Wir sind autistisch und das ist gut so.

Wenn nicht-autistische Kinder gefragt werden, was ihr Lieblingsfach ist, sagen viele: die Pause! Die meisten Kinder lieben die Pause. Sie können machen, was sie wollen, dürfen laut sein und müssen nicht mehr stillsitzen.

Für Schüler*innen im Autismus-Spektrum sind gerade Pausen und andere unstrukturierte Zeiten in der Schule oft besonders schwierig. Hier zeige ich Gründe dafür und Möglichkeiten, wie Eltern und Schule helfen können.

Warum sind unstrukturierte Zeiten so schwierig?

Es gibt mehrere Gründe, warum autistische Kinder und Jugendliche oft Probleme mit Pausen, Mittagspausen und anderen unstrukturierten Zeiten haben.

Sensorische Gründe

Nach dem Pausengong bricht oft das Chaos los: Lärm brandet auf, eine Menge Schüler*innen stehen auf und bewegen sich mehr oder weniger unstrukturiert durchs Klassenzimmer und die Schule. Oft schubsen sie sich – ob absichtlich oder versehentlich. Ein Kind packt ein stinkendes Käsebrot aus.

Im Unterricht gibt es einen klaren Fokus. Dich auf etwas fokussieren zu können, ermöglicht es vielen Autist*innen, andere Reize zu einem gewissen Grad auszublenden. In den Pausen fällt dieser Fokus weg. Während nicht-autistische Schüler*innen es genießen, sich auf nichts konzentrieren zu müssen, strömen auf das autistische Kind alle Reize ungefiltert ein.

Soziale Gründe

In der Freizeit schließen Kinder Freundschaften und bilden Gruppen. Das erfordert viele soziale Fähigkeiten, die ein autistisches Kind oft (noch) nicht hat, zum Beispiel:

  • das Verhalten von Nicht-Autist*innen zu verstehen
  • Gruppendynamiken erkennen; verstehen, zu welcher Gruppe man sich dazusetzen kann
  • Anspielungen verstehen und mit einem geeigneten Spruch reagieren
  • verstehen, was in und was out ist
  • in der lauten Umgebung hat ein autistisches Kind vielleicht Schwierigkeiten zu verstehen, was die anderen sagen

Diese Schwierigkeiten können zu Ausgrenzung und Mobbing führen. Die meisten Mobbing-Vorfälle ereignen sich in den Pausen (einschließlich der Mittagspause) und werden keiner Lehrkraft gemeldet. Eltern erfahren möglicherweise nichts davon, weil autistische Kinder oft nicht darüber sprechen können oder wollen, wie sie sich fühlen.

Und Pausen sind, sowohl auf sozialer als auch auf sensorischer Ebene, unvorhersehbar. Für autistische Schüler*innen ist das sehr belastend.

Pausen, die eigentlich als Entspannung im Schultag eingeplant sind, sind für autistische Schüler*innen harte Arbeit.

Was kann man tun?

Hier sind einige Ideen, die du ausprobieren oder der Schule vorschlagen kannst, damit sich dein Kind in den Pausen und in der Mittagspause in der Schulumgebung wohler fühlt.

Eine offene und unterstützende Haltung der Schule hilft bei der Umsetzung enorm.

Frage das Kind

Bevor du Pläne machst, was für dein Kind sinnvoll sein könnte, sprich mit ihm. Dabei kannst du genauer herausfinden, wo seine Probleme liegen. Zum Beispiel: Wünscht es sich mehr soziale Kontakte und Freundschaften mit Mitschüler*innen? Oder will es einfach seine Ruhe? Wie würde eine ideale Pause für dieses Kind aussehen?

Die Kinder haben oft auch konkrete Vorstellungen, wie sie ihre Pause gern verbringen würden. Vielleicht möchte ein Kind gern in der Schulbibliothek sitzen und seine Hausaufgaben machen oder an seinem Tablet spielen. Ein anderes Kind möchte vielleicht Tischtennis spielen, traut sich aber nicht, auf die anderen Kinder zuzugehen, die dort jede Pause spielen.

Autist*innen finden soziale Interaktion oft anstrengend. Deshalb sollten sie immer selbst entscheiden können, ob sie gerade mit anderen interagieren wollen oder lieber Zeit alleine verbringen wollen.

Manchmal brauchen autistische Kinder Sonderregelungen für die Pausenzeiten (z.B. die Erlaubnis, sie drinnen zu verbringen) oder Unterstützung (z.B. eine Schulassistenz).

Ein sicherer und ruhiger Ort

Für autistische Kinder und Jugendliche ist es nützlich, einen vereinbarten sicheren und ruhigen Ort zu haben, an den sie gehen können, wenn sensorisch überlastet sind. Das kann ein ruhiger Bereich der Schule sein, die Schulbibliothek oder ein Hausaufgabenraum.

  • Um zu vermeiden, dass Stigmatisierung an diesen Ort gebunden ist, ist es hilfreich, einen Bereich auszuwählen, der viele allgemeine Verwendungszwecke hat. Sprich mit der Schule, um herauszufinden, ob sie einen Bereich für dein Kind anpassen können und ob dieser Bereich auch zu Beginn und am Ende des Schultages genutzt werden kann.
  • Autistische Schüler*innen haben dieselben Bedürfnisse wie alle anderen auch. Zum Beispiel wollen sie in der Pause vielleicht etwas essen. Auch das muss möglich sein; in der Schulbibliothek ist Essen oft verboten.
  • Es ist wichtig, dass autistische Schüler auch die Möglichkeit (nicht den Zwang) haben, sozial mit anderen umzugehen. Der ruhige Ort sollte das Kind nicht isolieren.
  • Der ruhige Ort sollte auch keine Rechtfertigung sein, um in anderen Bereichen der Schule keine Verbesserungen anzustreben.
  • Die Nutzung des Ortes sollte regelmäßig evaluiert werden: Erfüllt er seinen Zweck? Kann etwas angepasst werden? Oder haben sich die Bedürfnisse des Kindes verändert?

Mittagsclubs

In manchen Schulen werden zur Mittagspause Aktivitäten angeboten. Oft sind es Bewegungsspiele oder Sport, seltener auch Umweltgruppen, Kunstclubs oder anderes.

Lass das Kind ausprobieren, ob es Interesse hat, daran teilzunehmen, und prüfe, ob dafür Anpassungen oder Unterstützung nötig sind. Zwinge dein Kind aber nie dazu.

Soziale Interaktion

Ist es ein Problem, wenn ein autistisches Kind in der Pause immer allein ist? Das kann ein Problem sein, muss aber nicht. Es kommt ganz darauf an, wie das Kind das empfindet.

Auch im Unterricht gibt es viele soziale Anforderungen, und manche Kinder brauchen in der Pause einfach mal… eine Pause davon. Wenn sie damit zufrieden sind, ist das völlig in Ordnung.

Besonders in der Pubertät interessieren sich nicht-autistische Jugendliche oft für komplett andere Themen (Stars, Fußball, wer mit wem…) als autistische Jugendliche. Die Pausen sind deshalb für autistische Jugendlich nicht automatisch interessante Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen.

Auch autistische Schüler*innen, die gerne Freundschaften schließen würden, wollen nicht zwangsläufig mit Leuten aus ihrer Schulklasse befreundet sein.

Bitte bedenke das und frage das Kind, wie es die Situation empfindet, bevor du intervenierst.

Natürlich gibt es auch Kinder, die sich freundschaftliche Kontakte wünschen, denen es aber schwerfällt, mit anderen in Kontakt zu kommen.

Schulassistenz

Manche Kinder haben eine Schulassistenz (Schulbegleitung). Gerade in Pausen kann diese wichtig sein:

  • Manche autistische Kinder brauchen Unterstützung, um Overloads zu vermeiden.
  • Manche wollen gern mit anderen Kindern interagieren und brauchen Unterstützung dabei.
  • Für manche autistischen Schüler*innen sind Pausen ohne Unterstützung so aufreibend, dass sie sich danach nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren können.
  • Viele Schulen können nicht gewährleisten, dass nicht gemobbt wird.

Soziales Verständnis

Autistische Kindern und Jugendlichen verstehen oft die sozialen Aspekte des Geschehens nicht. Deshalb sind für sie viele Situationen unberechenbar, anstrengend und auch angsteinflößend.

Man sollte sie damit nicht allein lassen. Ähnlich wie andere Kinder Nachhilfe in Mathe bekommen, kann man autistischen Kindern soziale Aspekte des Alltags erklären – ohne Anpassungsdruck.

Wenn Kinder verstehen, warum andere sich in einer bestimmten Weise verhalten, kann ihnen das in der Situation viel Stress und Angst nehmen.

Außer Gesprächen gibt es weitere Möglichkeiten:

  • Soziale Lerngeschichten (Social Stories) und Comic-Gespräche (Comic Conversations)
  • Soziales Kompetenztraining (ich sehe das zwar kritisch, aber nicht alle sozialen Kompetenztrainings sind schlecht.)
  • Theaterkurse (wenn ein Kind Spaß daran hat, können sie nützlich sein)

Visuelle Unterstützung

Autistische Kinder können visuelle Unterstützung als Hilfsmittel verwenden.

Zum Beispiel können sie eine Karte haben, die zeigt, was sie während der Pause machen können, oder die sie daran erinnert, an einen sicheren und ruhigen Ort zu gehen, wenn es ihnen zu viel wird.

Eine Stress-Skala kann autistischen Kindern und Jugendlichen helfen, die Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu verstehen und zu kommunizieren. Das kann ein Ampelsystem sein, ein Thermometer oder eine Skala von 1 bis 5, das Emotionen als Farben oder Zahlen darstellt.

Mobbing

Schulen sollten eine Null-Toleranz-Richtlinie gegen Mobbing haben, die konsequent durchgesetzt wird. Jeder Mobbing-Vorfall muss untersucht werden, und die Schüler*innen sollten ermutigt werden, einschüchterndes Verhalten zu melden. Dein Kind sollte sich wohl fühlen, wenn es über Mobbing spricht, und darauf vertrauen, dass Maßnahmen ergriffen werden.

Einige autistische Kinder und Jugendliche erkennen Mobbing möglicherweise nicht. Daher ist es wichtig, dass das Lehr- und Unterstützungspersonal das Verhalten im und außerhalb des Klassenzimmers beobachtet.

Schulassistenzen können häufig einen Vorfall bemerken oder Bemerkungen anderer Schüler hören und sollten diese dokumentieren, um sie Lehrkräften und Eltern mitzuteilen. Auch eine gute Pausenaufsicht ist unerlässlich.

Soziale Kontakte fördern

Für Schüler*innen im Autismus-Spektrum kann es sehr schwierig sein, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Viele von ihnen wollen das aber prinzipiell gern.

Es kann autistischen Kindern und Jugendlichen helfen, in unstrukturierten Zeiten einen »Buddy« zu haben. Dies kann ein gleichaltriges Kind sein, das regelmäßig oder manchmal mit dem autistischen Kind die Mittagspause verbringt.

Die Schule könnte eine bestimmte Bank oder einen bestimmten Bereich auf dem Spielplatz als Buddy-Bank identifizieren. Das kann Spielplatz-Buddys helfen, Kinder und Jugendliche zu identifizieren, die Hilfe benötigen, um mit anderen zu interagieren.

Es ist wichtig, dass dein Kind weiß, an welche Erwachsene in der Schule es sich bei Problemen wenden kann und wo es diese findet. Gut ist es, wenn mehr als eine Person dafür zur Verfügung stehen, weil jeder Mensch hin und wieder ausfällt.

Erfahre mehr über Mobbing.

Verständnis und Akzeptanz

Prinzipiell ist es wünschenswert, dass alle Kinder ein gewisses Verständnis für verschiedene Behinderungen entwickeln – natürlich auch für Autismus. Leider mangelt es oft an der Umsetzung. Weil Behinderung immer noch ein Stigma ist, sollte man sensibel vorgehen.

  • Man kann der Schulklasse Informationen zu verschiedenen Behinderungen geben, ohne dass eine bestimmte Behinderung oder bestimmte Schüler*innen besonders hervorgehoben werden.
  • Sprich vorher mit dem autistischen Kind oder Jugendlichen über deine Pläne und beziehe sie*ihn auch in die Umsetzung mit ein.
  • Überlege genau, welche Informationen über Autismus in diesem Kontext relevant sind, verwende kein pathologisierendes Material, und keines, das Autist*innen als Freaks darstellt. Frage im Zweifelsfall autistische Menschen selbst.

Zuletzt bearbeitet am 07.06.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus