Visuelle Hilfsmittel für Menschen im Autismus-Spektrum
Visuelle Hilfsmittel für Menschen im Autismus-Spektrum können Fotos, Zeichnungen, Gegenstände, Bildsymbole, Tagespläne oder Auswahltafeln sein. Es gibt verschiedene Arten visueller Hilfsmittel und sie können (und sollten) individuell angepasst werden.
Inhaltsverzeichnis
Wozu visuelle Hilfsmittel?
Viele (nicht alle) autistische Menschen lernen am besten visuell. Wenn sie etwas sehen, können sie es besser verarbeiten, verstehen und behalten, als wenn sie es nur hören.
Visuelle Hilfsmittel können verwendet werden, um
- mit Menschen im Autismus-Spektrum zu kommunizieren,
- das Verständnis zu verbessern und
- Möglichkeiten zur Interaktion mit anderen bereitzustellen.
Viele autistische Menschen nehmen gesprochene Wörter als flüchtig und inkonsistent wahr. Visuelle Hilfsmittel machen die Kommunikation physisch und konsistent.
Die verbesserte Kommunikation kann
- die Selbstbestimmung fördern,
- Ängste und Frustrationen vermindern,
- Vertrauen aufbauen, und
- herausfordernde Verhaltensweisen verringern.
Visuelle Hilfsmittel können Unabhängigkeit und Selbstbestimmung fördern, weil eine autistische Person mit visuellen Hilfsmitteln eher in der Lage ist, Dinge selbständig zu erledigen.
Sie stellen auch Struktur und Routine bereit – etwas, das viele Menschen im Autismus-Spektrum mögen und brauchen.
Visuelle Hilfsmittel können (und sollten) individuell angepasst werden.
Hier zeige ich dir, was es für verschiedene Arten visueller Hilfsmittel gibt und wie sie verwendet werden können.
Wie verwendet man visuelle Hilfsmittel?
Mit visuellen Hilfsmitteln kannst du:
- einen Tagesplan oder Wochenplan mit visuellen Zeitblöcken erstellen,
- aufeinanderfolgende Schritte einer Aufgabe darstellen (zum Beispiel Schlafengehen oder Anziehen),
- Zeiteinheiten darstellen,
- eine Aufgabenliste erstellen,
- Unterstützte Kommunikation ermöglichen für Menschen, die nicht oder wenig sprechen, und
eine Auswahl anbieten.
Einige Beispiele für die Verwendung visueller Hilfsmittel:
- Ein Schüler zeigt durch eine einzelne gelbe Karte an, dass er auf die Toilette muss. Oder er legt eine lila Karte auf den Tisch, wenn er sich gestresst fühlt.
- Mehrere Bildkarten werden verwendet, um einen Ablauf oder Zeitplan darzustellen.
- Um eine Auswahl zu treffen, kann die Person das Trampolin-Symbol im Bereich „Nachmittag“ des Tagesplans platzieren.
- Visuelle Hilfsmittel können in sozialen Lerngeschichten oder Comics verwendet werden, um die Inhalte zu veranschaulichen, zum Beispiel visuelle Skripte für soziale Situationen.
- Symbole, mit denen eine Person ihre Meinung äußern kann, zum Beispiel, indem sie ein Daumen-nach-unten-Symbol neben die Turnstunde setzt, um zu zeigen, dass es ihr nicht gefallen hat.
- Kalender zur Vorbereitung auf Veränderungen oder Aktivitäten außerhalb der üblichen Routine (zum Beispiel Schulwechsel, Feiertage oder Arztbesuche)
- ein Emotionsthermometer, auf dem ein Kind markieren kann, wie es sich gerade fühlt
- Symbole für Schlüsselphrasen (zum Beispiel
Ich möchte
,Was ist das?
) - Bilder an Schränken und Schubladen, die zeigen, was drin ist
- Regeln visuell darstellen (
Kein Beißen
) - Fotos und Karten, um zu erklären, dass Mama auf der Arbeit ist oder die neue Schule an einem anderen Ort ist
- Sicherheitshinweise darstellen
- Über Körper, Gesundheit und Schmerzen sprechen. Dazu kann zum Beispiel eine Schmerzskala hilfreich sein.
- Sexuelle Aufklärung
- Timer, die beim Starten und Beenden von Aktivitäten und beim Übergang zwischen Aktivitäten helfen
Arten visueller Hilfsmittel
Visuelle Hilfsmittel können sehr unterschiedlich aussehen. Zum Beispiel:
- Referenzobjekte oder taktile Symbole, zum Beispiel Badehosen, Verpackungen oder Lebensmitteletiketten
- Miniaturen von realen Objekten
- kurze Videos
- Fotos
- Farbzeichnung
- Strichzeichnungen
- Symbole
- Farbkarten
- geschriebene Wörter.
Nicht jede Variante ist für jede Person geeignet.
Die Verwendung visueller Hilfsmittel hat eine Hierarchie. Sie reicht von möglichst wenig Abstraktion bis hin zu einem hohen Abstraktionsgrad.
Ich habe oben geschrieben, dass viele autistische Menschen visuelle Informationen gut erfassen können. Das heißt aber auch, dass es welche gibt, die damit Schwierigkeiten haben (mehr unter »Lernstile autistischer Menschen« von Donna Williams).
Und umso abstrakter die visuellen Hilfsmittel sind, desto schwieriger sind sie zu verstehen.
Ein Beispiel: Du willst das Zähneputzen darstellen.
- Am konkretesten und am einfachsten verständlich ist es, eine echte Zahnbürste auf den Plan zu setzen. Die kann man nicht nur sehen, sondern auch anfassen.
- Fotos sind konkreter als Zeichnungen, Farbfotos konkreter als Schwarz-Weiß-Fotos, farbige Zeichnungen konkreter als bloße Strichzeichnungen.
- Videos sind ein Spezialfall, weil sie einerseits sehr konkret sein können, andererseits aber manche Menschen Schwierigkeiten haben, bewegte Bilder zu erkennen.
Wenn du dir nicht sicher bist, ob dein Kind Bilder erkennen und interpretieren kann, fange mit einem Referenzobjekt an – in unserem Beispiel die echte Zahnbürste. Später kannst du der echten Zahnbürste ein Bild einer Zahnbürste zuordnen. Das hilft dem Kind zu verstehen, dass ein Bild eine Darstellung eines Objekts sein kann. Schließlich kannst du dem Foto eine Zeichnung zuordnen.
Ich sehe immer wieder Leute, die diese Abfolge nicht nutzen und dann nicht verstehen, warum das Kind die Zeichnungen und Symbole nicht versteht.
Geschriebene Wörter
Ich mag es, das geschriebene Wort mit den jeweiligen visuellen Hilfsmitteln zusammen zu verwenden. Niemand kann vorhersagen, wann ein Kind ein geschriebenes Wort erkennt. Einige Kinder lesen, bevor sie sprechen können.
In Montessori-Kindergärten verwenden die Kinder oft Namensschilder, um zu markieren, wo sie gerade spielen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass in der Regel schon Zweijährige nach wenigen Monaten im Montessori-Kindergarten ihren Namen erkennen.
Das ist noch nicht Lesen – sie erkennen den Namen als Bild. Lesen ist ein schrittweiser Prozess, der jahrelangen Kompetenzaufbau erfordert. Daher ist es wichtig, das gedruckte Wort so gut wie möglich bekannt zu machen.
Praxis-Tipps
Damit ihr die visuellen Hilfsmittel im Alltag möglichst unkompliziert verwenden könnt, gibt es hier einige praktische Überlegungen.
Tragbar
Manche visuellen Hilfsmittel werden nur an einem bestimmten Ort verwendet. Andere sollen tragbar sein.
Mach die visuellen Hilfsmittel tragbar, indem du
- eine App verwendest, um die visuellen Hilfsmittel auf einem Tablet darzustellen,
- Fotos und Bilder auf dem Smartphone der Person speicherst,
- Symbole, Bilder und Zeitpläne in einen Ordner legst, den die Person mitnehmen kann.
Haltbar
Die visuellen Hilfsmittel werden oft verwendet, angefasst und herumgetragen. Trotz dieser Beanspruchung sollten sie haltbar sein.
Einige Möglichkeiten:
- Laminieren
- Backups digitaler Hilfsmittel (Apps, Fotos und Bilder)
- ein Schutzcase für Tablet oder Smartphone
Einfach zu finden
Visuelle Hilfsmittel sollten leicht zu finden sind.
- Überlege, wo sie ihren Platz haben sollen, wenn sie gerade nicht verwendet werden.
- Verstaue sie nicht in einem Schrank, sondern platziere sie an einer prominenten Stelle auf Augenhöhe.
- Ein einzelnes Symbol kannst du auch in der Hosentasche der Person stecken.
- Du kannst markieren, wie sie in bestimmten Umgebungen (zum Beispiel im Klassenzimmer oder zu Hause) verteilt sein sollen.
- Füge auf dem Startbildschirm des Tablets eine Verknüpfung zur App für Unterstützte Kommunikation hinzu.
- Einzelne Aktivitäten auf einem Tagesplan kannst du mit Klettband befestigen. Dadurch kannst du den Plan auch unkompliziert verändern, zum Beispiel beendete Aktivitäten entfernen.
Individuell
Was für eine Person funktioniert, funktioniert möglicherweise nicht für eine andere.
- Nutze das Interesse der Person – zum Beispiel könntest du einen visuellen Tagesplan in Form einer Rakete erstellen.
- Denk daran, dass einige autistische Menschen spezifisch denken (auch: Schwierigkeiten haben zu verallgemeinern). Zum Beispiel sehen sie möglicherweise nicht, dass eine Packung Pringles nicht alle Chips symbolisieren soll.
- Es kann manchmal hilfreich sein, mehr als eine Art visueller Hilfsmittel zu verwenden. Führe visuelle Hilfsmittel aber immer schrittweise ein. Beginne mit einem Symbol und dann weitere hinzu.
Konsistent
Wenn du Bilder verwendest und einen Stil auswählst (zum Beispiel Strichzeichnungen), dann verwende ihn konsistent. Bitte Familienmitglieder und Lehrkräfte, dieselben visuellen Hilfsmittel konsequent zu verwenden.
Kann ich meine eigenen visuellen Hilfsmittel erstellen?
Visuelle Hilfsmittel können teuer sein und nicht jede Familie kann sie sich leisten. Prinzipiell müssen die Kosten zwar (komplett oder zumindest teilweise) übernommen werden, aber die Beantragung kann sich in die Länge ziehen.
Und auch fertige Produkte will man oft mit eigenen visuellen Hilfsmitteln ergänzen, zum Beispiel Bilder von Personen und Orten, die im Leben des Kindes eine Rolle spielen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie du deine eigenen visuellen Hilfsmittel erstellen kannst:
- durch Fotografieren mit einer Digitalkamera
- selbst Zeichnen
- Ausschneiden von Bildern aus Katalogen, alten Zeitschriften, Bilderbüchern, Zeitschriften oder Kalendern
- Kauf günstiger Aufkleber-Sets der anderer Bilder
Vorsicht beim Aufnehmen von Fotos:
Achte darauf, dass möglichst wenig Hintergrund zu sehen. Es soll klar erkennbar sein, was im Fokus steht. Wenn du Fotos von zu weit weg aufnimmst, ist der Hintergrund häufig unruhig und kann autistische Menschen ablenken.
Wann höre ich auf, für mein autistisches Kind visuelle Hilfsmittel zu verwenden?
Das ist eine Frage, die manchmal gestellt wird, und die Antwort ist: Du hörst nicht auf.
Wir alle verwenden visuelle Hilfsmittel im Alltag: Kalender, Checklisten, Smartphones, Einkaufslisten und vieles mehr.
Vielleicht könntest du darauf verzichten, aber es wäre anstrengend. Du wärst gestresster und müsstest ständig nachdenken, ob du nicht etwas vergessen hast.
Auch autistischen Menschen hilft es, nicht alles gleichzeitig im Kopf behalten zu müssen. Die Listen helfen bei der Selbstorganisation, schaffen Struktur und Vorhersagbarkeit.
Die Art der visuellen Hilfsmittel kann sich verändern. Ein Teenager will vielleicht keinen Tagesplan mit Klettverschluss mehr auf seinem Schultisch liegen haben. Ein Tablet kann dieselbe Funktion übernehmen, ohne ihn zu stigmatisieren.
Übrigens: Nur weil eine Person im Autismus-Spektrum intelligent ist und gut sprechen kann, heißt das nicht, dass sie keine visuellen Hilfsmittel benötigt. Es gibt viele erwachsene Menschen im Spektrum, die erfolgreich alleine leben, aber überall in ihrer Wohnung Checklisten hängen haben: Wie man Wäsche wäscht, Geschirr spült und wann man den Müll rausbringt.
Weitere Tipps, wie man visuelle Hilfsmittel verwendet, findest du unter TEACCH-Tagesplan.
Quellen und Literatur
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Bild von Tagesplan: Michelle Yoder, CC-by-nc-sa
Zuletzt bearbeitet am 17.05.2023.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus