Gesundheit Autistische Verhaltensweisen
Essprobleme bei Kindern im Autismus-Spektrum
Essen hat einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Und autistische Kinder und Jugendliche haben mit höherer Wahrscheinlichkeit Probleme beim Essen. Hier gehe ich auf ganz unterschiedliche Probleme ein und zeige Lösungsansätze.
Inhaltsverzeichnis
Probleme, auf die du achten solltest
Bei Kindern kommt es sehr häufig vor, dass sie bestimmte Lebensmittel komplett verweigern – auch bei nicht-autistischen Kindern. Solange das Kind Lebensmittel aus jeder der Hauptnahrungsmittelgruppen isst und es gut wächst, besteht kein Grund zur Sorge.
Lass dich beraten, wenn das Kind:
- weniger als 20 Nahrungsmittel akzeptiert
- alle Lebensmittel aus einer oder mehreren Lebensmittelgruppen ablehnt
- Verstopfung hat – Verstopfung kann einen enormen Einfluss auf den Appetit haben und Medikamente erfordern
- aufgrund seiner Ernährung unter Karies leidet
- abnimmt, untergewichtig ist oder nicht gut wächst
- übermäßig an Gewicht zunimmt
- Verhaltensweisen zeigt, die auf einen Vitamin- oder Mineralstoffmangel hinweisen können, zum Beispiel Müdigkeit oder Pica (Essen von nicht essbaren Gegenständen)
- wegen Essproblemen Unterricht versäumt
- während des Essens hustet und würgt oder wiederholte Brustkorbinfektionen hat, insbesondere wenn das Kind Entwicklungsverzögerungen oder körperliche Behinderungen hat
- wegen Essproblemen nicht an sozialen Aktivitäten teilnehmen kann (wenn zum Beispiel du und deine Familie aufgrund von Essstörungen selten ausgehen können).
Grundlagen
Kommunikation
Bei jedem Ansatz ist es wichtig, dass du klar, konsequent und ruhig kommunizierst.
Eine soziale Lerngeschichte kann jemandem helfen, zu verstehen, warum wir essen und welche Funktion Lebensmittel haben, zum Beispiel:
- Essen versorgt uns mit Treibstoff/Energie, die es uns ermöglicht, Dinge zu tun, die wir mögen.
- Essen aus allen Lebensmittelgruppen zu essen, gibt uns Energie.
- Wenn wir bestimmte Lebensmittelgruppen auslassen, kann uns das müde machen.
Auch die visuelle Darstellung von Informationen kann helfen. Du könntest:
- Stelle klare Tages- und/oder Wochenmenüs mit Bildern von Lebensmitteln her. Zeige die Uhrzeit der nächsten Mahlzeit gut sichtbar an.
- Stelle visuelle Mittel bereit, mit denen das Kind seine Bedürfnisse, Gefühle und Vorlieben ausdrücken und erkennen kann, zum Beispiel Skalen für Stress, Hunger und Sattsein, oder glückliche/unglückliche Gesichtsbilder.
- Stelle eine Lebensmittelgruppentabelle bereit, mit der Regel, dass die Kinder jeden Tag mindestens ein Lebensmittel aus jeder Gruppe essen müssen.
Versuche, Lebensmittel nicht in gesund und ungesund oder gut und schlecht zu klassifizieren. Dies kann manchmal zu wörtlich genommen werden und weitere Probleme verursachen.
Versuche sehr genau zu sein, wenn du über Lebensmittel sprichst oder Bilder von Lebensmitteln verwenden. Äpfel sehen zum Beispiel unterschiedlich aus und schmecken unterschiedlich, aber wir nennen sie alle Äpfel. Es kann sein, dass das Kind Golden Delicious-Äpfel mag und Braeburns nicht. Und dann kann es verwirrend für das Kind sein, wenn du ihm ein Bild von einem gelben Apfel zeigst und ihm dann einen roten Apfel bringst.
Belohnung?
Manchmal können Belohnungen wirksam sein – aber sie können auch nach hinten losgehen:
- Wenn du ein beliebtes Lebensmittel als Belohnung dafür anbietest, dass das Kind ein neues Lebensmittel ausprobiert, lässt das das geliebte Essen noch attraktiver erscheinen und das neue Lebensmittel wirkt wie eine unangenehme Pflicht.
- Essen sollte nicht dazu verwendet werden, das Verhalten von Kindern zu steuern (
Wenn du brav bist, kriegst du nachher ein Eis
). Es sollte weder als Belohnung noch als Bestrafung, Ablenkung oder Trost eingesetzt werden, denn das fördert eine ungünstige Ernährungsweise und einen falschen Bezug zum Essen. - Viele Wissenschaftler*innen sprechen dagegen aus, beim Essen Druck auszuüben, weil Essen dadurch negative Assoziationen bekommt und die Kinder nicht lernen, auf ihr eigenes Hunger- bzw. Sättigungsgefühl zu achten.
- Belohnungssysteme können außerdem verhindern, dass Kinder aus sich heraus eine Motivation für gesunde Ernährung entwickeln.
Andererseits erkennen Wissenschaftler*innen an, dass bestimmte Formen von Belohnung effektiv sind: Eine britische Studie kam zum Ergebnis, dass zwei- bis fünfjährige (nicht-autistische) Kinder mehr Gemüse aßen, wenn man ihnen Gemüse anbietet und sie mit Stickern belohnt, wenn sie das Gemüse essen. Diese Methode war im Vergleich zu mündlichem Lob oder dem kommentarlosen Anbieten von Gemüse am erfolgreichsten, um Gemüsekonsum der Kinder zu steigern.
Falls du Belohnungen einsetzt, sollte der Schwerpunkt nicht nur darauf liegen, dass eine bestimmte Menge eines ungeliebten Essens gegessen wird, sondern auch darauf, dass das Kind es akzeptiert, dass neue Lebensmittel in der Nähe sind oder ein neues Essen kostet.
Eine Form der Belohnung
kann sinnvoll sein: Erkenne an, dass es für viele Kinder im Autismus-Spektrum stressig ist, ein neues Lebensmittel zu probieren und räume ihnen danach genug Erholungszeit ein – zum Beispiel die Beschäftigung mit ihren Interessen oder andere geliebte Aktivitäten.
Bewegung
Ermutigen Sie Aktivitäten, die Bewegung und Sport beinhalten. Das kann beim Abnehmen (falls erforderlich) und beim Abbau von Stress helfen. Stress kann sowohl zu Über- als auch zu Unterernährung beitragen. Wenn das Kind zögert, überlege, ob es Gründe dafür gibt, zum Beispiel Gleichgewichtsstörungen oder soziale Kontakte.
Vorbild sein
Es kann hilfreich sein, wenn du dich selbst so verhältst, wie du es dir von deinem Kind wünscht. Dies kann heißen, dass die ganze Familie an sportlichen Aktivitäten teilnimmt, keine Zwischenmahlzeiten zu sich nimmt oder eine Regel befolgt, wonach jeden Tag etwas aus jeder Lebensmittelgruppe gegessen wird.
Die Ursache finden
Fange an zu notieren, was wann gegessen wird. Manchmal kann ein Ernährungstagebuch beruhigend sein – vielleicht stellst du dabei fest, dass das Kind eine größere Auswahl an Lebensmitteln zu sich nimmt, als du ursprünglich dachtest.
Hier sind einige Beispiele dafür, was im Tagebuch stehen kann:
- Zu welcher Tageszeit habt ihr gegessen? – 16:15
- Was habt ihr gegessen? – Apfelschnitzel
- Wo habt ihr gegessen? – Im Wohnzimmer
- Wie viel habt ihr gegessen? – Zwei Äpfel
- Wer war da? – Mama, Bruder
- Wie haben die Menschen in der Umgebung auf das Kind reagiert, die das bestimmte Essen isst? – Mutter hat gelobt, Bruder hat keine Reaktion gezeigt
- Gab es irgendwelche Umweltfaktoren? – Radio war im Hintergrund an
Das kann einige Ursachen für die Essstörungen aufdecken, sei es übermäßiges Essen oder eingeschränktes Essen. Versuche herauszufinden, ob es sich um die Menge, die Art oder den Umfang der verzehrten Lebensmittel handelt, und welche zugrunde liegenden Schwierigkeiten oder sensorischen Probleme auftreten können.
Mögliche Gründe und Lösungen
Im Folgenden findest du einige mögliche Gründe für die Essprobleme: Sensorische Unterschiede, Krankheiten, die Präsentation des Essens, soziale Probleme, Zwänge und Routinen, Bewältigungsstrategien, die Menge an Essen, sowie andere Diagnosen. Ich beschreibe auch Ansätze, die du versuchen kannst, um diese Probleme zu lösen.
Was für ein Kind funktioniert, funktioniert möglicherweise nicht für ein anderes.
Sensorik
Braunes oder schwarzes Essen habe ich nicht gegessen, weil ich darauf bestand, dass es giftig war. Eingemachter Spargel war aufgrund seiner schleimigen Konsistenz unerträglich und ich aß ein Jahr lang keine Tomaten, nachdem eine Kirschtomate in meinem Mund geplatzt war, während ich sie aß. Der sensorische Reiz, als dieses kleine Stück Frucht in meinem Mund explodiert ist, war einfach nicht zu ertragen, und ich wollte kein Risiko eingehen, dass es wieder vorkam.
Karotten in einem grünen Salat und Sellerie im Thunfischsalat sind für mich immer noch unerträglich, weil der Kontrast in der Textur zwischen Karotten oder Sellerie und Salat oder Thunfisch zu groß ist. Ich esse aber gerne Sellerie und Baby-Karotten. Als Kind habe ich oft Dinge nacheinander gegessen und eine Sache auf dem Teller aufgegessen, bevor ich zur nächsten überging. Manchmal mache ich das auch heute noch.
Stephen Shore
- Viele autistische Menschen haben sensorische Probleme. Sie können gegenüber dem Aussehen, Geruch, Geschmack und der Textur stärker empfindlich oder weniger empfindlich als andere Menschen sein. Das kann dazu führen, dass ihr Erlebnis mit dem Essen ein ganz anderes ist.
- Autistische Menschen, die sehr empfindlich auf Gerüche und Geschmack reagieren, essen vielleicht lieber
fades
Essen. Starke Gerüche können für sie unangenehm und sensorisch überlastend sein. - Autistische Menschen, die sensorisch weniger empfindlich als der Durchschnitt sind, bevorzugen oft eher stärkere Aromen. Für sie können bestimmte Gerüche oder Aromen eine Quelle intensiven Vergnügens sein.
- Manche autistischen Menschen mögen bestimmte Konsistenzen nicht – zum Beispiel wollen sie nichts Hartes essen, oder nichts Schlabberiges.
- Manche wollen kein gemischtes Essen. Sie essen einzelne Lebensmittel nur getrennt. Ein Grund dafür kann sein, dass sie es nicht mögen, wenn unterschiedliche Konsistenzen oder Aromen vermischt sind – man weiß nie, was einen beim nächsten Bissen erwartet.
Ich hatte ein großes Problem mit dem Essen. Ich aß gerne Dinge, die langweilig und unkompliziert waren. Ich wollte nichts Neues ausprobieren. Ich war sehr empfindlich gegenüber der Konsistenz des Essens und musste alles mit meinen Fingern berühren, um zu sehen, wie es sich anfühlte, bevor ich es in meinen Mund stecken konnte.
Was du tun kannst:
- Wenn dein Kind fades Essen will, würze es nicht (würze dein Essen auf deinem Teller). Wenn das Kind stark gewürztes Essen mag, lass es sein Essen nachwürzen.
- Verändere die Konsistenz. Wenn Aussehen und/oder Beschaffenheit das Problem sind, kann man diese verändern und das Gemüse
verstecken
. Wenn das Kindmatschiges
Essen nicht mag, kann man Gemüse als Rohkost anbieten. Wenn hartes Essen ein Problem ist, kann man das Essen weich kochen oder sogar pürieren. Zum Beispiel kann man Blumenkohl als Püree, kleingehackt in Gemüse-Frikadellen oder sogar im Teig verwenden. Obst und Gemüse kann man auch als Smoothie anbieten. - Mit natürlichen Lebensmittelfarben kann man auch die Farbe des Essens verändern.
- Führe in kleinen Schritten ein neues Lebensmittel oder neue Texturen ein, um eine allmähliche Desensibilisierung zu erreichen.
- Lass das Kind das neue Essen erst einmal nur ansehen. Ermutige sie dann, sich etwas davon auf ihren Teller zu laden, daran zu riechen, es anzufassen, daran zu lecken, es in ihren Mund zu tun, es zu beißen, zu kauen und zu schlucken.
- Versuche, nicht negativ auf ausgespuckte Lebensmittel zu reagieren.
- Diese Schritte können Monate dauern. Versuche, das Ziel darin zu sehen, etwas über verschiedene Lebensmittel zu lernen und sich darin wohl zu fühlen, anstatt sie dazu zu bringen, alle vorgestellten Lebensmittel zu essen.
Die sensorischen Probleme können sich auch auf die Umgebung beziehen, zum Beispiel:
- Das Kind findet es vielleicht schwierig, in einer lauten Mensa zu essen – finde heraus, ob es stattdessen in einem ruhigen Raum essen kann.
- Der Stuhl, auf dem es sitzt, ist vielleicht zu hart – füge ein Kissen hinzu.
- Im Hintergrund die Lieblingsmusik abzuspielen, kann entspannend sein und das Kind von der Angst vor dem Essen ablenken. Auch ein ruhiger Raum mit gedämpftem Licht kann helfen.
Erfahre mehr über Unterschiede in der Wahrnehmungsverarbeitung und wie du damit umgehen kannst.
Krankheiten und Beschwerden
Körperliche Schmerzen und Beschwerden können die Essgewohnheiten einer Person beeinträchtigen.
- Bauchschmerzen können dazu führen, dass eine Person zu viel isst, um sich wohl zu fühlen.
- Verstopfung kann den Appetit dämpfen. Sodbrennen kann jemanden davon abhalten, weiter zu essen.
- Zahnschmerzen und Geschwüre im Mund können dazu führen, dass man nur ungern etwas in den Mund nimmt.
- Einige Medikamente können den Appetit beeinträchtigen (zum Beispiel Ritalin) oder Magenbeschwerden verursachen (zum Beispiel Antibiotika).
- Ein aufgeblähter Darm kann dazu führen, dass sich eine Person satt fühlt, obwohl das nicht der Fall ist.
Unterstütze dein Kind bei der Übermittlung von körperlichen Schmerzen oder Beschwerden, zum Beispiel mithilfe von
- Bildern von Körperteilen
- Symbolen für Symptome
- Schmerzskalen, Schmerzdiagrammen, oder
- Apps.
Präsentation des Essens
Die Liebe zum Detail und Schwierigkeiten mit Veränderungen sind charakteristisch für autistische Menschen. Die Art und Weise, wie das Lebensmittel auf dem Teller präsentiert oder angeordnet wird, oder die Verpackung des Lebensmittels kann bestimmen, ob sie es essen oder nicht.
Wurde die Anordnung der Speisen auf dem Teller geändert? Ist das Essen zu viel oder zu wenig gekocht? Hat sich die Verpackung geändert? Hat das Logo eine andere Farbe? Ist die Packung beschädigt? Hast du eine andere Marke gekauft?
Soziale Überlegungen
- Manche Kinder essen in Gesellschaft ihrer Familie oder anderer Kinder besser. Sie sind möglicherweise eher bereit, neue Lebensmittel zu probieren, wenn sie sehen, dass andere Menschen dasselbe Essen probieren und es genießen.
- Für andere kann die soziale Natur der Mahlzeiten stressig sein. Sie sind vielleicht entspannter und essen mehr und abwechslungsreicher, wenn sie alleine in einem anderen Raum essen.
- Schirmt dein Kind sich sensorisch ab, zum Beispiel, indem es beim Essen ein Buch liest? Vielleicht steht das Buch sogar hinter dem Teller aufgebaut wie eine Mauer zwischen dem Kind und dem Rest der Familie? Das ist kein Zeichen der Ablehnung, sondern ein Anzeichen, das das Kind durch die Reizintensität und/oder die sozialen Anforderungen überlastet ist.
- Wenn eine Mahlzeit nicht zu Hause sein wird, bereite das Kind im Voraus vor, indem du ihm mitteilst, wer dort sein wird, neben wem es sitzen wird, worüber die Leute sprechen könnten und was sie sagen könnten, um ein Gespräch zu beginnen.
Stress
Manche Kinder reagieren körperlich auf Stress und können nicht essen, wenn sie gestresst sind.
- Manche Kinder müssen sich nach der Schule erst entspannen, um essen zu können. Überlege, was dabei helfen kann – zum Beispiel Lieblingsbeschäftigungen, Musik, Bewegung, Gewichtsdecken oder -westen, oder eine bestimmte Routine.
- Beim Essen sollten keine konfliktreichen Themen besprochen werden – auch nicht mit Geschwistern oder die Eltern untereinander.
- Versuche, Stressfaktoren rund ums Essen zu identifizieren und zu minimieren. Für motorisch ungeschickte Kinder kann es zum Beispiel ein Stressfaktor sein, wenn ihre Essmanieren und ihr Kleckern immer wieder kritisiert werden.
Andere Kinder reagieren auf Stress mit übermäßigem Essen (Futter für die Seele
). Überlege, welche anderen Wege es geben könnte, Stress abzubauen.
Autistische Kinder sind im Allgemeinen sehr viel Stress ausgesetzt und man sollte diesen reduzieren, wo man es kann.
Zwänge, Interessen und Routinen
Viele autistische Menschen sind zwanghaft. Wenn bestimmte Lebensmittel oder die Kalorienzählung einen Zwang darstellen, kann dies zu Überernährung, Unterernährung oder einer einseitigen Ernährung führen.
Aber Zwanghaftigkeit oder intensive Interessen können auch hilfreich sein.
- Du kannst versuchen, eine Zwanghaftigkeit in Bezug auf Essen oder auf Gewichtsverlust in etwas Positives wie Kochen und Schreiben von Rezepten zu lenken.
- Du kannst ein besonderes Interesse nutzen, um das Kind dazu zu ermutigen, mehr oder abwechslungsreicher zu essen, zum Beispiel, indem ihr von einer Thomas-the-Tank-Engine-Platte esst, Lebensmittel in Raketenformen schneidet oder Lebensmittel aus dem Land oder der Region seines Lieblingssängers oder seiner Lieblingssportmannschaft erkundet.
Viele autistische Menschen verlassen sich auf Routine und Gleichheit. Um gut zu essen, müssen sie möglicherweise jeden Tag zur gleichen Zeit essen, an der gleichen Position am Tisch sitzen oder immer den gleichen Teller und das gleiche Besteck verwenden.
Dieses Bedürfnis nach Gleichheit kann auch die Präferenz mancher autistischer Menschen für verarbeitete Lebensmittel erklären. Verarbeitete Lebensmittel sind vorhersehbar. Sie sehen jedes Mal gleich aus und schmecken gleich. Im Gegensatz dazu gibt es bei frischen Lebensmitteln immer natürliche Variationen.
Bewältigungsstrategien
Was als Zwanghaftigkeit erscheint, ist manchmal tatsächlich eine Bewältigungsstrategie. Einige autistische Menschen sagen, die Welt fühle sich überwältigend und dies könne ihnen erhebliche Sorgen bereiten. Einige Menschen essen vielleicht aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühls oder ihrer Angst zu viel oder verzichten auf bestimmte Lebensmittel.
- Versuche, alle belastenden Dinge rund ums Essen zu minimieren – das Ernährungstagebuch hilft dabei.
- Fördere andere Bewältigungsstrategien, zum Beispiel dem Kind Zeit für seine Interessen einzuräumen.
Die Menge an Essen
Übergewicht und Fettleibigkeit sind bei Menschen im Autismus-Spektrum verbreitet: Eine Studie hat gezeigt, dass in Amerika beinahe die Hälfte der autistischen Kinder im Alter von 10 bis 17 übergewichtig oder fettleibig sind. Bei nicht-autistischen Kindern ist es weniger als ein Drittel.
Das bestätigt bisherige Untersuchungen: Von 21 Studien, die in den letzten Jahren zu dieser Frage veröffentlicht wurden, fanden 16 ein erhöhtes Risiko für Übergewicht bei Kindern im Autismus-Spektrum.
Die Studie stellte auch fest, dass stärker autistische Menschen ein höheres Risiko für Übergewicht hatten als Menschen, bei denen die autistischen Eigenschaften weniger stark ausgeprägt waren.
Warum isst mein Kind zu viel?
Wenn du herausfindest, warum dein Kind zu viel isst, kannst du sein Essverhalten besser steuern.
Wende dich zunächst an deine Kinderärzt*in, um Grunderkrankungen auszuschließen.
Wenn keine medizinischen Gründe vorliegen, kann es sein, dass dein Kind aus einem oder mehreren der folgenden Gründe zu viel isst:
- Gewohnheit: Wenn du ein paar Tage lang ein Esstagebuch führst, kannst du feststellen, ob das Naschen deines Kindes ein Muster aufweist. Nascht es zu bestimmten Tageszeiten? Während es fernsieht? Am Computer? Gibt es Phasen im Tagesablauf, wo das Kind aus Langeweile isst?
- Zwanghaftes Verhalten: Ist das übermäßige Essen deines Kindes mehr als nur eine Gewohnheit? Vielleicht ist ein bestimmtes Lebensmittel zum Zwang geworden, den es nicht kontrollieren kann. Wenn dein Kind zu den Mahlzeiten zu viel isst und zu viel essen möchte, zeigt es möglicherweise Anzeichen von zwanghaftem Verhalten.
- Nebenwirkungen von Medikamenten: Einige Verhaltensmedikamente können dazu führen, dass Kinder mehr essen und an Gewicht zunehmen. Dies liegt daran, dass die Medikamente die Hormone verändern, die den Appetit steuern, und wie der Körper die Nahrung verarbeitet.
- Unvorhersehbare Essenszeiten: Wenn dein Kind keine festen Essenszeiten hat, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es den ganzen Tag über zahlreiche Snacks zu sich nimmt.
- Sensorische Sensitivitäten: Wenn dein Kind beispielsweise weiche Texturen mag, sucht es möglicherweise regelmäßig nach weichen Lebensmitteln.
Was tun, wenn mein Kind zu viel isst?
- Wenn du denkst, dass das übermäßige Essen auf Obsessionen oder Zwänge zurückzuführen ist, versuche zu begrenzen, wie viel Essen du auf den Teller deines Kindes gibst und wie viel Essen in Sicht ist.
- Wenn du glaubst, dass die Medikamente deines Kindes das Problem sein könnten, sprich mit deine*r Kinderärzt*in, darüber, ob das Medikament durch ein anderes ersetzt werden kann. Es kann einige Versuche dauern, um herauszufinden, welche Medikamente am besten für den Körper deines Kindes geeignet sind.
- Regelmäßige Mahlzeiten können deinem Kind dabei helfen, sich an bestimmte Essensmengen zu bestimmten Zeiten anzupassen. Während sich dein Kind an die neue Routine gewöhnt, kann es hilfreich sein, einige fettarme, energiesparende Snacks zur Hand zu haben, damit es bei den nächsten Mahlzeiten nicht zu satt ist.
- Versuche, deinem Kind beizubringen, wie es sich anfühlt,
hungrig
undsatt
zu sein. Dabei kann auch eine visuelle Skala helfen. Wenn das Kind keinen Hunger hat, sollte es warten, bis es etwas isst. Wenn es nach dem Essen immer noch hungrig ist, ermutige es, einige Minuten zu warten. Meistens fühlt es sich dann satt. - Manchmal glauben Kinder, hungrig zu sein, wenn sie wirklich nur Durst haben. Stelle sicher, dass dein Kind zwischen den Mahlzeiten den ganzen Tag über genug Wasser trinkt.
- Wenn dein Kind bei Langeweile gern eine Kleinigkeit isst, versuche, ein paar Aktivitäten in der Hinterhand zu haben, damit es beschäftigt ist, bis es Zeit zum Essen ist.
- Wenn du
problematische
Lebensmittel oder Snacks nicht in Reichweite hast, kann das deinem Kind helfen, weniger zu essen. Wenn dein Kind älter ist oder besonders gut versteckte Bereiche erreichen kann, solltest du diese Lebensmittel nach Möglichkeit nicht zu Hause aufbewahren. - Ermutige dein Kind, sich im Rahmen eines ausgewogenen und gesunden Lebensstils körperlich zu betätigen.
- Wenn dein Kind nach bestimmten Sinnesempfindungen sucht, versuche, ein sensorisches Objekt (Lebensmittel) durch ein anderes (Nicht-Lebensmittel) zu ersetzen. Wenn dein Kind beispielsweise das Gefühl von weichen Substanzen im Mund mag, kannst du ihm jeden Tag Zeit geben, um mit der Knetmasse zu spielen. Wenn es weiches Essen sucht, gib ihm stattdessen den Spielteig, den es mit seinen Händen fühlen kann.
Leider zielen pädiatrische Adipositas-Behandlungen bisher praktisch nur auf neurotypische Kinder. Dabei müsste man nicht das Rad neu erfinden, sondern nur ein paar kleine, aber wichtige Änderungen vornehmen: Zum Beispiel wird im Rahmen einer solchen Behandlung typischerweise empfohlen, alle zuckerhaltigen Getränke im Haus wegzuwerfen. Das Kind, so die Vorstellung, wird sich dann zuerst sträuben und jammern, schließlich aber aus Durst auf Wasser umstellen. Ein autistisches Kind wird sich wahrscheinlich nicht so einfach umstellen. Die Forscherin Carol Curtin, die untersucht, wie man solche Programme an autistische Kinder anpassen kann, empfiehlt, statt dessen eine Limo pro Tag gegen Wasser auszutauschen und schrittweise auf einen vollständigen Austausch hinzuarbeiten.
Spezielle Probleme
Körperliche Probleme
Das Essen kann durch eine Verzögerung der körperlichen Entwicklung oder einen niedrigen Muskeltonus beeinträchtigt werden. Du kannst Aktivitäten fördern, die zur Entwicklung von Mund- und Kieferbewegungen beitragen, zum Beispiel Strohhalme, Pfeifen, Blasen oder Zahnbürsten.
Prader-Willi-Syndrom
Manche Menschen essen zu viel, weil sie nicht wissen können, wann sie satt sind. Dies ist ein Symptom des Prader-Willi-Syndroms. Das Prader-Willi-Syndrom ist genetisch bedingt und Menschen mit Prader-Willi-Syndrom haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, autistisch zu sein.
Hochwürgen
Einige Kinder mit Autismus übergeben sich und kauen die zuvor verzehrten Lebensmittel erneut. Aus offensichtlichen Gründen verursacht das soziale Probleme – Familienmitglieder mögen es ertragen, aber potenzielle Freunde kann es abschrecken –, aber es gibt auch Gesundheitsrisiken: Die menschliche Speiseröhre ist nicht dafür ausgelegt, häufiger Einwirkung von Magensäure zu widerstehen, und kann davon beschädigt werden.
Pica
Als Pica oder Pica-Syndrom bezeichnet man das Essen von Dingen, die nicht als essbar gelten, zum Beispiel Papier, Steine, Büroklammern oder Zigaretten. Je nachdem, was dabei gegessen wird, kann Pica gefährlich sein.
Erfahre hier mehr über Pica.
Magersucht
Magersucht ist eine schwere Essstörung, die Frauen und Männer betreffen kann. Autistische Frauen entwickeln viel häufiger Magersucht als nicht-autistische Frauen.
Binge Eating
Manche autistischen Menschen haben ein Essverhalten, das ungefähr dem entspricht, was im DSM als Binge-Eating-Störung bezeichnet wird.
Es gibt keine konkreten Zahlen über Binge-Eating bei autistischen Menschen. Eine Studie hat aber gezeigt, dass 3 bis 42% der Erwachsenen in Anstalten Binge-Eating-Verhalten zeigen; in kleineren Wohnheimen sind es immer noch 1 bis 19%. Möglicherweise sind die Lebensumstände ein Risikofaktor.
Manche autistischen Menschen erfüllen formal nicht die Diagnosekriterien für Binge-Eating, weil sie zum Beispiel wegen Alexithymie und Kommunikationsproblemen nicht sagen können, wie sie sich fühlen. Die Ernährungsberaterin Janice Goldschmidt, die auf Essstörungen bei lernbehinderten und autistischen Menschen spezialisiert ist, zeigt, dass man sie durch angepasste Kriterien ersetzen kann:
Tabelle 1: Umwandlung der DSM-Kriterien in angepasste Kriterien für autistische Menschen
Offizielle DSM-5-Kriterien | Alternative Kriterien für autistische Menschen |
---|---|
Schneller als normal essen | Schnell essen |
Essen, bis man unangenehm voll ist | Essen, wann immer Essen verfügbar ist |
Essen, wenn man keinen Hunger hat oder satt ist | Zu viel essen |
Gefühle von Ekel, Depression oder Schuldgefühlen nach dem Essen | – |
Aus Beschämtheit allein essen | Essen stehlen |
Fachkräfte, die helfen können
Die Bandbreite und Häufigkeit von Essproblemen und Essstörungen bei autistischen Menschen zeigt, dass es hier einen großen Bedarf an Unterstützung gibt. Trotzdem kennen sich viele Fachkräfte nicht oder kaum mit Autismus aus. Es wäre wünschenswert, dass sich mehr Fachkräfte für Essstörungen im Bereich Autismus weiterbilden, um Autist*innen besser unterstützen zu können.
Prinzipiell können hilfreich sein:
- Zahnärzt*innen: Essstörungen können zu schlechtem Zahnhygienemanagement oder Zahnschmerzen führen oder von diesen beeinflusst werden.
- Ernährungsberater*innen: Sie bieten die Bewertung und Behandlung von ernährungsbedingten Gesundheitsproblemen wie Verstopfung, Allergien und Unverträglichkeiten sowie praktische Ratschläge zu Essstörungen, Gewichtszunahme und Gewichtsverlust.
- Klinik für Essstörungen.
- Klinische Psycholog*in oder Psychiater*in: Wenn das Problem psychologischer Natur ist, können sie helfen.
- Kinderärzt*in: Expert*innen für Kindergesundheit, die bei der Lösung von Ernährungsproblemen und der Untersuchung der zugrunde liegenden Probleme helfen können. Kinderärzt*innen oder Hausärzt*innen können auch überprüfen, ob die Blutwerte für Vitamine und Mineralstoffe im normalen Bereich liegen.
- Ergotherapeut*in: Kann Ihnen möglicherweise Ratschläge geben, wie Sie mit der Situation zu Hause umgehen.
- Logopäd*in: Kann bei Ernährungsproblemen und Schluckstörungen (Dysphagie) beraten.
Auch der Austausch in Eltern-Selbsthilfegruppen kann wertvoll sein.
Quellen und Literatur
Zuletzt bearbeitet am 26.04.2023.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus