Wir sind autistisch und das ist gut so.

Ein Studium kann für Menschen im Autismus-Spektrum sehr wertvoll und bereichernd sein. Aber es ist auch eine Herausforderung.

Der Wechsel an die Universität bringt eine Kombination von Faktoren mit sich, die zu psychischen Problemen führen können: eine neue Umgebung und Veränderung der täglichen Routine, neue akademische Anforderungen, mehr Selbstverantwortung und unter Umständen ein Bruch der gewohnten Wohlfühlrituale und Unterstützungssysteme.

Deshalb ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass es uns während unserer Studienzeit gut geht. 

Das Internet ist voll von Vorschlägen, wie man sich vorbeugend um seine psychische Gesundheit kümmern kann, aber mit vielem davon können Autist*innen nicht viel anfangen.

Kürzlich untersuchte eine Studie die Faktoren, die nach Ansicht autistischer Menschen ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen. Dabei wurden mehrere Schlüsselfaktoren identifiziert, die für die psychische Gesundheit autistischer Menschen wichtig sind. Auf dieser Grundlage findest du hier sechs wesentliche Tipps, die autistischen Studierenden helfen können, ihre psychische Gesundheit während des Studiums zu erhalten.

1. Verringere die Ungewissheit

Der beängstigendste Aspekt des Studienbeginns kann die Ungewissheit sein, was auf einen zukommt. Es kann überwältigend sein – neue Leute, neue Fächer, neue Lehrer, neuer Zeitplan, die Liste ist endlos. Es kann helfen, so viele Unbekannte wie möglich zu beseitigen. Setz dich mit deinen Dozenten in Verbindung, wenn etwas nicht klar ist. Die meisten werden dir gerne helfen, vor allem, wenn sie wissen, dass sie dir damit die Angst nehmen können.

2. Finde deine Leute

Das Gefühl, dazuzugehören und akzeptiert zu werden, ist sehr wichtig für unsere psychische Gesundheit. Leider wird autistischen Menschen oft das Gefühl gegeben, ein Außenseiter zu sein, und sie fühlen sich daher nicht immer zugehörig. Deshalb ist es wichtig, einen Ort zu finden, an dem du dich akzeptiert fühlst.

In vielen Städten gibt es Autismus-Gruppen für Erwachsene, und die Forschung zeigt, dass der Kontakt mit anderen autistischen Menschen für Autisten wichtig ist.

Außerdem solltest du nach Menschen mit ähnlichen Interessen suchen. Für autistische Menschen ist es oft einfacher, Kontakte über gemeinsame Interessen zu knüpfen, sei es in einem Hacker-Café, einer Lese-Runde zu Foucault oder einem Gemeinschaftsgarten. Auch gemeinnütziges Engagement, Aktivismus oder andere gemeinsame Projekte können helfen, Kontakte zu knüpfen und Freunde zu finden.

Solche Gruppen kannst du an der Uni oder anderswo in der Stadt finden – verwende eine Suchmaschine, um herauszufinden, was in deiner Umgebung passiert.

3. Vermeide es, etwas zu vermeiden

Das gilt für alle: Wenn wir uns ängstlich fühlen, ist unsere automatische Reaktion, die Situation zu vermeiden oder ihr zu entkommen. Wenn wir diesem Drang nachgeben, bestärken wir uns in dem Glauben, dass wir die Situation nicht bewältigen können, und wenn sie das nächste Mal auftaucht, erscheint sie uns noch beängstigender.

Wenn du also das nächste Mal einen Anflug von Angst vor etwas verspürst, versuche es trotzdem zu tun!

Allerdings kann es sein, dass dir manche Dinge im Moment wirklich zu viel werden. In solchen Situationen solltest du dich langsam an die Sache herantasten. Wenn du zum Beispiel zu einer Fachschafts-Party gehen willst, es dir aber im Moment unmöglich erscheint, musst du dich nicht ins kalte Wasser stürzen. Überlege dir, wie du Woche für Woche kleine Schritte machen kannst, um dein Selbstvertrauen zu stärken. Diese Woche könntest du zum Beispiel einem Mitstudierenden eine Frage zu einer Aufgabe stellen, nächste Woche könntest du ein kurzes Gespräch mit einer Mitstudierenden über das Wochenende führen; mach immer wieder diese kleinen Schritte, bis du dich in der Lage fühlst, zur Fachschafts-Party zu gehen.

4. Verstehe, was für dich normal ist

Um zu wissen, wann deine psychische Gesundheit leidet, musst du wissen, was dein Normalzustand ist. Psychische Probleme können sich bei autistischen Menschen anders darstellen als bei nicht-autistischen Menschen, was bedeutet, dass sie von anderen (auch von Fachleuten!) oft unbemerkt bleiben. Deshalb ist es für autistische Erwachsene besonders wichtig, zu wissen, was für sie normal ist: Wie verhältst du dich, wenn es dir gut geht? Woran merkst du, dass es dir schlecht geht?

5. Nimm dir Zeit für deine Interessen

Es ist zwar wichtig, dich vor psychischen Problemen zu schützen, aber genauso wichtig ist es, eine positive psychische Gesundheit zu fördern. Zeit für Dinge zu haben, die dir Spaß machen, ist eine gute Möglichkeit, dies zu erreichen. Das gilt noch mehr für autistische Menschen, die oft intensive Interessen haben, die ihnen Spaß und Entspannung bringen. Auch wenn das Studium wahrscheinlich einen vollen Terminkalender mit sich bringt, solltest du dir regelmäßig Zeit für Aktivitäten nehmen, die dir Spaß machen!

6. Suche dir Hilfe, wenn du sie brauchst

Die obigen Tipps sind für autistische Studierende gedacht, die noch keine psychischen Probleme haben (und es vermeiden wollen, welche zu bekommen). Wenn du vermutest, unter psychischen Störungen wie Angststörungen, Depressionen oder anderem zu leiden, such dir psychotherapeutische Hilfe.

Die oben genannten Tipps sind dann zwar auch noch wertvoll, aber du wirst möglicherweise nicht mehr in der Lage sein, sie ohne Unterstützung umzusetzen. Es ist völlig in Ordnung und sehr wichtig, sich bei psychischen Problemen Hilfe zu holen.

Hochschulen bieten meistens eine psychologische Beratung für Studierenden an, die aber nur eine Erstberatung leisten kann. Wenn du mehr Unterstützung brauchst, ist eine Psychotherapie sinnvoll.

6 Tipps zur psychischen Gesundheit für Menschen im Autismus-Spektrum

Zuletzt bearbeitet am 10.05.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus