Die Autismus-Diagnostik ist aufwendig und komplex. Hier beschreibe ich, wie eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum gestellt wird – bei Kindern und bei Erwachsenen.
Diagnosekriterien
In der Zeit nach der Erstbeschreibung von Autismus orientierten Diagnostiker sich an den Beschreibungen der Forscher. Aber die Vorstellungen darüber, wie Autismus sich äußert und wer nun autistisch war und wer nicht, gingen weit auseinander. Um einheitliche Standards zu schaffen, wurden Diagnosekriterien entwickelt: Sie stehen im ICD und im DSM.
Die Diagnosekriterien sind stark abstrahiert. Sie nennen keine konkreten Merkmale wie mit den Händen flattern
, denn kein einzelnes Merkmal findet sich bei allen autistischen Menschen. Statt dessen sprechen die Diagnosekriterien zum Beispiel von stereotypen Verhaltensweisen
. Aber was sind stereotypen Verhaltensweisen
und ab wann ist Verhalten stereotyp? Ab wann ist ein Verhalten klinisch auffällig? Das ist nicht immer einfach zu beantworten, und um das einfacher zu machen, wurden die Diagnosekriterien rückübersetzt
in verschiedene Tests und Beobachtungsskalen, die in der Autismus-Diagnostik verwendet werden.
Autismus-Diagnostik bei Kindern
Verdachtsdiagnose
Wenn Eltern Auffälligkeiten an ihrem Kind erkennen, die sie beunruhigen, ist der erste Ansprechpartner meist der Kinderarzt. Kinderärzte und Allgemeinärzte sind aber nur in seltenen Fällen in der Lage, eine Autismus-Diagnose zu stellen. Was sie tun können, ist, das Kind zu einem Spezialisten zu überweisen.
Der Kinderarzt kann dafür eine Verdachtsdiagnose stellen. Im Prinzip sagt er damit: Es ist wichtig zu untersuchen, ob dieses Kind autistisch ist oder nicht.
Aber der spricht doch!
Leider gibt es immer noch Ärzte, die Autismus nicht in Betracht ziehen werden, wenn das Kind nicht dem Klischee
des autistischen Kindes entspricht, das stumm in einer Ecke vor sich hin schaukelt.
Zudem sind die Auffälligkeiten autistischer Kinder sind oft nicht eindeutig und bei einem kurzem Arztbesuch kaum zu beurteilen.
Der Arzt wird sich unsicher sein.
Der Autismus Deutschland Regionalverband Nord-Ost hat für diesen Zweck die Checkliste Autismusdiagnostik für Kinder und Erwachsene entwickelt: Die Checkliste gibt Ärzten eine rationelle Methode, eine fundierte Autismus-Verdachtsdiagnose zu stellen – zur weiteren Abklärung. Damit kann möglicherweise der Weg zu Diagnose und Unterstützung verkürzt werden.
Alternativ können auch andere Fragebögen verwendet werden, wie zum Beispiel der Q-CHAT für Kleinkinder.
Wie läuft die Autismus-Diagnostik bei Kindern ab?
Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum können nur von erfahrenen Spezialisten gestellt werden. Leider muss man oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen.
Die Diagnostik ist relativ aufwändig. Sie umfasst auch ergänzende Untersuchungen, die nicht direkt zur diagnostischen Abklärung von Autismus dienen, sondern der Abklärung bzw. dem Ausschluss anderer Probleme.
Die Autismus-Diagnostik bei Kindern lässt sich in drei Bereiche einteilen:
- autismus-spezifische Diagnostik
- Intelligenz-und Entwicklungsdiagnostik
- medizinische Diagnostik
Autismus-spezifische Diagnostik
Zur autismus-spezifischen Diagnostik können Screening-Tests gehören – diese stellen keine Diagnose, sondern lediglich eine Verdachtsdiagnose. (Aber auch andere Tests stellen allein keine Diagnose, sondern dienen lediglich als Hilfsmittel zur Diagnosefindung. Die Einschätzung des Diagnostikers ist auch bei diesen standardisierten Methoden der Autismus-Diagnostik sehr wichtig.)
Beispiele für Screening-Tests sind:
- M-CHAT oder Q-CHAT (Modified/Quantified Checklist for Autism in Toddlers), dabei handelt es sich um Elternfragebogen speziell für Kleinkinder. Den Q-CHAT gibt es auch als Online-Test auf unserer Website.
- FSK (Fragebogen zur sozialen Kommunikation), ein aus dem ADI-R abgeleiteter Elternfragebogen
Hier sind drei Beispielfragen aus dem FSK:
- Deutete er/sie jemals spontan auf Gegenstände in seiner/ihrer Umgebung, nur um Ihnen etwas zu zeigen (nicht nur wenn er/sie etwas wollte)?
- Lächelte sie/er im Alter von 4–5 Jahren zurück, wenn jemand sie/ihn anlächelte?
- Gab es jemals Dinge, de er/sie in einer ganz besonderen Weise oder Abfolge machen zu müssen schien, oder gab es Rituale, die Sie für sie/ihn ausführen mussten?
Der Q-CHAT/M-Chat und der FSK dauern jeweils etwa 10-15 Minuten.
Außerdem werden in der autismus-spezifischen Diagnostik folgende standardisierte Methoden zur Untersuchung eingesetzt:
- ADOS (Beobachtungsskala für Autistische Störungen)
- ADI-R (Autism Diagnostic Interview – Revised, Diagnostisches Interview für Autismus – revidierte Version)
ADOS und ADI-R werden oft parallel eingesetzt.
ADOS (Beobachtungsskala für Autistische Störungen)
Der ADOS ist eine standardisierte Beobachtungsskala, um autistische Besonderheiten in der Kommunikation, sozialen Interaktion und im Spielverhalten zu erkennen. Außerdem hilft der ADOS festzustellen, ob eine Person stereotype Verhaltensweisen oder eingeschränkte
Interessen hat. Dabei schafft der Diagnostiker gezielt soziale Situationen, in denen bestimmte Verhaltensweisen mit großer Wahrscheinlichkeit auftreten.
Der ADOS kann ab einem Entwicklungsalter von 18 Monaten eingesetzt werden. Er besteht aus vier verschiedenen Modulen, die jeweils eine halbe bis eineinhalb Stunden dauern. Je nach Alter und Sprachentwicklung wird ein geeignetes Modul ausgewählt:
ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus)
Der ADI-R ist eine ausführliche Befragung der Eltern oder eines Elternteils (oder einer anderen Hauptbezugsperson). Das Kind ist dabei nicht anwesend. Der ADI-R dauert etwa eineinhalb bis vier Stunden.
Abgefragt werden dabei neben autismustypischen Verhaltensweisen (Kommunikation und Sprache, Soziale Entwicklung und Spielverhalten, Interessen und repetitives Verhalten) auch Hintergrundinformationen über Kind und Familie, die frühe Entwicklungsgeschichte, Spracherwerb und Hinweise auf andere Diagnosen.
Kritik an Autismus-Tests
Der ADOS und ADI-R gelten als der Gold-Standard
der Autismus-Diagnostik. Fehlerfrei sind sie aber nicht, wie eine Studie zeigte:
- Manche Kinder mit großen Verhaltensproblemen oder mit geringen kognitiven Fähigkeiten landen im Test über dem Cut-Off-Point (d.h. der Test weist auf Autismus hin), obwohl sie eigentlich nicht im Autismus-Spektrum sind.
- Kinder, die diese Probleme nicht haben, landen manchmal darunter, obwohl sie im Autismus-Spektrum sind.
Der Grund dafür? Wenn ein Kind Dich schlägt, anschreit, zu schüchtern ist, um mit dir zu reden, oder herumrennt und die Möbel umwirft, dann beeinträchtigt das Deine Fähigkeit, erfolgreiche soziale Interaktionen mit dem Kind zu haben. Diese weniger erfolgreichen sozialen Interaktionen spiegeln sich in den Testergebnissen wider. Das ist unabhängig davon, ob ein Elternteil die Interaktionen bewertet, wie es beim ADI-R der Fall ist, oder ein Diagnostiker, der das Kind beobachtet, wie beim ADOS.
Kinder mit geringen kognitiven Fähigkeiten haben oft autistische Züg, wie zum Beispiel Schwierigkeiten mit der sozialen Kommunikation oder repetitives Verhalten. Die Schwierigkeit bei der Diagnose besteht darin zu unterscheiden, ob das Kind autistisch ist und möglicherweise geringe kognitive Fähigkeiten hat oder ob die autistischen Verhaltensweisen durch die geringen kognitiven Fähigkeiten begründet sind. Ein solches Kind kann zum Beispiel repetitive Verhaltensweisen haben, weil es in seiner Entwicklung noch nicht auf der Stufe angelangt ist, wo man funktionales Spielen erwarten kann – nicht, weil es autistisch ist.
Es liegt am Diagnostiker, diese Dinge in die Gesamtbewertung mit einzubeziehen.
Die Erkenntnisse dieser Studie werfen auch die Frage auf, ob die Tests autistische Mädchen und Frauen zuverlässig erkennen – möglicherweise sind sie eher bemüht, alles richtig zu machen, und rutschen so durchs Raster.
Intelligenz-und Entwicklungsdiagnostik
Um das Intelligenzniveau des Kindes festzustellen, kann ein IQ-Test durchgeführt werden. Meistens werden dazu der WPPSI-III, der HAWIK-IV oder der K-ABC eingesetzt, weil sie die Erfassung kognitiver Teilleistungstörungen ermöglichen. Für nonverbale Menschen kann der SON-R-Test verwendet werden.
Für den IQ-Test muss genug Zeit und Ruhe vorhanden sein; die zu testende Person sollte nicht gestresst, verängstigt oder aufgewühlt sein. Jeder IQ-Test setzt voraus, dass die zu testende Person versteht, dass sie die Aufgaben lösen soll und bereit ist, das zu tun. Besonders bei Kindern kann der gemessene IQ
stark davon abhängen, ob sie gerade Lust und Interesse haben, die Aufgaben zu lösen oder nicht. Das Ergebnis sollte daher immer nur als Mindestwert
angesehen werden: Man kann bei einem Intelligenztest schlechter abschneiden als es den tatsächlichen Fähigkeiten entspricht, aber nicht besser.
Wichtig ist auch zu wissen, dass manche IQ-Tests, darunter der HAWIK, die Intelligenz autistischer Menschen unterschätzen. Um den IQ realistisch einzuschätzen, sollte ergänzend oder stattdessen der Raven-Matrizen-Test gemacht werden.
Auch für die allgemeine Entwicklungsdiagnostik gibt es standardisierte Untersuchungen, zum Beispiel Beobachtungsskalen. Damit lässt sich feststellen, ob und in welchen Bereichen Entwicklungsverzögerungen vorliegen. Oft wird auch ein gesonderter Sprachentwicklungs-Test gemacht.
Medizinische Diagnostik
Dazu können zum Beispiel ein EEG, MRT, eine körperliche Untersuchung, eine genetische Untersuchung oder ein Hörtest, unter Umständen auch ein Sehtest gehören. Keine dieser Untersuchungen dient dazu festzustellen, ob ein Kind autistisch ist oder nicht, sie dienen lediglich der Differentialdiagnostik.
Differentialdiagnose und Komorbiditäten
Im Rahmen der Autismus-Diagnose ist es wichtig, andere Diagnosen auszuschließen; das nennt man Differentialdiagnose.
Auffällige Verhaltensweisen sind manchmal schwer zuzuordnen. Wenn ein Kind zum Beispiel (noch) nicht spricht, steht oft der Verdacht auf Autismus im Raum, aber es könnte auch sein, dass das Kind nicht gut hört und deshalb nicht spricht, dass es eine spezifische Sprachentwicklungsstörung hat, mutistisch ist, oder einfach etwas später dran mit dem Sprechen.
In jedem Fall wäre es das Ziel, dem Kind sinnvolle Kommunikation zu ermöglichen. Für die Wahl der Herangehensweise ist es aber entscheidend zu erkennen, was das Problem ist. Plakativ gesagt wird ein schwerhöriges Kind nicht von einer Autismus-Therapie profitieren und ein autistisches Kind keinen Nutzen von einem Cochlea-Implantat haben.
Eben deshalb ist die korrekte Diagnose so wichtig.
Zu den wichtigsten Differenzialdiagnosen, die in der Autismus-Diagnostik bei Kindern zu berücksichtigen sind, gehören ADS und ADHS, Intelligenzminderung, Verhaltensstörungen (zum Beispiel Bindungsstörung), Soziale Phobie, Depression, Sprachentwicklungsstörungen, Hör- und Sehstörungen, Tics, Zwangsstörungen, Rett-Syndrom und Fragiles X-Syndrom.
Manchmal führt die differentialdiagnostische Abklärung auch dazu, dass zusätzlich zu Autismus-Diagnose noch weitere Diagnosen gestellt werden – sogenannte Komorbiditäten.
Ausführliche Informationen zur Autismus-Diagnostik gibt es auch in der Stellungnahme zu Standards der Autismus-Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen
der Projektgruppe Diagnostik des Netzwerkes Autismus Niedersachsen.
Eine Anmerkung noch: In der Realität kann die Diagnostik durchaus anders ablaufen.
Autismus-Diagnose bei Erwachsenen
Autismus bei Erwachsenen zu diagnostizieren, ist nicht einfach. Wir sprechen hier von Personen, die zwanzig, vierzig, oder sechzig Jahre lang niemand als autistisch erkannt hat. Während dieser Zeit haben die meisten gelernt, ihre Schwierigkeiten und Auffälligkeiten zu einem gewissen Grad zu verstecken.
Außerdem ist vielen Menschen nicht bewusst, wie viele Ursachen es geben kann für Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Auffälligkeiten in der Persönlichkeit oder soziale Ängste kommen zunächst genauso als Ursachen in Frage wie Autismus.
Auch hier können Screening-Tests eine erste Einschätzung geben. Sie werden manchmal verwendet, um abzuschätzen, ob eine Überweisung an eine spezialisierte Autismus-Sprechstunde sinnvoll ist.
Wie läuft die Autismus-Diagnostik bei Erwachsenen ab?
Während in der Diagnostik von Kindern spielerische Elemente einen größeren Raum einnehmen, besteht die Diagnostik von Erwachsenen hauptsächlich aus Fragebögen und Interviews.
Die meisten Diagnostiker wollen sehr gern auch mit einem Elternteil reden. Das ist nicht zwingend notwendig, und manchmal auch gar nicht möglich, aber es macht die Diagnose einfacher. Für die Autismus-Diagnose spielt es eine wesentliche Rolle, ob die Besonderheiten schon seit der frühen Kindheit bestanden oder nicht.
Erwachsene erinnern sich oft nicht genau genug daran, und können oft nicht gut abschätzen, wie ihr damaliges Verhalten auf ihre Umwelt wirkte. Das kann auch für das Erwachsenenalter gelten: Manche Menschen im Autismus-Spektrum können ihr Verhalten und ihre Wirkung auf andere nicht gut einschätzen; die Eltern oder andere Bezugspersonen geben dem Diagnostiker eine Außenperspektive. Das kann allerdings ein Problem sein, wenn Eltern (aus Prinzip) darauf bestehen, dass ihr Nachwuchs normal
ist und es schon immer war – in der älteren Generation gab und gibt es viele Vorbehalte gegenüber jeglichen psychischen Auffälligkeiten.
Mögliche Bestandteile der Autismus-Diagnostik bei Erwachsenen:
- Psychiatrische und neurologische Untersuchung
- Befragung zu autismustypischen Eigenheiten und Schwierigkeiten
- Befragung der Eltern oder anderer Bezugspersonen
- Standardisierte Interviews zur Autismus-Diagnostik bei Erwachsenen, zum Beispiel ADOS Modul 4 (siehe oben) oder AAA (Adult Asperger Assessment)
- Selbstbericht-Fragebögen
- Intelligenztest
Nicht alle diese Untersuchungen werden notwendigerweise durchgeführt. Einige Ärzte führen zum Beispiel standardmäßig einen Intelligenztest durch, andere nicht. Man sollte sich davon nicht verunsichern lassen.
Es gibt wohl auch Psychiater, die nach einer dreiviertel Stunde Gespräch die Diagnose Asperger-Syndrom stellen – und zwar praktisch jedem, der zur diesbezüglichen Abklärung in ihre Sprechstunde kommt. Ich will das gar nicht werten, ich stelle nur fest, dass es große Unterschiede gibt.
Differentialdiagnose und Komorbiditäten
Wie bereits erwähnt, können Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen viele Ursachen haben. Im Rahmen der Autismus-Diagnostik muss daher ausgeschlossen werden, dass die Besonderheiten im Verhalten zum Beispiel durch soziale Ängste begründet sind. Den Ausschluss anderer Diagnosen nennt man Differentialdiagnose.
Wichtige Differentialdiagnosen im Erwachsenenalter sind:
- Persönlichkeitsstörungen
- Zwangsstörungen
- Angststörungen
- ADS/ADHS
Manchmal treffen mehrere Diagnosen zu. Ärzt*innen sprechen dann von Komorbiditäten. Die vielen Schwierigkeiten, vor denen autistische Menschen im einer nicht-autistischen Welt stehen, können zum Beispiel zu einer Depression führen. Wenn sowohl Autismus als auch eine Depression diagnostiziert werden, muss die Depression behandelt werden, und zwar unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Person autistisch ist. Zusätzlich sollte Unterstützung bei den autismus-spezifischen Problemen angeboten werden.
Häufige Komorbiditäten im Erwachsenenalter sind:
- Depression
- Angststörungen
- ADS/ADHS
Im Anschluss an die Diagnostik sollten Möglichkeiten der Unterstützung erörtert werden.
Quellen und Literatur
Zuletzt bearbeitet am 29.04.2023.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes.