Wir sind autistisch und das ist gut so.

An der Uni läuft vieles anders als an der Schule, und die Verhaltensnormen und Erwartungen an Studierende unterscheiden sich je nach Art der Lehrveranstaltung.

Die Informationen in unserem Uni-Knigge helfen dir dabei, zu verstehen, was eine Vorlesung oder ein Tutorium beinhaltet.

Vorlesungen

Es kann schwierig sein, dir eine Vorlesung vorzustellen, bevor du nicht selbst an einer teilgenommen hast. Die Erfahrung kann eine ganz andere sein, als in der Schule in eine Klasse zu gehen oder einen öffentlichen Vortrag zu besuchen, da sich die Menschen in diesen Umgebungen anders verhalten.

In Vorlesungen an Hochschulen werden ganz andere Erwartungen gestellt, und in vielen Fällen wird die Dozent*in nicht nachfragen, ob du die vorgeschriebenen Kursarbeiten erledigt oder im Unterricht aufgepasst hast.

Vorlesungen sind unterschiedlich aufgebaut, je nachdem, welche Art von Kurs du belegst und was der Inhalt des Kurses ist. Manche Vorlesungen haben ein formelles, traditionelles Format, bei dem die Dozent*in vorne im Hörsaal steht oder hin- und hergeht, durch eine PowerPoint- oder Videopräsentation spricht und einen Einblick gibt, wie er*sie das Thema sieht. In diesem Rahmen gibt es wenig bis gar keine Beiträge von den Studierenden selbst, es sei denn, die Dozent*in fragt aktiv danach.

Es kann sein, dass deine Dozent*innen dich nicht darauf hinweist, dass du dir Notizen machen sollst, wenn sie etwas Wichtiges sagen, und dass sie die Vorlesung nicht unterbrechen, um dir die Möglichkeit zu geben, Informationen von den Folien abzuschreiben oder zusätzliche Notizen zu machen.

In manchen Vorlesungen benutzt die Dozent*in auch ein Whiteboard oder eine Kreidetafel, auf der Informationen stehen, die nicht auf den Folien zu finden sind. Dann musst du versuchen, mit dem Stil der Dozent*in Schritt zu halten und entscheiden, welche Informationen du dir notieren musst.

Wenn du Glück hast, sind die Folien im Internet abrufbar.

Laborkurse, Seminare, Übungen und Tutorien

Im Gegensatz dazu sind Laborkurse, Seminare, Übungen und Tutorien Kurse, mit denen Studierende ihr Verständnis für ein bestimmtes Thema vertiefen können, indem sie das in der Vorlesung Gelernte zu diskutieren und das erworbene Wissen praktisch anwenden.

Diese Kurse können dir auch die Möglichkeit geben, dich in ein Thema, das dich interessiert, weiter einzulesen, dich mit dem Kursmaterial auseinanderzusetzen oder Teile der Vorlesung zu klären, die dich vielleicht verwirrt haben.

Sie können auch eine Gelegenheit sein, deine Mitstudierenden besser kennenzulernen.

Tutorien werden meistens von älteren Studierenden oder Promovierenden geleitet. Die Struktur und der Inhalt eines Tutoriums hängen davon ab, wie weit du im Modul fortgeschritten bist, und auch von der Tutor*in, aber es kann Folgendes beinhalten:

  • Eine Diskussion über die Themen, die in der letzten Vorlesung oder in der von der Dozent*in zugewiesenen Lektüre für die Klasse angesprochen wurden;
  • Aktivitäten, die darauf abzielen, dein Verständnis für das in der Vorlesung angesprochene Thema zu verbessern;
  • Arbeit an praktischen Problemen oder Gruppendiskussionen über das Thema;
  • Unterstützung und Anleitung bei der Bewältigung von Aufgaben oder Prüfungen;
  • Gesprächspunkte aus der letzten Aufgabe (wie die Aufgabe aussieht oder welche Fragen sie aufwirft)
  • Unterschiedliche Methoden zum Lernen des Kursmaterials
  • eine Möglichkeit, sich informell mit Mitstudierenden und Tutor*innen auszutauschen, wenn du dich dabei wohlfühlst.

Die Einteilung der Übungen und Tutorien kann sich je nach Kurs und Universität ändern. In einigen Modulen wird dir nach dem Zufallsprinzip eine Gruppe zugewiesen, mit der du die Tutorien während des Semesters belegst, in anderen musst du einen Termin für das ganze Semester buchen, während du in anderen Modulen eine Reihe von Optionen hast und dir eine Tutoriumszeit aussuchen kannst, die am besten passt.

Was bedeutet es für mich, zu den Vorlesungen zu gehen?

Mit dem Tempo der Dozent*in mitzuhalten, sich Notizen zu machen, in einer großen Gruppe von Studierenden zu sein und mit all den sensorischen Reizen umzugehen, die mit dem Besuch eines Hörsaals verbunden sind, kann eine herausfordernde – und manchmal auch lohnende – Erfahrung sein.

In einer Vorlesung hast du die Gelegenheit, von einer Expert*in etwas über ein Thema zu hören, dass dich (hoffentlich) interessiert, und ihre Sichtweise auf das Thema zu erfahren.

Die Anforderungen an soziale Interaktion sind minimal, in einer Vorlesung wird im Allgemeinen keine Beteiligung erwartet.

Vorlesungen finden in großen Räumen, sogenannten Hörsälen, statt. Hörsäle können unterschiedlich groß sein – wenn sehr viele Studierende das Fach belegen, wird es in einem sehr großen Hörsaal stattfinden.

Es kann sein, dass sich im Hörsaal Studierende befinden, die einen anderen Studiengang oder eine andere Fachrichtung studieren, aber das gleiche Modul belegen (z.B. Statistik).

Wie läuft ein Tutorium ab?

Im Gegensatz dazu finden Tutorien in der Regel in kleinen Gruppen und kleineren Klassenzimmern statt. Viele Studierende mögen Tutorien, weil der Kontakt zu den Tutor*innen meist entspannter ist als zum Professor, und sie weniger Scheu haben, Fragen zu stellen.

Für autistische Studierende kann die soziale Interaktion eine Herausforderung sein – in manchen Tutorien muss man sich an Gruppendiskussionen über den Stoff beteiligen.

Es kann schwieriger sein, um Anpassungen zu bitten, wenn du weißt, dass es sich um einen Raum voller bekannter Gesichter handelt und nicht um einen Hörsaal mit Hunderten von Menschen.

Wenn du mit einem Aspekt des Tutoriums Schwierigkeiten hast, kann es sinnvoll sein, sich persönlich oder per E-Mail mit deiner Tutor*in in Verbindung zu setzen.

Praktische Tipps

Notizen machen

  • Es ist unmöglich, alles aufzuschreiben, was die Dozent*in gesagt hat. Es kann jedoch eine gute Idee sein, eine eigene Methode zu entwickeln, um so viele Informationen wie möglich aufzuschreiben, zum Beispiel durch Kurzschrift und Abkürzungen, wo es angebracht ist.
  • Alles abzuschreiben, was auf den einzelnen Folien steht, ist vielleicht nicht so hilfreich, denn oft werden die Folien vor der Vorlesung in virtuellen Lernumgebungen wie Moodle, Sharepoint oder Blackboard zur Verfügung gestellt oder als Handout für dich bereitgestellt. Es kann eine gute Idee sein, die Folien vor der Vorlesung auszudrucken und zusätzliche Notizen zu machen, die du für wichtig hältst.
  • Notiere dir die wichtigsten Punkte des Inhalt der Vorlesung, und versuche (vielleicht auch im Anschluss an die Vorlesung) deine eigenen Gedanken dazu zu notieren sowie offene Fragen bzw. Punkte, die dir unklar sind. Das hilft, das Thema besser zu verstehen und kann dir Ideen für Hausarbeiten und Prüfungen geben.
  • Wenn du Schwierigkeiten hast, dir Notizen zu machen, kannst du mit der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung deiner Hochschule besprechen, ob du Unterstützung bekommen kannst. Das kann zum Beispiel heißen, dass du die Notizen der Dozent*in bekommst, oder dass ein Mitstudierende*r für dich Notizen macht.
  • Manchmal nimmt die Dozent*in ihre Vorlesungen auf und stellt sie zusammen mit den PowerPoint-Folien entweder als Audio oder Video über eine Online-Plattform wie Moodle o.ä. zur Verfügung gestellt. Du kannst dann die Vorlesung oder Teile davon noch einmal anhören, wenn du bestimmte Aspekte nicht verstanden hast oder dir zusätzliche Notizen machen willst.
  • Wenn du eine Vorlesung aufzeichnen möchtest, die die Dozent*in nicht selbst aufzeichnet, brauchst du ihre Erlaubnis. In vielen Fällen werden die Dozent*innen dieser Bitte gerne nachkommen. Frage sie direkt oder wende dich an die Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung. Dort kann man dir wahrscheinlich auch ein Diktiergerät o.ä. zur Verfügung stellen; andernfalls kannst du möglicherweise auch mit deinem Smartphone aufnehmen.
  • Mindmapping, entweder per Hand oder mithilfe einer Software, ist eine gute Möglichkeit, um die Zusammenhänge visuell darzustellen, anders als mit Aufzählungspunkten oder Notizen. Es kann eine gute Möglichkeit sein, sich auf Aufgaben oder Prüfungen vorzubereiten.
  • Im Tutorium musst du dir normalerweise keine Notizen machen, aber wenn du das Gefühl hast, dass es dir beim Lernen hilft, mach es. Bringe deine Studienunterlagen sowie Stift, Papier und eventuell einen Taschenrechner mitzubringen, falls dein Modul das erfordert.
  • In manchen Tutorien bekommst du eine bestimmte Lektüre zugewiesen. Die solltest du dann auch wirklich lesen und dir Notizen dazu machen (die Kernpunkte des Texts sowie Fragen, die du hast), weil die Lektüre bzw. das Thema wahrscheinlich im Tutorium besprochen wird.

Zeitplanung

  • Vorlesungen und Tutorien fangen nicht immer ganz pünktlich an, aber du solltest davon ausgehen, dass sie es tun. Ich fand es hilfreich, ein paar Minuten früher da zu sein. Dann kannst dir aussuchen, wo du sitzen willst, dich in Ruhe einrichten und vielleicht das ausgedruckte Handout oder deine Notizen zur Lektüre noch einmal durchzulesen. Du kannst auch mit deinen Mitstudierenden reden, wenn du dich dabei wohl fühlst.
  • Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dass du zu spät zu einer Vorlesung oder einem Tutorium kommst – du hast vielleicht mehrere Vorlesungen hintereinander und brauchst Zeit, um von einer Vorlesung zur nächsten zu kommen. Viele Dozent*innen sehen es nicht gern, wenn Studierende zu spät kommen, weil es Unruhe in den Raum bringt. Sie wissen aber auch, dass es sich manchmal nicht vermeiden lässt. Komm so leise wie möglich in den Hörsaal. Vielleicht fühlst du dich eingeschüchtert, aber die meisten Leute werden dich nicht bemerken oder beachten, und es ist besser, wenn du so wenig wie möglichst von der Vorlesung verpasst. Wende dieselbe Strategie an, wenn du die Vorlesung verlassen musst, bevor sie zu Ende ist.
  • Plane deinen Toilettengang in den Pausen zwischen den Vorlesungen. Wenn du doch einmal während der Vorlesung auf die Toilette musst, gehe möglichst leise raus. Um Erlaubnis fragen musst du nicht.
  • Wenn du schon weißt, dass du früher gehen musst, wähle einen Platz ganz außen, nahe der Tür. In manchen Räumen ist die Akustik schlecht, dann ist es besser, möglichst weit vorn zu sitzen. Du hast am meisten Auswahl, wenn du früh zur Vorlesung kommst.
  • Wenn du zwischen den Vorlesungen etwas Zeit hast, kann es vor allem in den ersten Wochen sinnvoll sein, dich mit der Umgebung vertraut zu machen und dir einen geeignete Orte für Essenspausen und Erholungszeiten zu suchen.

Fragen stellen

Die Dozent*in wird üblicherweise zu Beginn des Semesters mitteilen, wie sie Fragen in ihrer Vorlesung organisiert. Oft ist es am Ende der Vorlesung Zeit, um Fragen zu stellen, manchmal auch am Ende einzelner Themenabschnitte.

Wenn du eine Frage hast,

  • schreibe sie auf, damit du sie nicht vergisst.
  • Vielleicht klärt sich die Frage im Laufe der Vorlesung von selbst.
  • Wenn nicht, kannst du die Frage in der Vorlesung stellen, wenn es eine Frage ist, deren Antwort für alle Studierenden in der Vorlesung nützlich sein könnte.
  • Wenn die Frage für andere Studierende nicht interessant ist oder du dich nicht traust, in der Vorlesung zu fragen, kannst du die Dozent*in nach der Vorlesung zu fragen, falls sie noch etwas Zeit hat, oder ihr eine E-Mail zu schreiben.

Wenn du in der Vorlesung nicht die Möglichkeit hattest, die gewünschte Frage zu stellen, kannst du sie auch im Tutorium der Woche stellen. In Tutorien, Seminaren, Übungen und Laborkursen ist die aktive Mitarbeit und Fragen ausdrücklich erwünscht.

Wenn du dir nicht sicher bist, wie du dich in diesen Lehrveranstaltungen beteiligen sollst, oder andere Fragen zum Umgang mit Mitstudierenden, Tutor*innen oder Dozent*innen hast, findest du wertvolle Tipps in meinem Artikel Kommunikationstipps für das Studium.

Verhalten in der Vorlesung

  • Plane zwischen den Vorlesungen eine Essenspause ein, wenn du Hunger hast, denn während der Vorlesung solltest du nicht essen. Vor allem Essen, das riecht oder raschelt, ist tabu.
  • Versuche, nicht zu riechen. Wenn du gerade vom Sport kommst, solltest du vorher duschen und dich umziehen. Wenn du im Sommer mit dem Fahrrad zur Uni fährst, kann es praktisch sein, zumindest ein Deo zur Hand zu haben.
  • Mit der Sitznachbar*in zu quatschen, ist unerwünscht. Du wirst wahrscheinlich selbst feststellen, wie sehr es stört, weil es schwieriger ist, sich auf die Worte der Dozent*in zu konzentrieren.
  • Dein Smartphone solltest du vor jeder Lehrveranstaltung auf lautlos stellen oder ganz ausstellen, wenn du merkst, dass es dich ablenkt. Telefonieren darf man in der Lehrveranstaltung nicht.
  • Studierende finden regelmäßig Wege, sich in einer langweiligen Vorlesung abzulenken. Empfehlenswerter ist das nicht. Auf jeden Fall aber solltest du andere Studierende nicht stören und nicht unangenehm auffallen. Eine große Zeitung raschelnd umzublättern ist eine ganz schlechte Idee. Auch Haare kämmen oder andere Körperpflege ist in der Lehrveranstaltung nicht angebracht. Wenn du statt Notizen zu machen vor dich hinkritzelst, tut das zumindest anderen nicht weh. (Ob es deiner Konzentration hilft oder schadet, musst du selbst entscheiden.)
  • Für Autist*innen kann Stimming wichtig sein. An der Uni gilt: Stimming sollte andere Leute nicht beim Lernen stören. Wenn du in Lehrveranstaltungen Stimming verwenden willst, finde eine Variante, die nicht laut ist, andere nicht ablenkt oder stört.

Die Dozent*innen sehen meist sehr gut, wer zuhört und wer nicht. Und weil du später bei einigen deiner Dozent*innen eine mündliche Prüfung, eine Abschlussarbeit oder ähnliches machen wirst, oder ein Empfehlungsschreiben von ihnen brauchst, willst du nicht negativ auffallen.

Umgang mit sensorischen Schwierigkeiten in der Vorlesung

In Vorlesungen sitzen manchmal sehr viele Studierende, und nicht alle sind leise. Auch der Raum kann spezifische sensorische Probleme bereiten, zum Beispiel grelles Licht oder Straßenlärm durchs Fenster.

Ich hatte einmal eine Vorlesung in einem Raum, in dem alle Stühle bei der kleinsten Bewegung laut geknarrt haben. Die meisten Studierenden haben wirklich versucht, stillzusitzen, aber du kannst dir vorstellen, dass sich bei so vielen Studierenden immer irgendjemand bewegt hat.

Für mich war es mühsam, die Worte der Dozentin zu verstehen. Ich wollte die Vorlesung nicht aufgeben, weil sie wirklich interessant war, also habe ich mich in die erste Reihe gesetzt, und das ging gerade so. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, um eine richtige Lösung des Problems zu bitten.

Manchmal kann durch einen geeigneten Sitzplatz die Situation so weit verbessern, dass sie akzeptabel wird. In anderen Situationen ist es sinnvoller, mit der Dozentin oder der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung über die Situation zu sprechen.

Manchmal ist ein Raumtausch möglich, oder das Problem kann auf andere Weise behoben werden. Eventuell ist es möglich, über Kopfhörer zu empfangen, was die Dozent*in in ein Mikrofon spricht.

Wenn du Anpassungen brauchst, sprich mit der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung über das Problem und mögliche Lösungen.

Zuletzt bearbeitet am 30.05.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus