Wir sind autistisch und das ist gut so.

Das Studium ist eine aufregende Zeit, in der man viele Leute trifft. Für autistische Studierende kann es aber schwierig sein, neue Kontakte zu knüpfen.

  • Autist*innen fühlen sich viermal häufiger einsam als nicht-autistische Menschen. Vielen autistischen Erwachsenen fällt es schwer, Beziehungen einzugehen. 
  • 79 % der autistischen Menschen fühlen sich sozial isoliert (Quelle: NAS).
  • Oft fällt es autistischen Menschen schwer, Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu schließen und zu pflegen. Das kann besonders dann der Fall sein, wenn man ein neues Studium beginnt.

Das Studium kann eine große Umstellung sein, vor allem, wenn du von zu Hause wegziehst. Zu Hause hattest du wahrscheinlich ein gewisses soziales Netzwerk, auf das du dich verlassen konntest, zum Beispiel deine Familie, Schulfreund*innen, vielleicht ein Verein. Wahrscheinlich kennst du einige davon schon von klein auf.

Der Studienbeginn bedeutet in der Regel, dass du dich von diesen Netzwerken trennst. Selbst wenn du noch zu Hause wohnst, kann es sein, dass deine Freund*innen in andere Städte wegziehen.

An Hochschulen gibt es viel mehr Studierende als an den meisten anderen Schulen, sodass es schwieriger sein wird, das gleiche Gefühl der Nähe zu finden.

Alles kann sich überwältigend anfühlen. Die Uni ist unübersichtlich, das Studium ist neu, dein ganzer Tagesablauf ist neu, dein Umfeld ist neu, du kennst niemanden.

Es ist aus vielen Gründen wichtig, im Studium Leute kennenzulernen, und einer davon ist, dass es schön ist, Freundschaften zu haben.

Aber wie kommt man dahin?

Hier sind einige Dinge, die du tun kannst, um damit zu beginnen.

Wo lernt man im Studium Leute kennen?

Erstsemester-Tage

In den meisten Studiengängen werden Einführungstage für Studienanfänger*innen angeboten. Zu diesem Zeitpunkt kennen die meisten noch niemanden und sind ebenfalls auf der Suche nach Freundschaften. Überlege dir ein paar Sätze Smalltalk und gehe auf andere zu.

Wenn ihr dasselbe Fach studiert, habt ihr schon etwas gemeinsam. Ihr könnt über euren Studiengang reden oder über die Veranstaltung. Oft kommen im Laufe der Veranstaltung Fragen oder Gedanken auf, die sich als Einstieg ins Gespräch anbieten.

Vor oder nach Lehrveranstaltungen

Ein unkomplizierter Einstieg ins Gespräch ist die Lehrveranstaltung, zum Beispiel die Vorbereitung auf die heutige Vorlesung oder offene Fragen im Nachgang.

Allerdings sind viele Studierende, die sich laut unterhalten und im Flur drängeln, während sie darauf warten, dass der Raum frei wird, sensorisch eine Herausforderung. Wenn dir solche Situationen zu viel Energie rauben, meide sie.

In der Mensa essen

Wenn man nach der Lehrveranstaltung gemeinsam in die Mensa geht, kommt man fast automatisch ins Gespräch. Leider kann auch die Mensa laut sein.

Nimm Angebote der Uni (und Umgebung) wahr

Hochschulen (und auch dein Fachbereich) bieten oft Veranstaltungen, die man besuchen kann und andere Projekte, an denen man mitmachen kann. Sieh, ob es etwas gibt, was dich interessiert. Aus einer längeren Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Projekt können sich Freundschaften entwickeln.

Mitbewohner*innen

Wenn du im Studierendenwohnheim oder einer WG wohnst, ist es eine gute Idee, eine gute Beziehung zu deinen Mitbewohner*innen aufzubauen. Du kannst du das auf verschiedene Weise tun. Ein gemeinsames Essen oder Kaffeetrinken in der ersten Woche oder der gemeinsame Besuch einer Veranstaltung sind ein guter Anfang.

Vielleicht werdet ihr am Ende nicht die besten Freunde, aber sich kennengelernt zu haben und eine funktionierende Kommunikation aufgebaut zu haben, kann schon einen großen Unterschied für das Zusammenleben machen.

Engagiere dich

Liegt dir Klimaschutz am Herzen? Oder fühlst du dich im Hackerspace am wohlsten? Zu vielen Themen gibt es in deiner Stadt Gruppen oder Vereine, bei denen du dich engagieren kannst.

Sport

Sowohl im Hochschulsport als auch im Verein kannst du Leute kennenlernen und Kontakte knüpfen.

Sport ist dir ein Graus? Nur weil du Fußball nicht magst, heißt das nicht, dass du überhaupt keinen Sport magst. Im Hochschulsport findest du in der Regel viele Kurse, die nicht wettbewerbsorientiert sind, sondern eher Gesundheit und persönliches Wohlbefinden in den Vordergrund stellen, zum Beispiel Fitness, Yoga, Rückengymnastik oder Walking-Gruppen.

Diese Kurse sind als Ausgleich zum vielen Sitzen an der Uni sowieso zu empfehlen.

Besonders in kleinen Gruppen, in denen man jede Woche die gleichen Leute trifft, kann man mit anderen ins Gespräch kommen.

Und beim Walking hält man idealerweise eine Geschwindigkeit, bei der man noch genug Puste hat, um sich zu unterhalten – was die Teilnehmenden dann auch tun.

Manchmal gibt es an der Uni auch eher seltene, aber interessante Sportarten wie zum Beispiel Bogenschießen.

Hobbys

Von Skaten über Wandern bis Kirchenchor – Menschen mit einem gemeinsamen Hobby tun sich gern zusammen. Überlege dir, ob es einen Verein oder einen informellen Treff gibt, dem du dich anschließen willst.

Vielleicht willst du auch ein neues Hobby beginnen. Es kann zwar beängstigend sein, zu einer unbekannten Veranstaltung zu gehen, aber wahrscheinlich wirst du dort auch Anfänger*innen finden. Und es ist einfacher, mit Leuten zu reden, wenn ihr beide in einer Situation seid, die ein wenig lächerlich ist und außerhalb eurer Komfortzone liegt. Wenn ihr euch beide auf die gleiche Ebene der Unbeholfenheit begebt, ist es einfacher, gemeinsam zu lachen und ein Gespräch in Gang zu bringen.

Soziale Netzwerke, Messenger und Apps

Soziale Netzwerke ersetzen zwar keine Freundschaften, können aber hilfreich sein, um Kontakte zu knüpfen. Über eine WhatsApp-Gruppe für Studierende aus deinem Fachbereich (und deiner Uni) können zum Beispiel informelle Informationen über gemeinsame Aktivitäten oder Veranstaltungen geschrieben werden.

Andere autistische Menschen

Der Kontakt mit anderen autistischen Menschen tut in der Regel gut. Es ist hilfreich, Menschen zu treffen, die deine Stärken und Schwierigkeiten kennen, die deine »Macken« verstehen, weil sie sie auch haben, und die dir zuhören und sich Gedanken um dich machen. In vielen Städten gibt es Selbsthilfegruppen für Autismus, manchmal auch direkt an der Uni.

Wie kommt man in Kontakt?

Hier sind ein paar Tipps, die dir dabei helfen können, neue Kontakte zu knüpfen und diese (wenn du möchtest) während der gesamten Studienzeit aufrechtzuerhalten:

  • Es kann hilfreich sein, soziale Kontakte in deine Wochenplanung miteinzubeziehen, sodass du weißt, wann du dich mit bestehenden Freund*innen triffst oder neue Leute kennenlernen kannst, zum Beispiel wenn du eine neue Gruppe ausprobierst oder zu einer Veranstaltung an der Hochschule gehst.
  • Konzentriere dich auf die Orte, an denen es möglich ist, neue Leute zu treffen. Probiere die neue Gesellschaft aus, gehe zu Veranstaltungen, bei denen du Menschen mit ähnlichen Interessen treffen könntest.
  • Übe ein wenig Small Talk, bevor du eine Veranstaltung besuchst. Das kann helfen, deine Ängste abzubauen.
  • Wenn du deine Zeit genau einteilst, kannst du dich mit neuen Leuten treffen und fühlst dich weniger »gefangen«. Wenn du sagst: »Lass uns vor meinem Kurs um 14 Uhr einen Kaffee trinken gehen«, hast du einen Grund zu gehen, falls du dich unwohl fühlst. Wenn es gut läuft, wirst du dich beim nächsten Mal wohler fühlen.
  • Wenn du Menschen mit den gleichen Interessen triffst, kannst du eine Liste mit Themen, Fragen und Geschichten erstellen, über die du dich unterhalten kannst.
  • Setze dich zu jemandem in deinem Kurs, den du noch nicht kennst, und stelle dich ihm vor. Du könntest die Person bitten, dir einen Aspekt aus dem Kurs zu erklären, den du nicht verstanden hast, oder sie nach ihrer Meinung zum Studium fragen.
  • Ausgehend von den verschiedenen Situationen könntest du dir einen Verbündete*n suchen, der dir hilft. Das kann eine Freund*in oder eine Studienassistenz sein. Sie könnten dir helfen, einen Aktionsplan zu entwickeln, der dir hilft, die verschiedenen Situationen zu bewältigen.
  • Suche dir jemanden, der allein in der Mensa, im Café oder im Fachschaftsraum sitzt, und stelle dich vor. Du kannst ein Gespräch beginnen, indem du nach der Meinung oder dem Rat der anderen Person fragst oder dich nach einem bestimmten Ereignis erkundigst.
  • Gute Gespräche beginnen damit, dass man dem anderen zuhört und dann angemessen antwortet, ohne zu versuchen, das Gespräch zu übernehmen.
  • Versuche, dir Namen und Gesichter zu merken.
  • Sei du selbst. In einer Freundschaft willst du nicht ständig vorspielen müssen, dass du anders wärst, als du bist.

Erfahrungen autistischer Studierender

Jules Erfahrungen

»Ich hatte erwartet, dass ich mich leicht in studentische Aktivitäten einbringen könnte, und habe mich aus Angst, neue Leute zu treffen, in meinem Zimmer versteckt. Von dem Moment an, als ich hier ankam, wollte ich unbedingt bei der Fachschaftsarbeit mitmachen. Ich ging zu einem Treffen, und obwohl ich sehr freundliche und gesprächige Leute traf, verbrachte ich die ganze Zeit damit, mich selbst kritisch zu beobachten, mich zu fragen, ob ich es richtig mache, und zu hinterfragen, ob ich die Leute davon überzeugen kann, dass ich ’normal‹ bin.«

Jeromes Erfahrungen

»Wenn man im ersten Semester an der Universität keine Freunde findet, sollte man sich vor allem daran erinnern, dass man nicht allein ist. Wir waren alle einmal in der Phase, in der wir das Gefühl hatten, dass wir die Einzigen waren, die Schwierigkeiten hatten, Freunde zu finden.

Bei mir war das besonders der Fall, weil ich das Asperger-Syndrom habe, eine Form des Autismus. Das bedeutet, dass ich Probleme damit habe, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu schließen. Trotz der damit verbundenen Herausforderungen habe ich jetzt eine ganze Reihe von Freunden.«

Stefs Erfahrungen

»Ich habe Leute durch das Theaterspielen kennengelernt, durch LARPs, durch Rudern, durch Feminismus, durch LGBTQ-Aktivitäten.«

Louises Erfahrungen

»Sei selbstbewusst und sei du selbst.

Der Gedanke, eine neue Person anzusprechen, kann beängstigend sein, aber sobald du eine Community gefunden haben, wirst du dich dich viel besser fühlen.

Geh auf die Person zu und stelle dich vor: »Hallo, ich heiße Peter« oder »Es wäre toll, wenn wir uns kennenlernen würden, ich heiße…«, und die Person wird in der Regel antworten. Wenn du die Person besser kennengelernt hast, könnt ihr nach einiger Zeit vielleicht Nummern austauschen oder euch gegenseitig in den sozialen Medien hinzufügen, um in Kontakt zu bleiben.

Schick aber nicht jeden Tag Nachrichten, denn das kann die andere Person abschrecken. Schick eine Nachricht und schau, ob die andere Person dir eine zurückschickt. So zeigst du, dass du ein guter Freund bist, ohne die andere Person zu sehr unter Druck zu setzen.

Schreib einem Freund eine SMS oder ruf ihn an, um eine Verabredung zu vereinbaren. Wenn du beim ersten Mal keine Antwort erhältst, ist er vielleicht beschäftigt, aber mache dir keine Sorgen. Hinterlasse eine Nachricht und warte ein paar Tage, um zu sehen, ob er sich zurückmeldet, sonst könnte es so aussehen, als würdest du ihn belästigen.

Wenn die Person sich nicht zurückmeldet, kannst du eine weitere Nachricht schicken, um die Angelegenheit zu klären. Wenn das immer noch nicht klappt, lass die Nachricht einfach liegen und warte ab, ob sie sich meldet.«

Marcos Erfahrungen

»Eine der Methoden, die ich angewandt habe, bestand darin, mit einer Tüte Süßigkeiten herumzulaufen, die ich mit anderen Studenten teilen konnte. Das gab mir so viele Gelegenheiten, mit vielen verschiedenen Leuten zu sprechen, von denen einige jetzt meine Freunde sind.«

Jakobs Erfahrungen

»Ich mag keinen Smalltalk, aber ich weiß, dass er manchmal notwendig sein kann.

Ich habe einige Skripte, die ich im Voraus vorbereite, damit ich weiß, was ich sagen muss, wenn ich zum Beispiel zu Vorträgen komme oder zu einem Abend eingeladen werde.

Wenn ich das nicht tue, kann die Angst überhand nehmen und ich breche einfach zusammen.

Als Autisten haben wir eine andere Sprache – eine andere Herangehensweise an alles -, aber wenn man neue Leute trifft, muss man ihnen irgendwann seine Lieblingsfarbe sagen, um am Ball zu bleiben.

Aber solange man das Ziel nicht aus den Augen verliert, nämlich langfristige Freundschaften zu schließen und Spaß zu haben, wird man schon die richtigen Leute finden.

Achte aber darauf, dass es Menschen sind, die sowohl geben als auch nehmen und die versuchen, die Dinge auch aus deiner Sicht zu betrachten. Suche dir Menschen, bei denen du ganz du selbst sein kannst; das ist das Gesündeste, was du in einer neuen Umgebung tun kannst.

Zuletzt bearbeitet am 01.12.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus