Wir sind autistisch und das ist gut so.

2011 trat eine Änderung der »Versorgungsmedizin-Verordnung« in Kraft. Darin wird unter anderem festgelegt, welchen Grad der Schwerbehinderung Personen im Autismus-Spektrum zugesprochen bekommen.

Autismus GdB: Behindertenausweis

Der Grad der Schwerbehinderung bei Autismus bzw. Asperger-Syndrom war bisher folgendermaßen festgelegt:

Autistische Syndrome
leichte Formen (z. B. Typ Asperger) 50 – 80
sonst 100

Die neue Fassung koppelt eine Behinderung explizit an eine Teilhabe-Beeinträchtigung. Der Grad der Schwerbehinderung bei Autismus/Asperger-Syndrom wird dort wie folgt festgelegt:

Tief greifende Entwicklungsstörungen (insbesondere frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Asperger-Syndrom)
Bei tief greifenden Entwicklungsstörungen

  • ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 10 – 20,
  • mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 30 – 40,
  • mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50 – 70,
  • mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 80 – 100.

Die Kriterien der Definitionen der ICD-10-GM Version 2010 müssen erfüllt sein.
Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regel-Kindergarten, Regelschule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.

Was ist der »Grad der Behinderung«?

Der »Grad der Behinderung« wird in der Verordnung als »das Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft« definiert. Das heißt: Auch bisher war die Anerkennung eines Grads an Behinderung und die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises an eine tatsächliche Beeinträchtigung geknüpft. Die Diagnose Autismus oder Asperger-Syndrom hat noch nie ausgereicht; bei der Beantragung eines Schwerbehindertenausweises muss man möglichst exakt schildern, inwiefern man beeinträchtigt ist. Davon hängt dann ab, welcher Grad der Schwerbehinderung festgesetzt wird.

Man schreibt im Antrag also beispielsweise: Ich kann nicht alleine Bahnfahren, weil … Ich kann nicht alleine zum Arzt gehen, weil … Ich benötige Hilfe bei …. Gerade bei einer Autismus-Diagnose kann das sehr unterschiedlich sein. Und wer bisher in den Antrag geschrieben hat: Ich habe eine Asperger-Diagnose, im Alltag keine Probleme, bin aber ja behindert, bitte schicken Sie den Ausweis an die unten genannte Adresse., der war damit vermutlich nicht allzu erfolgreich.

Das soziale Modell von Behinderung setzt Behinderung nicht mit medizinischen Diagnosen gleich, sondern sieht sie vornehmlich aus gesellschaftlich konstruierten Barrieren hervorgehen. Das heißt: eine autistische Person kann in ihrem Leben stark behindert werden, eine andere mit denselben Stärken und Schwächen jedoch nicht, weil sie in einer anderen Situation lebt. Das soziale Modell von Behinderung wird nicht nur von Wissenschaftler*innen verschiedener Fachrichtungen benutzt, sondern auch von der WHO, auf deren Klassifizierung die Verordnung sich beruft.

Welche Vorteile hat der Schwerbehindertenausweis?

Zunächst einmal dient der Schwerbehindertenausweis lediglich dazu, sich gegenüber Arbeitgebern, Sozialleistungsträgern, Behörden und so weiter als schwerbehinderter Mensch ausweisen zu können.
In einigen spezifischen Situationen kann der Schwerbehindertenausweis Vorteile bringen:

  • Menschen mit Schwerbehindertenausweis bekommen eine Steuerermäßigung (einen steuerlichen Nachteilsausgleich).
  • Menschen mit Schwerbehindertenausweis bekommen zusätzliche Urlaubstage bzw. als Lehrkraft eine Deputatsermäßigung.
  • Menschen mit Schwerbehindertenausweis dürfen nur mit vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt werden.
  • Unter bestimmten Voraussetzungen können Menschen mit Schwerbehindertenausweis für die Fahrten zwischen Arbeitsplatz und Wohnung die tatsächlichen Kosten geltend machen.
  • Behinderte Menschen können eine Steuerermäßigung bei den Kosten für eine Haushaltshilfe bekommen.
  • Menschen mit Schwerbehindertenausweis bzw. ihre Ehegatt*innen können eine Steuerermäßigung bei Heimunterbringung bekommen.
  • Wenn Kinder mit Schwerbehindertenausweis ausschließlich wegen ihrer Behinderung eine Privatschule besuchen müssen (weil es keine geeignete öffentliche Schule gibt), können die Eltern eine Steuerermäßigung bekommen, sofern das Schulgeld die zumutbare Belastung übersteigt.
  • Wenn erwachsene Kinder aufgrund einer Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, können die Eltern weiterhin den Kinderfreibetrag bekommen (bis das Kind 25 wird und unter Umständen auch darüber hinaus).
  • In einigen Schwimmbädern u.ä. bekommen Personen mit Schwerbehindertenausweis eine Ermäßigung. Diese Regelung liegt im Ermessen der Einrichtung und ist nicht gesetzlich vorgeschrieben.

Das mag viel klingen, sieht man aber genau hin, erkennt man, dass es vor allem Steuerermäßigungen sind. Von diesen profitieren nur Personen, die erwerbstätig sind und mit ihrem Einkommen deutlich über dem Freibetrag liegen. Auch vom besonderen Kündigungsschutz profitieren nur Personen im Angestellten-Verhältnis – und vielleicht nicht einmal die: Statistiken der Agentur für Arbeit weisen darauf hin, dass die Gefahr, arbeitslos zu werden, für Behinderte trotz Kündigungsschutz überdurchschnittlich hoch ist. Andere Rechte wie zum Beispiel die kostenlose Fahrt im öffentlichen Nahverkehr oder das Parken auf Behindertenparkplätzen hat man nur mit bestimmten Merkzeichen (zum Beispiel G für gehbehindert, AG für außergewöhnlich gehbehindert).

Kritik an der neuen Regelung

Ein großes Problem sehe ich in dem Satz: Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist. Es gibt keine integrationsunfähigen Menschen; Integration darf keine Anpassung an die Norm voraussetzen. Auch der Verein Autismus Deutschland e.V. kritisiert diesen Satz und verweist auf das Paradigma der Inklusion.

Wichtig wäre es, die Rechte, die auf dem Papier bestehen, auch tatsächlich umzusetzen.

Zuletzt bearbeitet am 23.04.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus