprozesse aufgenommen worden ist, stülpt sie unsere kategorischen Imperative über unser Denken, ohne dass wir es auch nur bemerken. Wie der französische Philosoph Lyotard es so locker ausdrückte: »Wörter sind die Hausmädchen des Geistes.« Sie spielen eine wichtige Rolle in der Verschwörung kultureller Ignoranz.

Es gibt einige Wörter in allgemeiner Verwendung, um Autismus zu beschreiben, die sich großartig dafür eignen, den öffentlichen Willen zu wecken, sich von großen Geldsummen zu trennen: Wörter wie »Krankheit«, »Seuche«, »Krebs« und »Epidemie«, Ausdrücke wie »genetisch bedingte Schwerbehinderung«. Aus dieser Perspektive scheint es offensichtlich, dass es gut sein muss, diesen Horror auszurotten!

Kein Wunder, dass autistischen Menschen sich manchmal fühlen, als ob sie immer verkehrt sein werden, was auch immer sie tun. Die Geisteshaltung der Welt, in die sie passen müssen, wird bestimmt von wiederholt bekräftigten Falschannahmen. Dieser Artikel hat das Ziel, einige dieser Annahmen zu untersuchen und vielleicht zu unterminieren.

Wie schwierig auch immer autistische Kinder sein mögen, wie mühevoll es manchmal für Familien sein kann, damit zurechtzukommen – Autismus ist nicht nur schlecht. Dennoch werden Forschungsergebnisse, die autistische Stärken finden, ständig ignoriert oder negativ interpretiert. Ein charakteristisches Beispiel für diese Neigung wäre die Interpretation von größerer Genauigkeit autistischer Testpersonen in einem Experiment als »Störung der Verarbeitung des Gesamtbildes«.

Zwei Informationsquellen für eine Auswahl dieser typischen Verzerrungen sind Mottron et al 20062 und eine Präsentation3 von der Psychologie-Professorin und Präsidentin der American Psychological Association, Morton Gernsbacher, die auch Mutter eines autistischen Kindes ist.

Zieht man in Betracht, dass Forscherinnen und Forscher in einem Kontext arbeiten, der von den wertenden und kulturell voreingenommenen Diagnosekriterien bestimmt wird, sind die interpretativen Vorurteile, die Mottron, Gernsbacher und Kolleg_innen aufdecken, kaum überraschend.

Die Anwendung der Diagnosekriterien bringt es mit sich, Annahmen darüber zu machen, wie typisch und erwünscht ein bestimmtes Verhaltensmuster eingeschätzt wird. Als autistisch identifiziert zu werden, bringt es mit sich, als jemand identifiziert zu werden, der alle möglichen von der Norm abweichenden Dinge in abweichender Weise tut.

Wie erkennen wir das Typische, von dem diese Verhaltensweisen abweichen? Es gibt zwei Arten, das zu tun, die eine davon deutlich subjektiv und wertend – »das scheint mir typisch zu sein [also toll], das nicht…« – die andere Art Typisches von Untypischem zu unterscheiden hängt von einer Abweichung von einer statistisch hergeleiteten Norm ab.

In letzterem Fall leiten sich die Werte im Spiel von der Vorstellung ab, dass es richtig und wünschenswert ist, so nah wie möglich an der Mitte der Gaußschen Normalverteilung zu sein – d.h. es wird als wünschenswert angesehen, so sehr wie jeder andere zu sein wie möglich. Das ist schon an sich eine verwirrende Vorstellung.

Es läuft auch dem zuwider, was wir über die unverzichtbare Vielfalt aus ökologischen Studien wissen – Spezies brauchen Variabilität, um langfristig zu blühen und zu gedeihen.

Peter Allen und seine Kolleg_innen stellen eine formale (aber leicht verständliche) These auf, dass menschliche Kreativität und Erforschung durch Synergien zwischen Individuen mit verschiedenartigen Eigenschaften gesteigert werden4.

Die Schreibmaschinen-Analogie von Ballastexistenz weist auf fast dasselbe hin: »Die Gesellschaft wäre nicht das, was sie ist, wenn jeder in ihr gleich wäre. Die Schreibmaschine in meinem Zimmer würde nicht funktionieren, wenn sie nur aus Schrauben und nichts anderem bestünde.«5

Die starke genetische Komponente bei Autismus legt nahe, dass natürlich auftretende Vielfalt am Werk ist, wenn autistische Kinder geboren werden.

Die Diagnosekriterien werden in Texten großer Autorität verehrt6. Ihre Autorität kommt dadurch, dass sie offiziell sind, geschrieben von einem Expert_innenkomitee, und standardmäßig im Einsatz bei allen praktischen Ärzt_innen.

Diese ausschließlich dysfunktionalen oder gestörten Kriterien um Autismus zu erkennen wiederum, und der medizinische Kontext, in dem diese Erkennung stattfindet verschwören sich, um die Ignoranz gegenüber einer Anzahl von Dimensionen zu fördern.

In ihrem Buch »Children under Stress« (Kinder im Stress, 1973) befasst sich Dr. Sula Wolff auf mehreren Seiten mit Autismus. Sie sagt: »Wenn die Diagnose einmal steht, finden Eltern und Lehrkräfte es einfacher, ihre Ansprüche an Konformität zu senken, das Kind zu erziehen, indem sie auf seinen besonderen Interessen und Befähigungen aufbauen und auf den wesentlichen Anforderungen an soziales Verhalten mit weniger Feindseligkeit zu bestehen.«7

Diese menschliche und optimistische Einstellung gegenüber der Rolle der Diagnose impliziert, dass die Leute ihre sozialen Anforderungen typischerweise steigern, auf eine Art, die der jungen Person, an die sie gestellt werden, feindlich scheint.

Ein Freund mit autistischen Zwillingen fragte einen von ihnen, als er etwa elf war: »Warum seid ihr beiden immer weggelaufen, als ihr klein wart?« Die Antwort kam ohne Zögern: »Weil ihr uns gehasst habt.«

Selbst wenn wir denken, dass wir das nicht tun, wie soll ein Kind unterscheiden zwischen Feindseligkeit gegenüber seinem Verhalten (in diesem Fall alles Beißen und Klettern) und Feindseligkeit gegenüber seinem Dasein?

»Unangemessenes Verhalten« pflegt in Beschreibungen von Autismus eine große Rolle zu spielen. Dieser Ausdruck unterstellt offensichtliche oder weithin geteilte Einstellungen in Bezug darauf, was angemessen ist und was nicht. Sowohl die unabsichtliche und damit unkontrollierte Kommunikation heftiger Emotionen, und direkte Kommunikationsversuche, die sich nicht auf ein Standardrepertoire von Ausdrucksweisen beziehen, rufen wahrscheinlich negative Reaktionen hervor (Das ist falsch! Das muss anders sein!).

Diese negativen Reaktionen neigen dazu, Anerkennung und Bestätigung berechtigter Themen und Rückmeldungen auszugrenzen; sie neigen dazu, Anstrengungen zu ignorieren, die Dinge in Ordnung zu bringen, schon ganz auf den Kommunikationsprozess konzentriert. Solche negativen Reaktionen scheitern daran, Freundlichkeit und guten Willen zu schätzen, scheitern daran, Angst zu bemerken, scheitern daran, die Bedeutung zu erkennen und scheitern daran, gerechtfertigte Emotionen zu erkennen. Sie machen alles am Äußerlichen fest.

Wer zeigt in einem solchen Austausch einen Mangel an Empathie?

Ein perfektes Beispiel eines nicht-autistischen Mangels an Empathie zeigt ein Videoausschnitt (nicht mehr online, Anm. d. Übersetzers), der zeigt, wie ein Verhaltenstherapeut einem kleinen Mädchen beibringt »wie man sich hinsetzt«: Hier bringt der Wunsch nach der Erfüllung sozialer Normen und Erwartungen es mit sich, dass offensichtliche autistische Freude und Spiel ignoriert werden, genauso wie offensichtliche autistische Angst.

Zieht man in Betracht, wie häufig von Angst unter autistischen Menschen berichtet wird, müssen wir erkennen, dass Menschen, die ständig Angst haben und trotzdem ihr Leben weiterleben und mit den Dingen fertig werden, viel Mut und Entschlossenheit zeigen. Angst oder nicht, die Anstrengung zu machen, sich so zu verhalten, als ob man dazu passen würde, ist oft erschöpfend und geht wahrscheinlich auf Kosten anderer Kapazitäten (siehe die Diskussion über Monotropismus bei Autismus und Computer und siehe im Ballastexistenz-Blog, wo es eine Version der »Löffel-Theorie« gibt, die auch auf der Vorstellung aufbaut, dass es ein begrenztes Angebot an Verarbeitungsressourcen gibt).

Was Betreuer_innen und Erzieher_innen als sozial befähigend sehen, kann tatsächlich persönlich behindernd sein. So kann es kommen, wenn man autistische Kinder als defekt sieht und sich ausschließlich darauf konzentriert, die Defizite zu beheben.

Kanner et al. (1972) fanden heraus, dass das, was als »extrem begrenzte Interessen« oder »isolierende Fixierungen« etikettiert wurde, im weiteren Leben oft ausgebaut wurden und zur Grundlage für einen Beruf und für Beziehungen werden.

Wenn wir ein »unebenes Intelligenzprofil« und »ungewöhnliche Interessen« bei Autismus als Fehlanpassung an sich sehen, gelingt es uns vielleicht nicht, diesen Unterschieden konstruktiv entgegenzukommen. Vielleicht gelingt es uns nicht, den Kindern die Möglichkeit zu geben, durch Beobachten, Erforschen und Entdecken zu lernen, auf die Arten zu lernen, die am besten zu ihnen passen. Vielleicht gelingt es uns nicht, ihnen Zugang zu geben zu den Arten, auf die sie am besten kommunizieren, und wir bestehen vielleicht auf dem gesprochenen Wort, selbst wenn es eine deutliche Anstrengung für das Individuum ist und als Kommunikationsmittel ineffizient wegen Schwierigkeiten mit der Artikulation.

Wenn wir uns wünschen, dass diese Kinder sowohl gedeihen als auch sich einfügen, dann mag es auf lange Sicht zu erfolgreicher Kommunikation anregen und produktiver sein, ihnen Zeit zu geben und Methoden, wie sie ihre Interessen entwickeln, teilen und erforschen können, statt sich darauf zu konzentrieren, ihr Verhalten auszubessern.

Das werden wahrscheinlich Kinder mit intensiven und beständigen Interessen sein, die keinen stereotypen Erwartungen entsprechen, und die somit ihre Interessen nicht anpassen, selbst wenn sie sich bewusst sind, dass sie nicht ins Bild passen. Wissen, dass man nicht ins Bild passt, reicht weder, um zu wissen, warum man nicht ins Bild passt, noch, um sich entsprechend anzupassen.

»Eigensinnig«, »stur«, »unkooperativ«, »unwillig« werden oft verwendet, um autistische Menschen aller Altersstufen zu beschreiben. Alle diese Worte gehen davon aus, dass andere Menschen das Recht haben, einem zu sagen, was man zu tun hat und dass es ein wesentlicher Bestandteil des Lernens ist, zu lernen, das zu tun, was andere Leute einem sagen, was man tun soll – was manchmal »das Lernen lernen« genannt wird, in Wirklichkeit aber eher bedeutet »lernen, etwas gelehrt zu bekommen«.

Aus dieser Perspektive ist es eine riesige soziale Errungenschaft, ein Kind dazu bringen, sich hinzusetzen. Aber es mag für autistische Kinder nicht der beste Weg sein zu lernen, sie lernen möglicherweise besonders gut, wenn sie Gelegenheiten haben, selbständig zu lernen8.

Auch ist das, was alle andern tun, nicht notwendigerweise etwas Gutes (siehe Allen & McGlade in Fußnote 4), und wir brauchen Non-Konformisten und Individuen, die aus der Masse herausragen, weil sie die Dinge anders sehen9. Zu lernen, immer das zu tun, was einem gesagt wird, kann einen unangemessen fügsam machen und zum potentiellen Opfer von Missbrauch jeglicher Art.

Genau die Eigenschaften, die in dem einen Zusammenhang stur genannt, werden in einem anderen engagiert, hingebungsvoll, entschlossen, und zielstrebig genannt. Für einige Beispiele offenkundig bewundernswerter autistischer Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit kann man einige der kurzen Videos der Posautive Youtube Group10 ansehen.

Was Fügsamkeit betrifft, ist es meiner Beobachtung nach so, dass eine Person – autistisch oder nicht, Kind oder erwachsen -, wenn sie den Sinn einer Aufgabe einsehen kann und eingeladen wird, dabei zu helfen, diese Aufgabe zu verrichten, wird sie es mit guten Willem tun – hoffentlich in einem Geist der Kooperation statt der Fügsamkeit.

In der Folgestudie über die Kinder, die sie diagnostiziert haben, zitieren Kanner und seine Kolleg_innen vom Johns Hopkins Hospital einen Arbeitgeber, der von seinem autistischen Arbeiter sagte, dass er »hervorragend zuverlässig, vertrauenswürdig, sorgfältig und fürsorglich gegenüber seinen Mitarbeitern« (Kanner, Rodriguez & Ashenden 1972)11. In jüngerer Zeit fand Hagner und Cooneys Studie von vierzehn »erfolgreich angestellten Individuen mit Autismus« »hervorragende Beurteilungen der Angestellten mit Autismus… .

Individuen mit Autismus haben eindeutig Fähigkeiten und Talente, die in einer Vielfalt von Berufen in der Gemeinschaft wertvoll für die Geschäftswelt sind, und in den untersuchten Betrieben wurden die meisten nicht nur als erfolgreiche, sondern als hervorragende Angestellte gesehen.« Weiterhin sagen sie: »Ein anderes unerwartetes Ergebnis, und zwar eins, das mit einem verbreiteten Stereotyp über Individuen mit Autismus zu einem gewissen Grad nicht in Einklang steht, war, wie sozial die Angestellten wahrgenommen wurden. Die meisten Angestellten hatten häufige, sinnvolle Interaktionen mit ihren Mitarbeitern und wurden als freundlich und gesellig angesehen« (Hagner & Cooney 2005, S. 95f12).

Der Journalist Ker Than schreibt: »Für autistische Individuen ist Erfahrung eher beobachtet als gelebt, und die emotionalen Unterströmungen, die so viel unseres menschlichen Verhaltens bestimmen, sind unzugänglich. Sie erraten die Seelenzustände anderer durch explizites Theoretisieren, aber das Endergebnis ist eine Liste – mechanisch und unpersönlich – von Handlungen, Gesten und Ausdrücken leer von Motiven, Intentionen oder Emotionen« (2005).

Wir neigen naturgemäß dazu, anzunehmen, dass sichtbare Zeichen emotionaler Reaktion immer unseren Erwartungen davon entsprechen, in welcher Weise bestimmte Emotionen übermittelt werden sollten. Bei Nichtvorhandensein eines solchen »angemessenen« äußerlichen Ausdrucks neigen wir dazu, einen Mangel an inneren Gefühlen anzunehmen. Das ist keine faire Annahme gegenüber Menschen, die Schwierigkeiten mit einer gesellschaftlich akzeptablen Selbstdarstellung haben, wie sie jeder, der eine Autismus-Diagnose anzieht, haben muss.

Wir beurteilen Angemessenheit anhand gesellschaftlicher Normen und Erwartungen. Zum Beispiel wird ein breites Grinsen, wenn man schlimme Nachrichten überbringt oder empfängt, im Westen stark missbilligt, wird aber in einigen Kulturen als normal betrachtet. Einige autistische Menschen stellen fest, dass sie unter emotionalem Stress etwas tun, was der Bruder von A. M. Baggs »das Lachen des toten Hamsters« genannt hat. Folgendes sagt Baggs darüber:

Ich lächle, wenn ich etwas sehr falsch gemacht habe und ich es weiß und ich entsetzt darüber bin, was ich getan habe; ich lächle sehr wahrscheinlich, wenn ich weiß, dass nebenan jemand stirbt; ich lächle während aller Arten von Notfällen, wenn jemand umgekippt ist oder stark blutet; ich lächle, wenn Menschen, die mir nahestehen, sterben, einschließlich Tiere; ich lächle während Naturkatastrophen, Kriegen, Genoziden und Terrorangriffen; ich lächle, während ich dabei zusehe, wie Menschen einander körperlich angreifen; ich lächle, während ich an schlechte Dinge über Menschen denke.

…Mein Mund steckt fest, und zwar in schmerzhafter Weise, lächelnd oder lachend, und ich kann nicht tun, um damit aufzuhören… was die Leute nicht verstehen, ist, dass ich nicht glücklich bin und ich finde keines dieser Dinge im Entferntesten lustig. Während ich lächelnd oder lachend dasitze, sind meine tatsächlichen Gefühle Abscheu und Entsetzen. Es gibt dabei kein Vergnügen und es wäre wirklich nett, wenn die Leute verstehen würden, dass einen das nicht zum Monster macht. Es ist tatsächlich eine sehr grundlegende Reaktion von Menschen (und Primaten allgemein) [d.h. das nervöse Lachen], dass manchen Menschen stärker aufweisen als andere.

Autistische Menschen werden oft bezichtigt, keine Empathie zu haben.

Denken wir über die Bedeutung von »Empathie« und »Mitgefühl« nach und wie sie sich unterscheiden. Die Vorstellung von Empathie war in meiner Kindheit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht sehr verbreitet. Sie hielt in den Sechzigern im allgemeinen Sprachgebrauch Einzug, durch seine Verwendung in einem therapeutischen Kontext, besonders durch die viel gelesene Arbeiten des Psychologen und Therapeuten Carl Rogers.

Nach Rogers ist Empathie der Prozess, »in die private Wahrnehmungswelt des anderen einzutreten und darin durch und durch heimisch zu werden. Es umfasst, sensibel gegenüber den von einem Augenblick zum anderen wechselnden gefühlten Bedeutungen, die in dieser anderen Person strömen, gegenüber Angst oder Wut oder Zärtlichkeit oder Verwirrung oder was auch immer er/sie empfindet« (Rogers 198013).

Es ist unwahrscheinlich, die meisten Gespräche diesen Grad an emotionaler Tiefe erreichen. Außerhalb des therapeutischen Kontextes, wird »Empathie« eher verwendet, um direkte Gefühlsreaktionen von einer Person zur anderen zu beschreiben – du fühlst dich schlecht, ich fühle mich schlecht; du fühlst dich gut, ich fühle mich gut und umgekehrt – wir verstehen also, wie wir uns gegenseitig fühlen. Man kann freundliche persönliche Feedback-Schleifen schaffen, in denen geteilte Gefühle bei gegenseitiger Anerkennung und Bekräftigung ausgedrückt werden. Es geht darum, das Andere zu verstehen, indem man die Gleichheit erkennt.

Möglicherweise hat Empathie mehr Bedeutung und einen solchen kulturellen Wert erlangt, weil gesellschaftliche Veränderungen andere Quellen eines Sinns für eine gemeinsame Identität eher abgebaut haben (siehe Baumann 200514). Vielleicht ist es auch Teil der »Therapeutisierung« des täglichen Lebens, das im Ballastexistenz-Blog erörtert wird15.

Das Konzept des Mitgefühls gibt es schon mindestens so lange wie Buddhismus, d.h. für etwa zweieinhalbtausend Jahre. Die Definition von Mitgefühl ist: wollen, dass andere frei von Leiden sind.

Meiner Erfahrung und Beobachtung nach neigen autistische Menschen, wenn ihnen bewusst ist, dass Geschöpfe jeglicher Art einschließlich Menschen leiden, dazu, das unerträglich zu finden und wollen leidenschaftlich, dass es aufhört und wenn es machbar ist, werden sie Schritte unternehmen, um in Zukunft zu vermeiden, dass ein solches Leiden zugefügt wird.

Ist es notwendig, über Empathie zu verfügen, um Mitgefühl zu spüren? Es scheint keinen logischen Grund zu geben, warum das so sein sollte, es sei denn, dass selbst das Verständnis, dass andere Lebewesen in der Lage sind, Leiden zu empfinden, davon abhinge, in ihre »privaten Welten« ›einzutreten‹?

Das ist sicher nicht der Fall: wenn ich über meinen Hund stolpere und er jault, dann weiß ich, dass ich ihm wehgetan habe; wenn ich ein plötzliches Geräusch mache und meine Katze rennt weg, dass weiß ich, dass ich sie erschreckt habe. Dabei lese ich nicht ihre Gedanken und tausche keine Gefühle mit ihnen aus, wenn ich Bedauern spüre angesichts des Leidens, das ich verursacht habe. Weder weiß ich noch möchte ich wissen, wie es sich für sie angefühlt hat.

Empathie zusammen mit Mitgefühl zu spüren, kann in der Tat dazu führen, dass die Person sich sehr schlecht fühlt. (Vielleicht ist das der eigentliche Grund der »Mitgefühlsmüdigkeit«?).

Wie auch immer, die Geschworenen sind immer noch in Sachen Empathie unterwegs, was Autismus betrifft. Vor kurzem kam ein Forschungsteam zu dem Schluss, dass, obwohl die Menschen mit Asperger-Syndrom in dieser Studie »bei der Messung der kognitiven Empathie und der Theory of Mind niedrigere Punktzahlen erreichten, unterschieden sie sich nicht von der Kontrollgruppe auf der einen Skala affektiver Empathie des IRI (empathische Besorgnis) und schnitten auf der anderen (persönliches Leid) höher ab als die Kontrollgruppe. Deshalb schlagen wir vor, dass die Frage der Empathie bei AS überprüft wird« (Rogers et al 200616).

Ein Gefühl in einer anderen Person zu erkennen muss einfacher sein, wenn man dieses Gefühl selbst hat. Untersuchungen von Ben Shalom und anderen zeigen, dass körperliche emotionale Reaktionen auf Stimuli bei den autistischen und nicht-autistischen untersuchten Gruppen im selben Bereich liegen. Der Hauptunterschied zwischen den diagnostizierten und nicht-diagnostizierten ist, das erstere seltener von einem Gefühl im Zusammenhang mit der messbaren körperlichen Empfindung berichten17.

Vom dem, was man manchmal über Autismus hört, könnte man denken, dass autistische Menschen nicht in der Lage wären zu lieben. Aber die meisten Menschen, die ein autistisches Kind oder einen autistischen erwachsenen Menschen lieben, lernen andererseits erfreut, dass Liebe, so unkonventionell auch immer sie sein mag, offensichtlich sein kann18.

Besorgnis, ein Wunsch, jegliches Leiden zu verringern, Hingabe, Verbindlichkeit und Freude an der Anwesenheit einer anderen Person: diese sind grundlegend für eine langfristige Liebe, unabhängig davon, ob die betreffende Person sich bewusst ist, bestimmte Gefühle zu spüren oder nicht19.

Wenn Empathie dazu führt, dass man sich auf die Gefühle eines anderen »einstimmt«, dann ist meine Beobachtung – basierend auf hunderten von Stunden eins-zu-eins mit einer Vielfalt autistischer Erwachsener jeden Grades ersichtlicher Fähigkeit – dass Autist_innen das lernen. Das heißt, sie lernen grundlegende positive und negative Gefühle aufzufassen, wie wir alle es tun, möglicherweise auf einer ähnlichen Zeitskala, möglicherweise früher, möglicherweise später.

Es kann sein, dass eine feiner abgestimmte emotionale Unterscheidung zwischen positiven und negativen Gefühlen sich zu einem späteren Alter als durchschnittlich entwickelt, wenn überhaupt. Aber diese »Daumen rauf/Daumen runter«-Polarität unterliegt allen Gefühlszuständen und autistische Menschen sind dabei nicht anders.

Dazu zu passen oder nicht dazu zu passen stehen am entgegennehmenden Ende dieser sozialen Bedeutungen. Autist_innen passen nicht dazu, weil wir ihnen nicht entgegenkommen, selbst wenn sie ihr Äußerstes geben, um uns entgegenzukommen.

Um Mike Stantons persönliches Kennzeichen zu zitieren: Lasst uns Autismus zu einem glücklichen Ort machen.

Danksagung
Allgemein möchte ich meinen vielen autistischen Freunden für ihre Geduld und konstruktive Unterstützung im Laufe der Jahre danken. Ebenso wie den Menschen, deren Arbeit im Text gewürdigt wird, muss ich allen im Autism Hub für ihren lebhaften Geist, ihre harte Arbeit und effektive Kommunikation danken. Besonders erwähnen muss ich Camille Clarke und Philip Ashton für ihre überaus nützliche Forschungsbeiträge speziell zu diesem Artikel. Auch Sebastian Dern verdient besonderen Dank.

Bücher von Dinah Murray

1 Wing, L. (2005). „Reflections on Opening Pandora’s Box,“ Journal of Autism and Developmental Disorders, 35, 2, S. 197-20.
2 Mottron, Laurent, Dawson, Michelle, Soulières, Isabelle, Hubert, Benedicte, Burack, Jake (2006). Enhanced Perceptual Functioning in Autism: An Update, and Eight Principles of Autistic Perception. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36, 1, S. 27-43(17).
4 http://qtstreamer.doit.wisc.edu/autism/Core%20Deficits_300k.mov
4 Evolutionary Drive – The Effect of Microscopic Diversity, Error Making, and Noise von P.M.Allen und J.M.McGlade
Evolutionary Drive – New Understandings of Change in Socio-Economic Systems von P.M.Allen, M.Strathern, J.S.Baldwin
5 https://ballastexistenz.wordpress.com/2006/02/26/
6 APA (1994). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – Fourth Edition, Washington DC: American Psychiatric Association.
WHO,(1992). The International Statistical Classification of Diseases, 10th Revision, (ICD-10). Genf: Weltgesundheitsorganisation.
7 Zitiert von Philip Ashton im Diskussionsforum »The Misbehaviour of Behaviourists«
8 siehe Diskussion hier, (besonders Michelle Dawsons Beiträge am 09.02.06 und 24.05.06).
9 Um ein Beispiel zu sehen, warum, siehe hier:
10 Anm. d. Übersetzers: Die Youtube Posautive Gruppe exsatiert nicht mehr; einige der Videos findet man hier.

Urville und die Animationen veranschaulichen auch autistische Phantasie.
11 Kostenlos verfügbar bei Neurodiversity.
Leo Kanner, Alejandro Rodriguez,and Barbara Ashenden (1972) How far can autistic children go in matters of social adaptation? Journal of Autism and Childhood Schizophrenia, 2(1), S. 9—33.
12 Hagner, David; Cooney, Bernard F. (2005). „I do that for everyone“, Focus on Autism and Other Developmental Disabilities, 20, 2, Summer, S. 91-97(7).
13 Rogers, C. (1980) A Way of Being. Houghton-Mifflin, 1980.
14 Bauman, Z. (2005) Liquid Life. Cambridge: Polity Press. ISBN 0-7456-3514-8.
15 Ballastexistenz: Having emotions versus therapizing emotions.
16 Rogers K., Dziobek I., Hassenstab J., Wolf O.T.,Convit A. (2006). Who Cares? Revisiting Empathy in Asperger Syndrome. Journal of Autism and Developmental Disorders, August 12; [elektronische Veröffentlichung vor der Druckversion].
17 Ben Shalom, D.; Mostofsky, S.; Hazlett, R.; Goldberg, M.; Landa, R.; Faran, Y.; McLeod, D.; Hoehn-Saric, R. Normal Physiological Emotions but Differences in Expression of Conscious Feelings in Children with High-Functioning Autism. S. 395-400(6).
18 beispielhafter Beleg: Wendy loves birds and…
19 Um mehr darüber zu lesen, siehe: Wendy Lawson (2006), Friendships the Aspie Way, Jessica Kingsley, London.
Dieser Artikel wurde zuerst auf der Autism2006-Konferenz (AWARES) veröffentlicht.

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Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Dinah Murray, PhD

Dinah Murray ist Autismus-Forscherin und Aktivistin. Sie arbeitete als Tutorin für die Fernstudiengänge über Autismus an der Universität Birmingham und als Assistenz für Menschen mit unterschiedlichen Lernbehinderungen. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und ihre Arbeiten auf zahlreichen Konferenzen weltweit präsentiert. Sie wurde als autistisch eingeschätzt, und wenn sie heute jung wäre, hätte sie sicherlich eine Diagnose.