Wir sind autistisch und das ist gut so.

Nicht alle Kinder im Autismus-Spektrum brauchen spezielle Leistungen. Aber wenn man sie braucht, ist das Familienbudget schnell überfordert. Das sollte kein Problem sein: In Deutschland haben Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung Anspruch auf Eingliederungshilfe. Doch eine Beantragung ist nicht immer einfach. Ein Wegweiser durch den Behörden-Dschungel.

Welcher Kostenträger ist zuständig: Jugendamt oder Sozialamt?

Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kann die Eingliederungshilfe im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) oder im Rahmen der Sozialhilfe (SGB XII) erbracht werden. Wer zuständig ist, hängt von der Art der Behinderung ab: Sozialrechtlich wird unterschieden in körperliche, geistige und seelische Behinderung. Kostenträger bei körperlichen und geistigen Behinderungen ist das Sozialamt, Kostenträger bei seelischen Behinderungen junger Menschen ist das Jugendamt.

  • Als körperlich behindert gelten zum Beispiel Rollstuhlfahrer*innen, Blinde oder Menschen mit Sprachstörungen.
  • Als geistig behindert gelten Menschen mit Lernschwierigkeiten.
  • Als seelisch behindert gelten zum Beispiel Menschen, die infolge von sogenannten psychische Krankheiten oder Störungen als behindert gelten.

Bei Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum ist die sozialrechtliche Zuordnung besonders schwierig. Autistische Menschen können seelisch, geistig und körperlich behindert sein. Wenn mehrere Arten von Behinderung zutreffen, spricht man von einer Mehrfachbehinderung.

  • Das Autismus-Spektrum zählt nach ICD 10 als Entwicklungsstörung zu den psychischer Störungen. Entsprechend gilt Autismus als seelische Behinderung im Sinne des Sozialgesetzes.
  • Wenn bei einer autistischen Person eine sogenannte geistige Behinderung festgestellt wird, gilt sie als mehrfachbehindert: seelisch und geistig.
  • Wenn eine autistische Person nicht oder nur eingeschränkt sprechen kann, gilt sie als mehrfachbehindert, nämlich seelisch und körperlich. Denn nach § 1 Abs. 6 der Eingliederungshilfe-Verordnung zählen zum Kreis der Körperbehinderten:
    Personen, die nicht sprechen können, Seelentauben und Hörstummen, Personen mit erheblichen Stimmstörungen sowie Personen, die stark stammeln, stark stottern oder deren Sprache stark unartikuliert ist.
  • Ausgeprägte Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen können mit einer Sinnesbehinderung (wesentlichen Seh- oder Hörbehinderung) gleichgestellt werden. Diese gilt als körperliche Behinderung.
  • Manche autistischen Kinder haben aufgrund eines angeborenen oder erworbenen Hirnschadens Bewegungsstörungen oder Epilepsie. Auch diese Behinderungen zählen zu den körperlichen.

Die sozialrechtliche Zuordnung ist wichtig, weil je nach Art der Behinderung ein anderer Kostenträger zuständig ist:

  • Für seelisch behinderte Kinder, Jugendliche und junge Volljährige wird Eingliederungshilfe nach dem Kinder- und Jugendhilferecht geleistet (§ 35a SGB VIII). Kostenträger ist hier das Jugendamt.
  • Für körperlich oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche ist das Recht der Sozialhilfe nach dem SGB XII anzuwenden (vorrangig gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII). Kostenträger ist das Sozialamt.

Auch für Personen über 18 Jahre kann die Kinder- und Jugendhilfe zuständig sein, nämlich im Rahmen der Eingliederungshilfe für junge Volljährige. Diese Hilfe endet endet normalerweise, wenn die Person 21 wird, in Einzelfällen kann sie aber bis maximal zum 27. Geburtstag weiter gewährt werden.

Für beide Arten der Eingliederungshilfe gilt die Eingliederungshilfe-Verordnung nach § 60 SGB XII.
In der Regel wird Eingliederungshilfe für junge Menschen mit Asperger-Syndrom nach § 35a SGB VIII geleistet, für junge Menschen mit der Diagnose Frühkindlicher Autismus, die im Allgemeinen als mehrfachbehindert gelten, nach SGB XII.

Im Einzelfall ist die Zuordnung dennoch oft umstritten. In manchen Fällen wird nach Art der notwendigen Leistung entschieden.

Laut Gesetz sind die Leistungen der Eingliederungshilfe durch der Kinder- und Jugendhilfe gleich wie die der Sozialhilfe. Eine Abweichung beider Leistungen ist rechtswidrig. Wichtig für Kinder im Autismus-Spektrum und ihre Familien ist nur, dass eine der beiden Stellen zahlt – wenn beide auf die jeweils andere Behörde verweisen, kann es hilfreich sein, einen Rechtsanwalt einzuschalten.

Sonderregelung Frühförderung

Frühförderung wird für Kinder unter vier Jahren geleistet. Weil es in diesem Alter oft nur sehr schwer zu erkennen ist, welche Art der Behinderung vorliegt, haben die meisten Bundesländer eine Sonderregelung dafür.

Informationen zur Frühförderung:

Nachrangigkeit gegenüber anderen Stellen

Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind nachrangig gegenüber anderen vorrangigen Kostenträgern. Dazu zählen je nach Sachlage zum Beispiel Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung oder die Agentur für Arbeit.

Was leistet die Eingliederungshilfe?

Aufgabe der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.

Die Eltern sollten sich dabei (eventuell zusammen mit dem Kind und/oder Fachkräften) überlegen, welche Leistungen gebraucht werden. Das ist nicht immer einfach zu entscheiden und der Austausch mit anderen Eltern kann dabei helfen. Im Folgenden führen wir einige Beispiele auf.

Frühförderung

Darunter fallen zum Beispiel heilpädagogische Leistungen sowie therapeutischen Hilfen wie Logopädie, Ergotherapie, Krankengymnastik und Motopädie, aber auch die Beratung der Erziehungsberechtigten. Einen Antrag auf Leistungen der Frühförderung kann man bei der Krankenkasse oder beim Sozialamt stellen.

Kita (Kinderkrippe und Kindergarten)

Leistungen können beantragt werden für den Besuche einer heilpädagogischen Kindertagesstätte oder für die Integration in einer integrativen Kita.

Schule

Manche Kinder brauchen einen Integrationshelfer, um erfolgreich beschult werden zu können, andere brauchen Hilfe zur Bewätigung des Schulwegs oder spezieller Unternehmungen wie zum Beispiel Klassenfahrten. Aber auch viele andere Hilfen sind denkbar. Kinder mit feinmotorischen Schwierigkeiten können davon profitieren, mit einem Laptop arbeiten zu dürfen – so können sie sich auf den Inhalt des Geschriebenen konzentrieren, anstatt auf leserliche Buchstaben. Auch die Kosten für Nachhilfe können übernommen werden.

Arbeit

Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben reichen von Hilfen bei der Arbeitsplatzes über Hilfen bei Aus- und Weiterbildung bis hin zu Existenzgründerzuschüssen oder Ausbildungs- oder Eingliederungszuschüsse an den Arbeitgeber. Träger ist hier oft die Arbeitsagentur.

Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

Hierzu gehören unter anderem Hilfsmittel, Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt (zum Beispiel Sprachcomputer bzw. -Software), Hilfen bei der Beschaffung, die Ausstattung einer behinderungsgerechten Wohnung (zum Beispiel Schalldämmung), und auch zum Beispiel ambulantes Wohnen sowie Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben (zum Beispiel Fahrdienst, Hilfe zur Teilnahme am Ferienlager, an Sportkursen o.ä.).

Dabei sollte man bedenken:

  • Mehr ist nicht immer besser. Autistische Menschen brauchen keine Unmengen an Maßnahmen, die an ihren Defiziten herumdoktern, sondern gezielt die richtige Unterstützung, um selbstbestimmt leben zu können. Je älter die Kinder sind, desto mehr sollten sie über die Maßnahmen mitentscheiden dürfen.
  • Nicht alle brauchen das Gleiche. Es klingt selbstverständlich, aber man muss es immer wieder sagen: Was für ein autistisches Kind genau das richtige ist, kann für ein anderes falsch sein. Wenn Sie feststellen, dass eine Maßnahme nicht sinnvoll ist, vertrauen Sie auf Ihr Gefühl und lassen Sie es.

Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche im Autismus Spektrum

Wie funktioniert die Eingliederungshilfe als Persönliches Budget?

Die Eingliederungshilfe kann entweder als Sachleistung oder als Geldleistung erbracht werden. Sachleistung heißt, das Amt übernimmt die Kosten für notwendige Maßnahmen direkt und überweist das Geld an den Träger der Maßnahme. Die Auszahlung als Geldleistung wird »Persönliches Budget« genannt. Wie bei der Sachleistung wird hier festgestellt, welchen Bedarf es gibt, das Geld wird dann aber direkt an die betreffende Person bzw. an ihre Eltern ausgezahlt. Diese bezahlen dann die notwendigen Maßnahmen damit. Ob und wie die Verwendung des Geldes nachgewiesen werden muss, legen Leistungsträger und Budgetnehmer in einer Zielvereinbarung fest. Der Nachweis bezieht sich dabei auf die Maßnahmen, nicht auf die Kosten.

Der Vorteil des Persönlichen Budgets ist die größere Selbstbestimmung. Stellt man zum Beispiel fest, dass ein Integrationshelfer nicht zum Kind passt, kann man einen anderen einstellen, ohne sich mit einem Kostenträger darüber streiten zu müssen.

Der Nachteil des Persönlichen Budgets ist der höhere Verwaltungsaufwand.

Was tun, wenn die benötigte Leistung nicht bewilligt wird?

Die zuständigen Sachbearbeiter in den Behörden haben oft wenig Ahnung von Autismus oder von der spezifischen Situation Ihrer Familie. Sie können gegen den ablehnenden Bescheid widersprechen (auf die Widerspruchsfrist wird im Bescheid hingewiesen). Das kostet nichts, und führt zu einer erneuten Prüfung Ihres Antrags. Begründen Sie in Ihrem Widerspruch möglichst genau, warum Sie die Leistung benötigen. Umter Umständen ist es sinnvoll, eine Stellungnahme Dritter (zum Beispiel eines Autismuszentrums oder ein ärztliches Attest) beizulegen. Es gibt Beratungsstellen, die beim Antag und beim Widerspruch helfen können.

Wird Ihr Widerspruch abgelehnt, können Sie klagen. Zumindest für die Klage sollten Sie einen Anwalt haben – dafür kann man Prozesskostenhilfe bekommen, wenn man Anspruch darauf hat. Manchmal kann es sinnvoll sein, schon den Widerspruch von einem Anwalt schreiben zu lassen, es ist aber schwierig, dafür Beratungskostenhilfe zu bekommen.

Wird das Einkommen der Eltern angerechnet?

In manchen Fällen wird das Einkommen angerechnet, sofern es einen bestimmten Betrag übersteigt, zum Beispiel bei Leistungen für eine stationäre Einrichtung oder eine Tageseinrichtung.

Nicht angerechnet wird das Einkommen,

  • wenn das Kind noch nicht eingeschult ist,
  • wenn die Leistungen einer angemessenen Schulbildung dienen sowie bei
  • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur medizinischen Rehabilitation.

Wenn die Kosten für diese Maßnahmen aber Kosten für den Lebensunterhalt enthalten, werden letztere angerechnet.
Weiterführende Links:

Zuletzt bearbeitet am 23.04.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus