Wir sind autistisch und das ist gut so.

Falls du in der Schule einen Nachteilsausgleich erhalten hast, haben wahrscheinlich deine Eltern mit der Lehrer*in darüber gesprochen, wo deine Schwierigkeiten liegen und welche Anpassungen oder Unterstützung du brauchst. An der Uni ist das anders – du musst dich selbst vertreten.

Was ist Selbstvertretung?

Selbstvertretung (»self-advocacy«) bedeutet, zu wissen, wann und wie man auf andere zugeht, um die gewünschten Anpassungen auszuhandeln und so gegenseitiges Verständnis und Produktivität zu erreichen.

Selbstvertretung im Studium

An jeder Hochschule gibt es eine Beratung für Studierende mit Behinderung. An diese kannst du dich wenden, um Fragen zu klären oder Probleme zu lösen.

Um diese Unterstützung in vollem Umfang in Anspruch nehmen zu können, ist es jedoch wichtig, dass du für dich selbst eintreten kannst. Auf die Fähigkeit, für dich selbst einzutreten, wirst du im Laufe deines Studiums immer wieder angewiesen sein.

Ob du eine Beratung in Anspruch nimmst, an deine Dozent*innen wendest oder an Gruppenprojekten teilnimmst: In vielen Situationen musst du dir und deinen Bedürfnissen Gehör verschaffen.

Anfangs mag es dir unangenehm und anstrengend erscheinen, für dich selbst einzutreten, aber wie jede Fähigkeit lässt sich auch diese am besten durch Übung und Zeit entwickeln.

Es liegt in deiner Verantwortung, dich bei der Beratung für Studierende mit Behinderung zu melden, wenn du Hilfe brauchst.

Daher ist es wichtig zu wissen, dass es nach deiner Einschreibung an dir liegt, die weitere Kommunikation mit der Beratungsstelle zu initiieren.

Auch in der Beratung selbst musst du für dich eintreten. Das kannst du erreichen, indem du ehrlich mit der Berater*in sprichst. Widerstehe dem Drang, deine Probleme kleinzureden, und erzähle, was dir Schwierigkeiten macht.

Bedenke, dass die Berater*innen keine detaillierten Kenntnisse über jede Behinderung haben können. Sie wissen möglicherweise nicht viel über Autismus.

Und vor allem wissen sie nicht, wie sich Autismus auf dich auswirkt.

Das weißt du selbst am besten.

Wissen hilft, um dich selbst zu vertreten – dazu gehört vor allem auch Wissen über dich selbst.

Es liegt an dir, der Berater*in davon zu berichten – speziell über die Aspekte, von denen du denkst, dass sie dir im Studium Probleme machen könnten.

Es kann auch helfen, wenn du dir unsere Liste von Nachteilsausgleichen im Studium ansiehst und versuchst einzuschätzen, was du brauchst.

Bedenke aber, dass die Liste nicht abschließend ist – vielleicht brauchst du einen ganz anderen Nachteilsausgleich.

Kontakt zu Dozent*innen

Es gibt viele Situationen, in denen du dich an eine Dozent*in wenden musst. Ob du eine Frage zu einer Vorlesung klären willst oder um eine Fristverlängerung für eine Aufgabe bittest – diese Fragen zu stellen, ist ein wichtiger Teil deiner Selbstvertretung.

Der Gedanke mag einschüchternd wirken, aber Dozent*innen sind keine bedrohlichen Menschen; sie sind einfach Menschen, die sich für ein Thema begeistern und ihr Ziel ist es, dir zu helfen, ihre Lehrinhalte zu verstehen.

Die meisten Dozent*innen werden in den ersten Sitzungen ihrer Lehrveranstaltung darauf hinweisen, wie sie Fragen am liebsten beantworten. Das kann per E-Mail, Telefon, persönlich am Ende der Stunde oder in der Sprechstunde sein.

Wenn du eine E-Mail schreibst, solltest du daran denken, dass eine Dozent*in möglicherweise Anfragen von Hunderten von Studierenden zu verschiedenen Themen hat. Mach dir also keine Sorgen, wenn du nicht sofort eine Antwort erhältst.

Hier findest du Tipps zur Kommunikation mit Dozent*innen, Tutor*innen und Mitstudierenden.

Wenn du einen Nachteilsausgleich für eine Prüfung bekommst, musst du wahrscheinlich deine Dozent*in benachrichtigen (in diesem Fall sollte die Beratung für Studierende mit Behinderungen dich darüber informieren).

Informiere deine Dozent*in mindestens ein bis zwei Wochen vor der Prüfung über deine Nachteilsausgleiche, damit sie genügend Zeit hat, sie einzurichten.

In einer Gruppe arbeiten

Bei der Selbstvertretung geht es auch darum, für deine Ideen und Überzeugungen einzustehen.

Je nach Lehrveranstaltung können Gruppenprojekte einen großen Teil der Prüfungsleistungen ausmachen.

Du wirst dich selten in einer Gruppe wiederfinden, in der alle ständig einer Meinung sind. Stattdessen wirst du wahrscheinlich mit einem vielfältigen Team von Leuten zusammenarbeiten, die alle ihre eigene Herangehensweise an die Aufgabe mitbringen.

Das bedeutet, dass es für jedes Gruppenmitglied wichtig ist, seine eigenen Ideen zu vertreten; es sind die Ideen aller Mitglieder zusammen, die dazu beitragen, die Geschichte der Aufgabe zu gestalten.

Um deine eigene Meinung durchzusetzen, brauchst du zwar ein gewisses Maß an Selbstvertrauen, aber dieses Selbstvertrauen wird sich ganz natürlich entwickeln, wenn du weiter an Gruppenprojekten teilnimmst und dich an ihre Funktionsweise gewöhnst.

Solltest du sagen, dass du autistisch bist?

Selbstvertretung hängt eng mit der Frage zusammen, ob du erzählen willst, dass du autistisch bist. Wenn du einen offiziellen Nachteilsausgleich beantragst, brauchst du eine Diagnose und musst diese (zumindest gegenüber der Beratung für Studierende mit Behinderung) offenlegen.

In anderen Situationen, zum Beispiel bei einer Gruppenarbeit, kannst du zum Beispiel sagen, dass du eine bestimmte Beleuchtung nicht ertragen kannst, weil du empfindliche Augen hast.

Generell erfordern Anpassungen meistens eine Begründung, vor allem, wenn sie für andere Menschen unpraktisch oder aus anderen Gründen unerwünscht sind.

Dieses Aushandeln ist Teil des alltäglichen Zusammenlebens.

Es ist deine Aufgabe, deine Bedürfnisse und die Gründe dafür so zu kommunizieren, dass die anderen sie nachvollziehen können.

Hier findest du Überlegungen zu der Frage, ob du dich im Studium als autistisch outen solltest.

Selbstvertretung: Eine Fähigkeit für das ganze Leben

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es bei der Selbstvertretung darum geht,

  • deine Rechte zu kennen,
  • zu wissen, wo du Unterstützung bekommen kannst, wenn du sie brauchst, und
  • die Initiative zu ergreifen, um um Hilfe zu bitten, wenn du sie brauchst.

Das ist ein Prozess, der dich stärkt.

Wenn du anfängst, deine Bedürfnisse zu verstehen und zu lernen, wie du sie am besten kommunizieren kannst, löst du nicht nur die konkreten Probleme, die für dein Leben an der Hochschule relevant sind, sondern du lernst auch, dich und deine Interessen zu vertreten.

Das ist eine unverzichtbare Fähigkeit, die dir noch lange nach deinem Studium zugute kommen wird.

Zuletzt bearbeitet am 01.12.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus