Wir sind autistisch und das ist gut so.

Was ist das Pica-Syndrom?

Das Pica-Syndrom ist eine Essstörung, die gekennzeichnet ist durch das Essen von nicht essbaren Gegenständen, zum Beispiel Steine, Erde, Papier, Seife, Fäkalien, Buntstifte, Fäden oder Büroklammern.

Pica kann ein bisschen eklig sein und keiner redet gern darüber. Aber wir sollten darüber reden, weil Pica auch gefährlich sein kann. Und falls dein Kind sich nicht davon abbringen lässt, immer wieder ungenießbare Gegenstände zu essen: Du bist damit nicht allein. Pica ist unter autistischen Menschen häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.

Auch andere Essprobleme bei Menschen im Autismus-Spektrum kommen regelmäßig vor.

Symptome des Pica-Syndroms

Das sind Symptome des Pica-Syndroms:

  • Die Person isst seit mindestens einem Monat immer wieder Dinge, die nicht essbar sind.
  • Das Essen von nicht essbaren Dingen passt nicht zum Entwicklungsstand der Person.
  • Das Essverhalten ist nicht Teil einer kulturell oder gesellschaftlich anerkannten Praxis.
  • Wenn das Essverhalten im Zusammenhang mit einer anderen Diagnose (z. B. geistige Behinderung, Autismus-Spektrum-Störung, Schizophrenie) oder einem medizinischen Zustand (einschließlich Schwangerschaft) auftritt, muss es schwerwiegend genug sein, um zusätzliche klinische Aufmerksamkeit zu rechtfertigen.

Das lateinische Wort »pica« bedeutet auf deutsch Elster. DIe Bezeichnung des Pica-Syndroms ist davon abgeleitet, weil diesem Vogel nachgesagt wird, dass er gern glänzende, nicht-essbare Gegenstände in seinem Schnabel wegträgt.

Pica: Essstörung, bei der Menschen Dinge zu sich nehmen, die allgemein als ungenießbar betrachtet werden.

Wie häufig ist Pica?

Bei kleinen Kindern unter drei Jahren ist es normal, dass sie ihr Spielzeug in den Mund nehmen, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, oder ausprobieren, wie Erde schmeckt. Deshalb steht auf Spielzeug mit Kleinteilen die Warnung »Nicht für Kinder unter drei Jahren«. Das ist kein Pica, sondern ganz normal.

In der Allgemeinbevölkerung (über drei Jahren) ist Pica selten. Es tritt vermehrt auf bei

  • autistischen Menschen, Menschen mit Intelligenzminderung oder psychischen Krankheiten
  • Schwangeren
  • Menschen mit Nährstoffmangel

Eine Studie gibt an, dass Pica bei 12% der autistischen Kinder in der Studie vorkam. Allerdings muss Pica nicht in jedem Fall ein Problem sein.

Was ist das Problem an Pica?

Manchmal ist Pica ein bisschen eklig, aber eher harmlos: Wenn ein Kind kleine Mengen an Sand oder Gras isst, oder kleine Stückchen Papier kaut und schluckt, führt das meist nicht zu gesundheitlichen Problemen. Klar, die Leute gucken. Aber das tun sie halt. Da muss man sich eine dicke Haut zulegen.

Aber Pica kann auch gefährlich sein. Es kann zu ernsthaften gesundheitlichen Gefahren und in einzelnen Fällen sogar zum Tod führen.

Diese Gefahren sind zum Beispiel:

  • Zahnverletzungen durch Verzehr von harten oder schmirgelnden Gegenständen
  • Erstickungsanfälle
  • Darmblockaden oder Bauchschmerzen
  • Innere Verletzungen, die eine Notoperation erfordern
  • Parasitäre Infektionen durch Verzehr von Schmutz oder Fäkalien
  • Vergiftung zum Beispiel durch den Verzehr von Chemikalien oder Zigaretten

Um so erstaunlicher ist es, dass es relativ wenig Forschung zu Pica bei autistischen Menschen gibt.

Eltern und Betreuungspersonen wissen oft nicht, wie sie mit Pica umgehen sollen. Deshalb habe ich diesen Ratgeber geschrieben.

Ursachen des Pica-Syndrom

»Warum macht mein Kind das?« fragen sich viele Eltern. Die Gründe zu verstehen, ist wichtig, um das Pica-Verhalten zu mindern oder zu eliminieren.

Leider kann man nicht in jedem Fall genau feststellen, warum Pica-Verhalten auftritt. Es gibt mehrere mögliche Gründe für Pica bei autistischen Menschen:

  • Sensorischer Input
    Die häufigste ist der sensorische Input: Die Person sucht nach Sinneseindrücken, zum Beispiel nach der Oberflächenstruktur oder dem Geschmack eines Gegenstands. Sie genießt es, wie es sich anfühlt, wenn sie bestimmte nicht essbare Dinge isst. Diese Art der sensorischen Stimulation kann ähnlich sein wie andere autismusbezogene Verhaltensweisen, wie zum Beispiel sich im Kreis zu drehen oder mit den Händen zu wedeln (»Stimming«). Mehr darüber kannst du in meinem Artikel über die Wahrnehmungsverarbeitung autistischer Menschen lesen. Auch der Artikel speziell über hyposensitive Wahrnehmung kann interessant sein.
  • Abbau von Ängsten oder Stress
    Manchmal kann Pica mit starker Abspannung, Stress oder Ängsten zusammenhängen. Autistische Menschen reagieren darauf oft mit Stimming, und wie erwähnt, kann Pica eine Form von Stimming sein, wenn auch eine eher ungeeignete.
  • Schwierigkeiten, Dinge als nicht-essbar zu erkennen
    Für manche Kinder scheint es schwierig zu sein, Lebensmittel von Nicht-Lebensmitteln zu unterscheiden. Diese Kinder denken, sie essen Nahrungsmittel, wenn sie ungenießbare Gegenstände essen.
  • Nährstoffmangel
    Pica wird bei manchen Kindern – autistisch oder nicht – durch echtes Verlangen nach Nährstoffen wie Eisen oder Zink ausgelöst. In diesen Fällen kann Pica einen Nährstoffmangel, z.B. Eisenmangel, widerspiegeln.
  • Linderung von Schmerzen oder Beschwerden
    Manchmal kann Pica der Versuch sein, Schmerzen im Mundbereich oder im Rachen zu lindern. Das ist ein seltener Grund, aber es ist wichtig, ihn nicht zu übersehen.

Was keine Ursachen von Pica sind:

  • Der Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen.
    Manchmal liest man, dass Kinder Pica-Verhalten verwenden, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es mag von außen so aussehen, aber tatsächlich ist Pica im Allgemeinen kein Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen.
  • Probleme, seine Bedürfnisse mitzuteilen.
    Autistische Menschen haben oft Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Das führt aber im Allgemeinen nicht zu Pica. Es sieht vielleicht so aus, als ob die Person durch Pica versucht, mitzuteilen, dass sie Hunger hat. Tatsächlich werden essbare Alternativen aber oft abgelehnt. Meist gibt es keine Anzeichen dafür, dass Pica ein kommunikatives Verhalten ist. Manchmal wird es bewusst verheimlicht.

Was tun bei Pica?

Es gibt einiges, was du tun kannst, um die Gesundheit und Sicherheit deines Kindes zu schützen.

Mach einen Termin bei der Kinderärzt*in

Eisen- und Zinkmangel können zu Pica beitragen. Ein Bluttest auf Nährstoffmängel kann feststellen, ob ein Mangel vorliegt. Dann muss die Person entweder von bestimmten Lebensmitteln mehr essen oder Nahrungsergänzungsmittel nehmen.

Eine Ärzt*in oder Zahnärzt*in kann auch erkennen, ob gesundheitliche Probleme im Mundbereich oder im Rachen vorliegen, die möglicherweise das Pica-Verhalten auslösen.

Sprich mit der Ärzt*in auch über Pica. Wenn sie wissen, worauf der Appetit der Person mit Pica sich richtet, können sie darauf achten, ob dadurch gesundheitliche Probleme entstehen. Manche Kinder essen zum Beispiel bleihaltigen Modeschmuck. Die Bleikonzentration im Blut kann ebenfalls durch einen Bluttest festgestellt werden.

Auch mögliche Zahnprobleme, Magen-Darm-Blockaden und Infektionen, die durch Pica verursacht werden können, solltet ihr im Hinterkopf behalten, wenn das Kind krank wird und entsprechende Symptome hat.

Teile Lehrkräften und anderen Betreuungspersonen mit, dass dein Kind Pica hat

Sag ihnen, welche Arten nicht genießbarer Dinge dein Kind isst und in welchen Situationen. Die Lehrkräfte müssen dann bestimmte Dinge außerhalb der Reichweite des Kindes aufbewahren oder es in bestimmten Situationen besonders beaufsichtigen.

Tu dein Bestes, um dein Zuhause »pica-sicher« zu machen.

Lege die Gegenstände, die das Kind isst, außer Sichtweite oder weggeschlossen. Sauge oder kehre regelmäßig den Boden ab, wenn dein Kind Staub oder ähnliches isst. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, also hab Geduld mit dir selbst. Denk auch an andere Orte, an denen dein Kind Zeit verbringt.

Bereichere die Umgebung deines Kindes auf andere Weise

Das ist besonders wichtig, wenn das Pica deines Kindes mit der sensorischen Stimulation zusammenhängt, aber es kann jedem mit Pica helfen. Biete deinem Kind Zugang zu einer Vielzahl von Aktivitäten, die es genießt und die nicht seine Pica-Attraktionen beinhalten. Besonders zu empfehlen sind Aktivitäten, die seine Hände beschäftigen. Das allein kann seine Neigung, Dinge in den Mund zu nehmen, verringern.

Biete essbare Alternativen an

Versuche, den ungeeigneten Gegenstand durch eine geeignete Alternative mit ähnlicher Konsistenz zu ersetzen, zum Beispiel durch eine Karotte, Popcorn oder Kaugummi. Auch nicht-essbare Gegenstände, die nicht verschluckt werden können (auch nicht in Teilen), können eine Alternative sein.

Das Schwierige bei der Suche nach Alternativen ist, dass man oft nicht weiß, welche Eigenschaft der nicht-essbaren Dinge es ist, die die Person sucht.

Gestalte eine Pica-Box

Die Pica-Box enthält sichere Alternativen zu den ungenießbaren Gegenständen, die das Kind isst. Sie soll klein genug sein, dass sie unterwegs nicht stört – denn sie sollte immer dabei sein. Wenn das Kind dann versucht, etwas Ungenießbares in den Mund zu stecken, nimmt man es ihm weg und bietet stattdessen die Pica-Box an.

Bringe deinem Kind bei, Essen von Nicht-Essen zu unterscheiden

Falls du den Eindruck hast, dass dein Kind nicht weiß, was essbar ist und was nicht, dann übe mit ihm, zu erkennen, was essbar ist und was nicht.

Reduziere Stressfaktoren

Wenn das Pica-Verhalten stressbedingt ist, kann es helfen, Stressfaktoren oder Anforderungen zu reduzieren. Mache den Tagesablauf vorhersehbar (zum Beispiel mit einem visuellen Tagesplan) und vermeide unerwartete Veränderungen.

Außerdem kann man versuchen, Zeiten der Entspannung oder beruhigende Rituale in den Tagesablauf einzubauen. Denke aber daran, dass viele autistische Menschen Schwierigkeiten mit unstrukturierter Zeit haben. Manchmal ist es besser, die Anzahl der strukturierten Aktivitäten am Tag zu erhöhen.

Was nicht sinnvoll ist

Oft wird empfohlen, ABA oder Psychopharmaka gegen Pica einzusetzen. Ich verstehe zwar den dringenden Wunsch der Eltern, etwas (irgendetwas!) gegen das gefährliche Verhalten ihres Kindes zu tun. Mir würde es wahrscheinlich genauso gehen.

Aber: Lies dir oben noch einmal die Gründe durch, warum Kinder ungenießbare Sachen essen:

  • Sensorische Stimulation (bei weitem am häufigsten)
  • Abbau von Ängsten oder Stress
  • Unklarheit, ob etwas essbar ist
  • Nährstoffmangel
  • Linderung von Schmerzen

Die letzten beiden sollte man durch eine ärztliche Untersuchung ausschließen lassen. Ich denke, jedem leuchtet ein, dass ABA oder Psychopharmaka hier nicht das Mittel der Wahl sind.

Wenn ein Kind nicht weiß, ob etwas essbar ist, muss man ihm das beibringen. Dafür kannst du visuelle Hilfsmittel verwenden – vielleicht gestaltest du mit deinem Kind zwei Poster, eines mit Lebensmitteln, ein anderes mit nicht-essbaren Dingen. Ihr könnt im Laufe der Zeit weitere Dinge hinzufügen.

Auf diese Poster kann man beim Zubereiten und Kosten von Essen Bezug nehmen – »Kann man das essen?« kann man als Spiel in den Alltag einbauen. Niemand braucht dafür ABA.

Wenn das Kind Stress oder Ängste hat, muss man versuchen, die Ursachen zu beseitigen, nicht die Reaktion darauf. ABA zielt darauf, ein bestimmtes Verhalten zu unterbinden. Es ist aber wichtig, dass Kinder (und Erwachsene) immer Möglichkeiten haben, Stress oder Ängste auszuagieren – natürlich möglichst sichere. Hier sollte man versuchen, alternative Formen der Stressbewältigung zu suchen.

Bei einer Angststörung kann es möglicherweise in einzelnen Fällen hilfreich sein, Psychopharmaka für eine begrenzte Zeit ergänzend zu psychotherapeutischen Methoden zu verwenden. Das muss man genau abwägen. Aber: Pica allein ist dafür keine Indikation.

Und nun zum häufigsten Grund, der Suche nach sensorischem Input: ABA kann hier nicht helfen. ABA hat nicht das Ziel, die sensorischen Reize bereitzustellen, die die Person so verzweifelt sucht; ABA zielt nur darauf, das Suchverhalten zu unterdrücken.

Geeigneter sensorischer Input ist aber nicht optional, wir brauchen ihn, um uns wohlzufühlen. ABA ist keine zielführende Strategie, wenn die Ursache sensorischer Art ist.

Und Psychopharmaka? Es gibt Psychopharmaka, die Leute »ruhigstellen«. Sie werden manchmal verwendet, um Stimming zu unterbinden. Ja, das unerwünschte Verhalten wird manchmal tatsächlich weniger – weil jegliches Verhalten weniger wird. Das kann nicht das Ziel sein.

Pica: Fazit

Man sollte sich nie für Pica schämen. Aber wenn es über das Anknabbern harmloser Dinge hinausgeht, sollte man es als gesundheitliches Problem ernst nehmen.

Pica ist eine Essstörung, und wie andere Essstörungen bei autistischen Menschen sollte es behandelt werden.

Um eine Person von Pica abzubringen, ist es wesentlich, dass man die Gründe für das Verhalten versteht. Und damit meine ich die individuellen Gründe der jeweiligen Person.

Es kann schwierig sein, sie herauszufinden, besonders bei nicht-sprechenden Autist*innen. Aber es lohnt sich. Nur Symptome zu bekämpfen wird auf Dauer nicht erfolgreich sein.

Quellen und Studien

Zuletzt bearbeitet am 07.06.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus