Wir sind autistisch und das ist gut so.

Nachdem ich in Teil 1 die Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum beschrieben habe, zeige ich hier Wege, wie man einer Person mit sensorischen Schwierigkeiten helfen kann. Oft machen auch kleine Veränderungen in der Umgebung einen spürbaren Unterschied.

Drei Dinge sollte man im Kopf behalten:

  • Sei sensibilisiert für die Schwierigkeiten: Sieh Dir die Umgebung daraufhin an, ob etwas darin Menschen im Autismus-Spektrum Probleme bereiten könnte.
  • Sei kreativ: Denk Dir positive sensorische Erlebnisse aus.
  • Sei vorbereitet: Sage Menschen im Autismus-Spektrum, auf welche sensorischen Reize sie in verschiedenen Umgebungen stoßen können.

So kannst du helfen

Sehen

Hyposensitivität

  • Verstärkte Verwendung visueller Hilfen (Bildmaterial).
  • Um wichtige Dinge hervorzuheben, bunte und auffällige Farben verwenden (zum Beispiel ein Textmarker statt einfachem Unterstreichen).
  • Visuelle Anregung können zum Beispiel Lavalampen oder Discokugeln geben.

Hypersensitivität

  • Fluoreszierendes Licht vermeiden – weiches Licht oder indirekte Beleuchtung verwenden. Eventuell auch farbige Glühbirnen.
  • Grelles, flackerndes oder blinkendes Licht (zum Beispiel bestimmte Weihnachtsdekoration), Diskokugeln und ähnliches meiden.
  • Grelle und kontrastreiche Farben oder wilde Muster vermeiden (zum Beispiel Tapeten, Böden, Wohnungseinrichtung, Kleidung). Wände sind zum Beispiel besser cremefarben gestrichen als weiß oder gelb, einfarbige besser als gemusterte.
  • Die Umgebung möglichst aufgeräumt halten. Kinderspielzeug kann man zum Beispiel in großen Kisten verstauen, die man schnell wegräumen kann.
  • Tragen von Sonnenbrille, eventuell auch einer Schirmmütze.
  • Schaffe einen visuell abgeschirmten Arbeitsplatz im Klassenzimmer, um visuelle Ablenkungen auszublenden. Raumteiler seitlich am Tisch sind dafür gut geeignet.
  • Wenn die Sonne zu grell in den Raum scheint, helfen (auch Verdunklungsvorhänge) besser als Jalousien, das intensive Licht draußen zu halten. Auch bei Einschlafschwierigkeiten an hellen Sommerabenden sind Verdunklungsvorhänge sinnvoll.
  • Bei Computerarbeit mit gutem Bildschirm arbeiten, Helligkeit individuell einstellen.

Hören

Hyposensitivität

  • Verwende Bildmaterial, um sprachliche Information zu unterstützen.

Hypersensitivität

  • Türen und Fenster schließen, um Außengeräusche fernzuhalten.
  • Die Entstehung von Geräuschen vermeiden: zum Beispiel ist das Gehen und Spielen auf Teppich leiser als auf Laminat.
  • Einen ruhigen Arbeitsplatz schaffen.
  • Bevor man ein lautes Gerät anschaltet, warnt man die Person.
  • Bevor man zu einem lauten oder belebten Platz geht, bereitet man die Person darauf vor. Dafür kann man zum Beispiel Social Stories oder einen Tagesplan verwenden.
  • Ohrstöpsel oder Kopfhörer tragen. (Vorsicht im Straßenverkehr!)
  • Musik hören.
  • Störender Hall lässt sich durch dicke Vorhänge und Teppiche oder auch Regalen an den Wänden abmildern.

Berührungen

Hyposensitivität

  • Verwendung von Gewichtsdecken oder -westen.

Hypersensitivität

  • Keine unerwarteten Berührungen. Wenn man eine Person berühren muss, warnt man sie vorher. Man nähert sich immer von vorn.
  • Daran denken, dass eine Umarmung schmerzhaft sein kann statt beruhigend oder tröstend.
  • Verschiedene Texturen (Oberflächenstruktur) allmählich einführen – halte eine Kiste mit Material bereit.
  • Lass die Person Tätigkeiten selbst durchführen (zum Beispiel Haare waschen und kämmen), so dass sie es so machen kann, wie es für sie angenehm ist.
  • Manche Menschen, die leichte Berührungen nicht mögen, finden kräftigen Druck angenehm.
  • Gewichtsdecken oder -westen vewenden auch hypersensible Personen gern.

Geschmack

Einige Menschen im Autismus-Spektrum sind über- oder unterempfindlich auf Geschmack, und essen vielleicht nur fades Essen oder wollen sehr stark gewürztes Essen. Ich habe dazu keine Vorschläge in diese Liste aufgenommen, weil es nicht unbedingt Schwierigkeiten bereitet, solange die Ernährung nicht ungesund ist.

Nachwürzen ist kein Problem. Unter Umständen muss man Nahrung etwas anders zubereiten, damit sie gegessen wird. Pürieren kann man ja nicht nur Kartoffeln, sondern, wie die Smoothie-Welle zeigt, fast alles.

Geruch

Hyposensitivität

  • Biete stark riechende Gegenstände an. Verwende sie unter Umständen, um Menschen von unangemessenen Geruchsreizen abzulenken.
  • Wenn Gegenstände abgeleckt werden, auf ungiftige Materialien achten (zum Beispiel ungiftige Wandfarben).

Hypersensitivität

  • Verwende unparfümierte Waschmittel, Putzmittel, Seife und Shampoo. Vermeide Parfüms und Deos und mache die Umgebung so geruchsarm wie möglich.

Gleichgewicht

Hyposensitivität

  • Ermutige zu Aktivitäten, die den Gleichgewichtsinn anregen. Für Kinder könnte das zum Beispiel Karussel fahren, Reiten, Schaukeln, Wippen und Trampolins sein. Auch viele Erwachsene im Autismus-Spektrum mögen diese Aktivitäten. Auch Ballspiele und andere sportliche Aktivitäten kommen in Frage.

Hypersensitivität

  • Zerteile komplexe motorische Bewegungen in kleine, einfache Schritte; verwende visuelle Hilfen wie eine Ziellinie.

Eigenwahrnehmung

Hyposensitivität

  • Ordne Möbel in Raum so an, dass es einfacher wird, durch den Raum zu laufen, ohne sich anzustoßen.
  • Klebe farbiges Klebeband auf den Boden, um Wege und Grenzen anzuzeigen.
  • Verwende die Armlänge-Regel, um den persönlichen Raum anderer Menschen einzuschätzen. Das bedeutet, eine Armlänge von der anderen Person entfernt zu stehen.
  • Wenn Eltern feststellen, dass ihr Kind auch bei größeren Verletzungen kaum Schmerzen zeigt, sollten sie bei eventuellen Arzt- oder Krankenhausbesuchen darauf hinweisen, weil anhand des Vorhanden- oder Nichtvorhandenseins von Schmerzen auch Diagnosen gestellt werden. Wenn ein Kind kaum Anzeichen von Schmerzen äußert, wird unter Umständen eine akute Blinddarmentzündung zu spät erkannt.

Hypersensitivität

  • Feinmotorische Spiele spielen.

Kommunikation über Wahrnehmung

Empfehlenswert ist es auch, mit Kindern häufig über Wahrnehmungen und körperliche Empfindungen zu kommunizieren (Wie gefällt Dir Du die Musik?, Stört Dich das Geräusch?), um ihr Bewusstsein für ihre Empfindungen und ihre Kommunikationsfähigkeit dazu zu entwickeln. Im Laufe der Zeit lernen sie vielleicht, Anzeichen für Overloads frühzeitig selbst zu erkennen (und zu vermeiden) oder sie stellen fest, dass grelles Licht sie von den Hausaufgaben ablenkt und können das mitteilen.

Viele Kinder (und Erwachsene) im Autismus-Spektrum profitieren davon, Reize selbst steuern zu können: Sie mögen laute Musik, wenn sie sie selbst machen, manche haben keine Probleme mit lauten Staubsaugergeräuschen, wenn sie selbst saugen dürfen.

Es ist nicht immer sinnvoll, eine Umgebung permanent reizarm zu halten. Wichtiger ist es, dass die Person die Möglichkeit hat, die Reize bzw. ihre Reizbelastung selbst zu steuern.

Wie die Wahrnehmungsverarbeitung das Verhalten beeinflusst

Manchmal verhält sich eine Person im Autismus-Spektrum auf eine Weise, die man nicht unmittelbar mit der Reizverarbeitung in Verbindung bringen würde – aber genau das kann die zugrundeliegende Ursache sein.

Ein autistisches Kind kann zum Beispiel einen plötzlichen und für Außenstehende grundlos erscheinenden Wutanfall bekommen, wenn irgendwo im Gebäude ein Ventilator eingeschaltet wird. Das Geräusch ist für das Kind intensiv und unerträglich, während andere Leute es nicht einmal bewusst wahrnehmen. Es ist wichtig zu verstehen, dass plötzliche Wutanfälle nicht grundlos sind, sondern Gründe haben, die unter Umständen schwer erkennbar sind, und sich klarzumachen, dass Hypersensitivitäten keine Einbildung sind, sondern sehr real. Wenn Eltern und Lehrkräfte darauf achten, können sie solche Störquellen oft ausschalten.

Hier sind ein paar Beispiele davon, wie das Verhalten einer Person auf ihre Wahrnehmungsverarbeitung zurückgehen kann, und wie man helfen kann.

Pingelige Esser

  • Mögliche Gründe: Empfindlichkeit gegen Geschmack oder Konsistenz des Essens, oder nicht in der Lage, Essen in der Mundregion zu spüren.
  • Mögliche Lösungen: Konsistenz des Essens verändern (zum Beispiel pürieren). Allmählich verschiedene Texturen am Mund verwenden, zum Beispiel Handtücher, Zahnbürste und verschiedene Nahrungsmittel. Zu Tätigkeiten ermutigen, die den Mund mit einbeziehen, zum Beispiel Pfeifen, Seifenblasen oder mit Strohhalmen Blubberblasen im Wasser machen. (Die Wahrnehmung der Mundregion ist auch für die Entwicklung der Lautsprache wichtig.)

Alles ankauen, einschließlich Kleidung und Gegenstände

Mögliche Gründe: Vielleicht findet die Person das entspannend oder genießt einfach das Gefühl, an dem Gegenstand zu kauen.
Mögliche Lösung: Es gibt spezielle sensorische Kauprodukte (zum Beispiel von Chewigam oder Chewbuddy). Manchmal können auch bestimmte Nahrungsmittel eine Alternative sein, zum Beispiel harte, zähe Süßigkeiten (vorher in den Kühlschrank legen) oder auch Karotten.

Schmieren mit Fäkalien

  • Mögliche sensorische Gründe: Vielleicht mag die Person die Konsistenz von Fäkalien und/oder ist nicht sehr empfindlich gegenüber Gerüchen.
  • Mögliche Lösungen: Versuche, Alternativen zum Schmieren anzubieten, zum Beispiel Gelee, Maisstärke mit Wasser oder eine Matschgrube im Freien. Biete alternative stark riechende Dinge an.

Weigerung, bestimmte Kleidung zu tragen

  • Mögliche Gründe: Die Person mag vielleicht die Beschaffenheit der Kleidung nicht (vielleicht kratzt oder irritiert sie) oder sie mag den Druck der Kleidung auf der Haut nicht.
  • Mögliche Lösungen: Kleidung auf links tragen, so dass die Nähte außen sind, Etiketten entfernen, der Person erlauben, Kleidung zu tragen, in denen sie sich wohl fühlt.

Schwierigkeiten, einzuschlafen

  • Mögliche Gründe: manche Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Sinne herunterzufahren, besonders Sehen und Hören.
  • Mögliche Lösungen: Verdunklungsvorhänge oder bescherte Decken; Musik hören, um externe Geräusche auszublenden.

Schwierigkeiten, sich im Klassenzimmer zu konzentrieren

Mögliche Gründe:

  • zu viele Ablenkungen (Reden, Pausenglocke, Stühle kratzen am Boden, Papier knistert) oder visuelle Reize (Menschen, Bilder an der Wand).
  • Findet es vielleicht auch unangenehm, den Stift zu halten, weil er sich hart oder kalt anfühlt.

Mögliche Lösungen:

  • Sitzplatz sorgfältig auswählen: Manche Kinder sind am Fenster oder an der Tür abgelenkt, andere sind entspannter (und konzentrierter), wenn sie außen sitzen. Manche Kinder müssen vorne sitzen, um die Lehrkraft über die Hintergrundgeräusche problemlos zu verstehen.
  • Ein Arbeitsplatz mit Raumteilern darum herum kann helfen, oder die Möbel im Klassenzimmer werden so angeordnet, dass eine ablenkungsfreie Zone für das Kind geschaffen wird.
  • Manche Kinder arbeiten zeitweise in einem anderen Raum oder einer Sitzecke im Flur. Beim Stift sollte man verschiedene Oberflächen anbieten, damit das Arbeiten damit angenehmer wird.
  • Herausfinden, welche Reize besonders stören und wenn möglich beseitigen (zum Beispiel quietschende oder knarrende Stühle ölen oder reparieren).

Fachkräfte, die helfen können

  • Ergotherapeuten gestalten Programme und schaffen oft Veränderungen in der Umgebung, so dass Menschen mit sensorischen Schwierigkeiten so gut und selbstbestimmt wie möglich leben können.
  • Logopäden verwenden oft visuelle Reize, um die Sprachentwicklung und Interaktion zu ermutigen und zu unterstützen.
  • Musiktherapeuten verwenden Instrumente und Geräusche, um die Sinneswahrnehmung zu entwickeln, üblicherweise den Hörsinn.

Sensorik-Raum und Ruheraum

Ein Sensorik-Raum ist ein speziell gestalteter Sensorik-Raum, der helfen kann, die sensorischen Systeme anzuregen, zu entwickeln oder ins Gleichgewicht zu bringen. Manche Dienste für Menschen mit Behinderungen, Förderschulen, integrative Kindergärten oder Krankenhäuser haben sie. Manche Familien schaffen einen Sensorik-Raum in ihrem Haus (oder richten eine Ecke eines Raum dafür ein, vielleicht mit einem Vorhang abgetrennt).

Sensorik-Räume könne zum Beispiel folgendes umfassen:

  • Entspannungsmusik
  • vibrierende Kissen
  • Lavalampen
  • Lichtleitkabel
  • Discokugeln
  • Wasserbett
  • taktile Wände
  • Licht- & Farb-Projektionen
  • Mit Bohnen gefüllte Kissen
  • Material, das durch Bewegungen, Geräusche oder Druck aktiviert wird, so dass die Nutzer Ursache und Wirkung lernen

Die Vorteile von Sensorik-Räumen wurden bisher wissenschaftlich wenig erforscht. Es gibt positive Erfahrungsberichte von Menschen im Autismus-Spektrum und anderen Menschen mit sensorischen Schwierigkeiten, dass sie Sensorik-Räume nützlich und angenehm finden.

Ein Sensorik-Raum kann auch als Ruheraum/Rückzugsort genutzt werden; dann lässt man die Discokugel und ähnliches ausgeschaltet.

Ein Rückzugsort kann auch das eigene Zimmer sein, manche Eltern richten ihrem Kind dort eine gemütliche Nische ein, eventuell mit Vorhang abgetrennt. Die meisten Kinder lieben die kleinen Verstecke. Manche Eltern stellen sogar ein kleines Zelt ins Kinderzimmer, um von visuellen Reizen abzuschirmen.

Sensorik-Kiste

Die Sensorik-Kiste enthält eine Auswahl an sensorisch interessantem Material. Man kann die Kiste oder einzelne Gegenstände zum Beispiel auch mitnehmen, wenn man unterwegs ist, und gegen Stress, Ängste oder Reizüberflutung helfen. In der Sensorik-Kiste können zum Beispiel ein Anti-Stress-Ball, Riechlotionen oder ähnliches sein.

Garten

Ein Garten kann für Menschen im Autismus-Spektrum nützlich sein. Manche finden Herumrennen im Garten effektiv, um in einer sicheren Umgebung Stress abzubauen, andere entspannen sich gern im Garten.

Manche Familien mit autistischen (und nicht-autistischen!) Kindern haben ein Trampolin oder einen Boxsack im Garten. Es kann nützlich sein, auch im Haus Raum für Sport und Bewegungsspiele zu schaffen.

Zuletzt bearbeitet am 02.02.2022.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus