Wir sind autistisch und das ist gut so.

Ein Fernstudium bietet für Studierende im Autismus-Spektrum einige Vorteile – aber es ist nicht die Lösung aller Probleme. Ob ein Fernstudium für dich das richtige ist, kannst du hier herausfinden.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Vor- und Nachteilen des Fernstudiums für autistische Studierende.

Mögliche Vorteile des Fernstudiums

Sensorische Aspekte

Im Präsenzstudium kämpfen autistische Studierende oft mit sensorischen Problemen: Laute Geräusche, helle Lichter und ständige soziale Interaktionen, der Weg zur Uni mit der überfüllten S-Bahn können zu Reizüberflutung und Erschöpfung führen.

Einer der Hauptvorteile des Fernstudiums ist die geringere Reizüberflutung.

Im Fernstudium können wir unsere Umgebung kontrollieren, indem wir wählen, wo wir arbeiten, wie viel Licht wir haben und ob es Lärm gibt oder nicht. Wir können auch eine komfortable und ablenkungsfreie Umgebung schaffen, was für das Lernen entscheidend sein kann.

Soziale Interaktion und Kommunikation

Die soziale Interaktion ist für Autist*innen oft einer der schwierigsten Aspekte des Studiums. Soziale Kontakte können unvorhersehbar und verwirrend sein, was Ängste und Stress auslösen kann.

Vielleicht weißt du nicht, was und wie du mit ihnen reden sollst, oder hast Schwierigkeiten, Leute überhaupt wiederzuerkennen. (Hier findest du Tipps zur Kommunikation im Studium.)

Im Fernstudium ist die soziale Interaktion begrenzter und strukturierter. Die Online-Kommunikation über Chats und Diskussionsforen ist oft weniger überwältigend. Im Fall schriftlicher Diskussionen kannst du dir oft die Zeit nehmen, deine Worte zu formulieren und du musst nicht auf nonverbale Aspekte achten.

Videokonferenzen empfindet jede*r etwas anders – falls sie für dich ein Problem darstellen, frag bei der Uni nach, ob und wie sie eingesetzt werden, und welche Erwartungen es dabei an die Studierenden gibt. Prinzipiell sollten dabei auch Anpassungen möglich sein.

Flexibilität

Ein weiterer Vorteil des Fernstudiums: Du hast weitgehende Kontrolle über deine Lernumgebung und deinen Zeitplan.

An einer Präsenz-Universität musst du zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sein. Dagegen hast du im Fernstudium mehr Kontrolle über deinen Tagesablauf, kannst in deinem eigenen Tempo arbeiten und bei Bedarf Pausen einlegen.

Das kann Stress und Ängste verringern und das Lernen zu einer angenehmeren Erfahrung machen.

Im Fernstudium kannst du wahrscheinlich weiterhin bei deinen Eltern wohnen, auch wenn die nächste Uni weit entfernt ist. Das tägliche Pendeln entfällt komplett.

Nachteilsausgleich

Prinzipiell hast du sowohl im Präsenz- als auch im Fernstudium Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn du diesen brauchst, um studieren zu können, ohne dass dir durch Autismus (oder durch andere Behinderungen) Nachteile entstehen.

Ein Unterschied ist, dass du im Fernstudium wahrscheinlich bestimmte Nachteilsausgleiche nicht brauchst, zum Beispiel die sensorische Anpassung der Lehrräume.

Ein anderer Unterschied kann sein, dass es manchen autistischen Studierenden leichter fällt, im Fernstudium einen Nachteilsausgleich zu beantragen: Dadurch, dass der Kontakt mit den Lehrenden reduzierter und standardisierter ist, machen sie sich weniger Sorgen, wie diese den Nachteilsausgleich interpretieren könnten.

Ein Nachteilsausgleich kann einen großen Unterschied für unseren Studienerfolg machen. Deshalb, wenn du Anpassungen brauchst, egal ob Präsenz- oder Fernstudium, beantrage sie!

Mögliche Nachteile des Fernstudiums

Ein Fernstudium löst nicht alle Probleme, auf die autistische Studierende stoßen können. Ich würde sogar sagen, dass für manche von uns ein Fernstudium sogar eher schwieriger sein kann.

Weil das sehr individuell ist, gebe ich dir einen Überblick über mögliche Probleme, damit du einschätzen kannst, was für dich die beste Lösung ist.

Soziale Interaktion

Das Fernstudium bietet in Bezug auf soziale Interaktion zwar viele Vorteile für autistische Studierende, aber es gibt auch potenzielle Schwierigkeiten.

Eine solche Schwierigkeit kann der Mangel an sozialer Interaktion sein.

Wir alle brauchen ein gewisses Maß an sozialen Kontakten in unserem Leben, um nicht unter Einsamkeit zu leiden.

Wenn du in deinem Alltag genug gute soziale Kontakte hast (z. B. Familie, Freund*innen, Nachbarschaft, Vereine oder andere Gruppen), hast du dieses Problem wahrscheinlich nicht.

Aber viele Menschen im Autismus-Spektrum kämpfen zumindest an bestimmten Punkten ihres Lebens mit Einsamkeit.

Ein anderer Aspekt ist, dass es interessant und bereichernd sein kann, ganz unterschiedliche Menschen und ihre Perspektiven kennenzulernen, die aber alle etwas mit dir gemeinsam haben: Sie haben sich für dasselbe Studienfach entschieden.

Menschen im Autismus-Spektrum finden ihre besten Freund*innen oft über gemeinsame Interessen. Gerade wenn dein Studienfach ein leidenschaftliches Interesse von dir ist, kann es schön sein, Menschen zu finden, mit denen du es teilen und diskutieren kannst.

Das kann aber prinzipiell auch im Fernstudium passieren, und vielleicht sogar auf eine Art, die Autisten mehr liegt.

Exekutive Funktionen und Selbstorganisation

Eine weitere mögliche Schwierigkeit, mit der viele autistische Studierende zu kämpfen haben, sind exekutive Dysfunktionen. Dazu gehören zum Beispiel die Organisation von Studium und Alltag, die Zeitplanung und die effiziente (nicht perfektionistische) Erledigung von Aufgaben.

Ich habe hier einen Artikel mit Tipps für typische Schwierigkeiten mit der Studienorganisation geschrieben.

Mögliche Strategien können z. B. sein, einen Zeitplan oder eine To-do-Liste zu erstellen, Erinnerungen zu setzen und bei Bedarf Pausen zu machen. Auch visuelle Hilfsmittel können hilfreich sein, um organisiert und konzentriert zu bleiben.

Kommunikation

Auch im Fernstudium kann die Kommunikation eine Herausforderung sein. Nicht alle Kommunikationsprobleme autistischer Menschen lösen sich in Luft auf, wenn die Kommunikation über E-Mail oder Diskussionsforen läuft.

Beispiele für solche Schwierigkeiten sind:

  • Die Anweisungen sind unklar/uneindeutig, und du zögerst, per Mail nachzufragen, wie sie gemeint sind, weil du keinen Aufwand machen willst und alle anderen die Aufgaben ja anscheinend verstanden haben.
  • Du bist perfektionistisch bei deinen E-Mails oder bei Beiträgen im Diskussionsforum und schreibst zwei Stunden an einem Dreizeiler (nur um ihn dann doch nicht abzuschicken).
  • Du bist dir nicht sicher, welche Erwartungen in einem Kurs an dich gestellt werden, und der kurze, informelle Austausch mit Kommiliton*innen und Lehrenden vor- oder nach der Lehrveranstaltung fehlt.

Es ist wichtig, bei solchen Problemen mit den Lehrenden zu kommunizieren und bei Bedarf um Klärung zu bitten. Du musst dafür einen Weg finden, der für dich funktioniert.

Präsenzphasen im Fernstudium

Auch ein Fernstudium erfordert Anwesenheit während bestimmter Phasen, z. B. für Prüfungen. Weil die einzige Fern-Universität in Deutschland in Hagen ist (und Fern-Unis in anderen Ländern vermutlich ebenfalls nicht an deinem Wohnort liegen), musst du dafür wahrscheinlich reisen.

Für Prüfungen anreisen zu müssen, kann den Prüfungsstress erhöhen und es dadurch schwieriger machen, die Prüfungen zu bestehen. Überlege dir, ob du dafür Unterstützung brauchst und wie sie aussehen könnte.

Tipps und Strategien für Autist*innen im Fernstudium

Es gibt einige Dinge, die autistische Studierende tun können, um ihr Fernstudium effektiver zu gestalten. Hier sind einige Tipps:

Schaffe eine sensorisch angenehme und ablenkungsfreie Umgebung

Ein großer Vorteil des Fernstudiums ist es, dass du von zu Hause aus arbeiten kannst. Dafür ist es aber wichtig, dass du deine Lernumgebung so gestaltest, dass sie (für dich) das Lernen fördert.

Idealerweise suchst du dir einen ruhigen Raum in deinem Haus oder deiner Wohnung. Wenn das nicht möglich ist, kann sich eine Investition in schalldämmende Kopfhörer lohnen, wenn du dich damit besser konzentrieren kannst.

Platziere deinen Arbeitsplatz so, dass sie Sonne nicht direkt auf den Bildschirm scheint, aber auch nicht unbedingt direkt von der gegenüberliegenden Seite, damit die Sonne dir nicht in die Augen strahlt.

Vorhänge sind in vielen Fällen hilfreich, aber viele Menschen arbeiten nicht gern in einem (völlig) abgedunkelten Raum. Auch hier musst du ausprobieren, was für dich funktioniert.

Wenn du feststellst, dass du dich leicht durch das Internet oder andere Geräte ablenken lässt, kannst du ein Programm verwenden, das ablenkende Websites oder Apps während deiner Lernzeit blockiert.

Verwende visuelle Hilfsmittel

Viele Menschen im Autismus-Spektrum lernen durch Bilder und Diagramme besser als durch schriftliche oder gesprochene Informationen. Man nennt das einen einen visuell-räumlichen Lernstil.

Falls du ein visuell-räumlicher Lerntyp bist, überlege dir, wie du deinen Lernstoff visuell darstellen kannst, um ihn besser zu verstehen. Dazu können Diagramme, Flussdiagramme oder Mindmaps gehören.

Oft genügt Papier und Bleistift, um dir solche visuellen Notizen zu machen. Sie müssen nicht perfekt sein. Es gibt auch viele Online-Tools, mit denen du visuelle Hilfsmittel und Diagramme erstellen kannst, z. B. Canva, Piktochart oder Lucidchart.

Du kannst visuelle Hilfsmittel auch verwenden, um dein Studium und deinen Lernplan zu organisieren. Ein einfacher Stundenplan ist bereits ein visuelles Hilfsmittel.

Nutze Strategien zur Selbstorganisation

Ob Fern- oder Präsenzstudium: Vielen Studierende (nicht nur im Autismus-Spektrum) fällt es schwer, konzentriert zu lernen und bei der Sache zu bleiben.

Was helfen kann:

  • Ziele setzen (Was will ich in der nächsten Stunde erreichen und was muss ich dafür tun?)
  • Motivation finden
  • Um beim Lesen eines Textes dein Verständnis zu verbessern, kannst du dir Notizen über die Kernpunkte machen, aus denen du einen kurzen Abstrakt schreibst. Dieser Abstrakt kann dir auch später bei der Wiederholung helfen.
  • Verwende einen Zeitplan, vielleicht auch mit Timer, und plane regelmäßige Pausen ein.
  • Überlege dir, wie du die Pausen verbringen willst: Oft ist es für den darauf folgenden Lernblock besser, wenn dich während der Pause bewegst oder kurz an die frische Luft gehst – statt durch Twitter zu scrollen.

Beantrage Nachteilsausgleich

Hochschulen sind verpflichtet, Studierenden mit Behinderungen Nachteilsausgleich zu gewähren, wenn diese ansonsten aufgrund ihrer Behinderung Nachteile im Studium hätten. Ein Nachteilsausgleich ist eine Anpassung der Studien- und Prüfungsbedingungen.

Wenn du Anpassungen benötigst, wie z. B. eine längere Prüfungszeit oder eine ruhige Prüfungsumgebung, sprich mit der Beratung für behinderte Studierende deiner Uni und beantrage, was du brauchst.

In diesem Artikel findest du eine Übersicht von Nachteilsausgleichen für Studierende im Autismus-Spektrum sowie Informationen zur Beantragung.

Kommuniziere mit den Lehrkräften

In einem traditionellen Klassenzimmer ist es oft einfach, Fragen zu stellen oder den Dozenten um Klarstellung zu bitten. Im Fernstudium musst du jedoch vielleicht einen anderen Weg sein, um Hilfe zu bekommen.

Lehrende und Tutor*innen werden wahrscheinlich mitteilen, auch welche Art sie Fragen am liebsten erhalten, und welche anderen Wege ebenfalls möglich sind. Das kann eine öffentliche oder private Nachricht in der Online-Lernplattform sein, eine E-Mail, oder am Ende einer Videokonferenz.

Scheue dich nicht, sie zu kontaktieren, wenn du Fragen zu einer bestimmten Aufgabe oder einem Konzept hast.

Nimm an sozialen Aktivitäten teil

Es stimmt zwar, dass ein Fernstudium isolierend sein kann, aber es gibt trotzdem Möglichkeiten, mit deinen Kommiliton*innen in Kontakt zu treten.

Versuche, Wege zu finden, um (innerhalb und außerhalb deines Studiums) mit anderen in Kontakt zu treten, z. B. indem du Online-Clubs oder Gruppen beitrittst, die mit deinen Interessen zu tun haben. Der Kontakt mit Menschen, mit denen man Interessen oder andere Dinge teilt, kann gut für die psychische Gesundheit autistischer Studierender sein.

Vielleicht bietet deine Uni Diskussionsforen oder virtuelle Lerngruppen an. Diese Diskussionen können dir neue Perspektiven auf den Lernstoff zeigen und vielleicht entstehen auch Freundschaften daraus.

Vielleicht willst du auch Kontakte außerhalb der Uni knüpfen: eine Autismus-Selbsthilfegruppe oder eine Gruppe zu deinem Interesse.

Verwende unterstützende Technologie

Verschiedene Technologien können im Studium helfen, von Notizen und Organisation bis hin zu Zeitmanagement und Aufgabenverfolgung.

Einige Beispiele für unterstützende Technologien sind Diktiergeräte, Vorlese-Software, Tools zur Rechtschreib- und Grammatikprüfung oder zur Literaturverwaltung, und Apps zur Lernorganisation.

Studienassistenz für Präsenzphasen

Unter bestimmten Umständen kann Studierenden im Autismus-Spektrum eine Studienassistenz zustehen.

Autistische Studierende im Fernstudium brauchen möglicherweise Unterstützung, um die Reise zum Universitätsstandort bewältigen zu können, oder um dort mit der neuen Umgebung zurechtkommen. Dafür kann man eine Studienassistenz betragen.

Eine Studienassistenz kann auch mit der Studienorganisation oder anderen Dingen helfen, mit denen du autismusbedingt Probleme hast.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass ein Fernstudium eine sehr gute Option für Studierende im Autismus-Spektrum sein kann, die im Präsenzstudium Schwierigkeiten haben oder das Fernstudium einfach angenehmer finden.

Letztlich ist das eine individuelle Entscheidung. Falls du dir überlegst, ein Fernstudium zu beginnen, belege doch einmal testweise einen der vielen kostenlosen MOOC-Kurse im Internet.

Dann kannst du besser einschätzen, wie du mit einem Fernstudium zurechtkommst und wo du möglicherweise Unterstützung brauchst.

Zuletzt bearbeitet am 30.05.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus