Wir sind autistisch und das ist gut so.

Hyposensibilität (sensorische Unterempfindlichkeit) und Hypersensibilität (sensorische Überempfindlichkeit) werden manchmal verwechselt, weil sie ähnlich klingen. Beide Begriffe bezeichnen Unterschiede in der Wahrnehmungsverarbeitung, sie sind aber ganz unterschiedlich.

Definition: Was ist Hyposensibilität?

Hyposensibilität ist eine Unterempfindlichkeit der Wahrnehmungsverarbeitung. Auf neurologischer Ebene findet nur wenig oder keine Reaktion auf sensorische Reize statt, obwohl die Sinne in der Lage sind, die Reize wahrzunehmen. Eine hyposensible Person erfährt deshalb weniger sensorisches Feedback als andere Menschen.

Unser Gehirn muss aus der Menge an Reizen, die auf uns einströmen, ständig auswählen, welche davon verarbeitet werden und uns bewusst werden, und welche aussortiert werden. Die Sehkraft, das Hörvermögen etc. einer hyposensiblen Person sind in Ordnung – aber das Gehirn filtert sehr viele Reize einfach aus, statt sie zu verarbeiten.

Es kann also sein, dass ein Kind nicht auf seinen Namen reagiert, obwohl es gut hört – aber sein Gehirn erkennt die Lautfolge nicht als wichtig und sortiert sie aus.

Die Unterschiede in der Wahrnehmungsverarbeitung, die man auch Sensorische Integrationsstörung nennt, sind angeboren.

Wenn Sensibilitätsstörungen (Missempfindungen, »Taubheitsgefühl« in einzelnen Körperstellen oder dem ganzen Körper) erst später im Leben auftreten, stecken andere (medizinische) Ursachen dahinter. Manche sind harmlos, andere sind erst. Mögliche Ursachen findest du bei Netdoktor.

Hyposensibilität tritt häufig bei autistischen Menschen auf, aber auch auch bei nicht-autistischen. Man spricht von einer Sensorischen Integrationsstörung.

Hyposensibilität ist häufiger bei Kindern und kann sich später ganz oder teilweise »auswachsen«, kann aber auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben.

Hyposensibilität bei Autismus

Wenn wir an autistische Wahrnehmung denken, denken wir oft an extrem empfindliche Wahrnehmung. Das kann daran liegen, dass Überempfindlichkeit leichter zu erkennen ist: Du siehst ein Kind, das sich die Augen zuhält, um grelles Sonnenlicht auszublenden. Dass ein Kind, das gerade auf den Ellbogen gefallen ist, keine Schmerzreaktion hat, fällt oft nicht auf.

Es ist wichtig, Hyposensibilität im Kontext von Autismus zu verstehen.

Viele typisch autistische Verhaltensweisen (z. B. Stimming) dienen dazu, die Aufnahme sensorischer Reize zu regulieren. Für Außenstehende mögen diese Verhaltensweisen bizarr auszusehen und manchmal versuchen Eltern, sie zu verbieten oder abzutrainieren.

Mach das nicht! Es sind sinnhafte Strategien, um mit einer anderen Wahrnehmungsverarbeitung umzugehen.

Die meisten Menschen im Autismus-Spektrum haben eine Mischung aus Über- und Unterempfindlichkeit. Einige sensorische Reize empfinden sie intensiver als andere Menschen, andere weniger intensiv.

Autistische Kinder sind darauf angewiesen, dass ihre Eltern sie verstehen. Das gilt umso mehr, wenn sie Schwierigkeiten bei der Kommunikation haben. In diesem Artikel helfe ich dir, hyposensible Wahrnehmung und daraus folgende Verhaltensweise zu verstehen.

Wie fühlt es sich an, eine hyposensible (unterempfindliche) Wahrnehmungsverarbeitung zu haben?

Meine eigene Wahrnehmungsverarbeitung eher hypersensible (überempfindlich). Deshalb lasse ich hier Miriam zu Wort kommen, eine hyposensible Autistin. Hier schildert sie, wie es sich für sie anfühlt, hyposensibel zu sein – und warum scheinbar bizarres Verhalten für sie sinnvoll ist.

Innensicht auf Hyposensibilität: Miriam erzählt

Im Gegensatz zu vielen autistischen Menschen bin ich hyposensibel, nicht hypersensibel. Was heißt es, hyposensibel zu sein?

Empfindungen sind etwas, wonach sich alle Menschen sehnen. Wir genießen köstliches Essen. Wir genießen Musik. Wir genießen schönes, warmes Licht. Wir lieben weiche Kleidung. Hyposensible Menschen brauchen jedoch viel mehr Reize, um sich in ihrer Umgebung zufrieden und ruhig zu fühlen.

Hyposensible Kinder und Erwachsene sehen häufig desorientiert aus. Wo der Durchschnittsmensch Formen wahrnimmt, sehen wir nur Konturen. Wo der Durchschnittsmensch Sprache hört, hören wir eine gedämpfte und nicht entzifferbare akustische Welle. Wir wirken oft aggressiv – mit all unserem Beißen und Berühren, dabei sehnen wir uns einfach nach Empfindungen.

Wir brauchen stärkere Reize, um etwas spüren zu können.

Ich wache morgens auf und mein Körper fühlt sich an wie ein schlaffer Sack. Ich kann meine Füße, meine Arme, meine Beine oder den Rest meines Körpers nicht wirklich spüren. Ich stehe auf und meine Beine fühlen sich an wie Spaghetti, aber ich schaffe es, ins Wohnzimmer zu gehen.

Sobald ich das Wohnzimmer erreicht habe, beginnt der Hurrikan.

Ich renne so schnell ich kann zur Couch… ich springe hinauf, wieder runter, und lande krachend auf den Boden. Ich drehe mich um und um und um und um, drehe mich im Kreis, so schnell ich kann. Ich springe, so hoch ich kann auf meinem Minitrampolin. Ich schnappe mir die Fernbedienung, schalte den Fernseher ein und starre die Bilder an, bis meine Augen verschwommen sind.

Aber es ist einfach nicht genug… ich kann meinen Körper noch immer nicht fühlen. Ich springe auf und ab und flattere mit den Händen, bis ich plötzlich… meinen Körper spüre! Mein Körper fühlt sich jetzt richtig an.

Drei Stunden später spüre ich meinen Körper nicht mehr, also kommt der Hurrikan zurück.

Bevor ich mich mitteilen konnte, verstand niemand, warum ich all diese Dinge tat. Die Leute dachten, es sei bedeutungslos und ich sei nur in meiner eigenen Welt. Ich wollte schreien und schreien, dass ich diese Dinge getan habe, weil ich es brauchte, nicht weil ich es wollte.

Ich sage oft, dass mein Körper außer Kontrolle geraten muss, um die Kontrolle zu behalten. Das klingt verwirrend, aber es ist so. Die Leute sehen dieses wilde und seltsame Verhalten und denken: Sie ist außer Kontrolle.

Aber mein Körper nimmt es nicht als außer Kontrolle wahr, weil es einfach die Menge an Stimulation ist, die ich brauche.

Weil mein Gehirn in Bezug auf sensorische Reize anders verdrahtet ist, erlebe ich den sensorischen Input anders. Ich kann oft keine Teile meines Körpers spüren, bis ich genügend Stimulation erhalte. Zum Beispiel, wenn ich mitten im Tippen bin und meine Hand anfängt, das Gefühl zu verlieren, dann werde ich sie oft wild schlagen, bis ich mich wieder fühle.

Es ist schwer, etwas zu tun, wenn man seinen eigenen Körper nicht spüren kann. Ein anderes Beispiel ist, wenn ich anfange, die Konzentration zu verlieren. Manchmal kann ich mich nicht konzentrieren, weil ich nicht genug sensorischen Input erhalte. Ich muss oft aufstehen und mich hin und her bewegen, bis ich wieder konzentriert bin.

Wenn also Leute sagen, Stimming hemmt das Lernen, ist das falsch. Oft ist das Gegenteil richtig: Stimming fördert das Lernen!

Stimming ist es, was uns hilft, in einem Körper zu funktionieren, der nie wirklich genug Sinnesimpulse von der Außenwelt erhält.

Du siehst, das Hyposensibilität unangenehm sein kann. Wir alle wollen etwas spüren.

Hyposensibilität: Symptome

Es kann sein, dass sich die Hyposensibilität auf alle Sinne erstreckt, oder nur auf einen oder einige. Hier sehen wir uns an, wie sich Hyposensibilität auf den einzelnen Sinnen auswirkt.

Taktile Hyposensibilität: Berührungen

Das bedeutet, dass der Tastsinn einer Person vermindert ist und sie leichte Berührungen nicht spürt. Manche spüren sogar Schmerzen und extreme Temperaturen nicht.

Ein Kind mit taktiler Hyposensibilität kann nach Möglichkeiten suchen, Berührungen zu erfahren, indem es

  • seinen Kopf gegen die Wand schlägt,
  • sich beißt,
  • im Spiel mit anderen Kindern, Haustieren oder Spielzeugen grob ist,
  • sich unters Sofa oder andere schwere Gegenstände kriecht,
  • sich fest umarmt, oder
  • enge Kleidung trägt.

Kinder mit taktiler Hyposensibilität mögen es vielleicht,

  • sich mit vielen schweren Decken zuzudecken,
  • alles und jeden anzufassen,
  • Dinge anzufassen, die starke taktile Reize vermitteln (zum Beispiel Noppenbälle, Matsch)
  • Gegenstände in den Mund zu nehmen, daran zu kauen oder zu saugen,
  • zu toben und zu balgen, oder
  • fest umarmt zu werden.

Eltern, Betreuende und Ärzt*innen müssen sich bewusst sein, dass sich ein solches Kind verletzen und sogar einen Knochen brechen kann, ohne es zu spüren.

  • Manche Menschen mit taktiler Hyposensibilität scheinen manchmal weder Schmerzen noch Temperatur zu spüren.
  • Sie bemerken möglicherweise Wunde nicht, die durch einen scharfen Gegenstand verursacht wurde, oder sie scheinen einen Knochenbruch nicht zu bemerken.
  • Sie sind anfällig für Selbstverletzungen – vielleicht beißen sie in ihre Hand oder schlagen ihren Kopf gegen die Wand, nur um etwas zu spüren.
  • Sie sind auch anfällig dafür, sich unabsichtlich zu verletzen, weil sie nicht darauf achten (z.B. Verbrennungen, Schnittwunden, blaue Flecken).

Visuelle Hyposensibilität: Sehen

Menschen mit visueller Hyposensibilität können nicht gut verarbeiten, was sie sehen. Ihre Augen funktionieren gut, aber trotzdem haben sie oft große Schwierigkeiten, Dinge zu erkennen.

Diese Verhaltensweisen sind typisch für Kinder mit visueller Hyposensibilität:

  • Wenn sie einen unbekannten Raum betreten, gehen sie darin herum und fassen alles an, bevor sie sich setzen.
  • Kinder mit visueller Hyposensibilität haben oft Probleme, herauszufinden, wo sich Gegenstände befinden, da sie nur Umrisse sehen. Deshalb gehen sie vielleicht um Gegenstände herum und fahren mit ihrer Hand über die Kanten und betasten sie, um zu erkennen, was es ist.
  • Sie fühlen sich oft von Lichtern angezogen, sie starren vielleicht gern in die Sonne oder in eine helle Glühbirne. Sie sind fasziniert von Farben, Reflexionen und bunten Gegenständen.
  • Oft sitzen sie stundenlang da und bewegen Finger oder Gegenstände vor den Augen.
  • Sie haben oft Schwierigkeiten, ihre Augenbewegungen zu kontrollieren und sich bewegenden Gegenstände mit dem Blick zu folgen.
  • Sie ermüden leicht beim Lesen, Schreiben, Zeichnen, oder Spielen von Videospielen.
  • Sie beklagen sich möglicherweise darüber, »doppelt zu sehen«.
  • Sie haben Schwierigkeiten mit Rätseln, Bildern, Gegenständen und Wörtern.
  • Sie haben Schwierigkeiten beim Auffinden bestimmter Gegenstände inmitten anderer Gegenstände.
  • Sie haben Probleme mit der visuellen Verfolgung von Gegenständen, z. B. einem geworfenen Ball.
  • Sie haben Schwierigkeiten mit der Tiefenwahrnehmung und mit Gegenständen, die wenig oder keinen Kontrast aufweisen.
  • Sie haben Schwierigkeiten, Bilder zu erkennen. Das ist wichtig mitzudenken, wenn es um die Auswahl eines Systems zur Unterstützten Kommunikation geht.

Auditive Hyposensibilität: Hören

Menschen mit auditiver Hyposensibilität haben Schwierigkeiten, Gehörtes zu verstehen – und gleichzeitig suchen sie nach Input für ihre Ohren.

  • Sie lieben es wahrscheinlich, von Menschen umgeben zu sein, die sich unterhalten, sie lieben laute Geräusche wie laute Musik, laute Spiele, Fernsehen, Staubsauger, Bohrmaschinen oder Sirenen.
  • Sie erzeugen oft selbst Geräusche, um ihr Gehör zu stimulieren – Türen schlagen, Spielzeuge aneinanderschlagen, Papier in der Hand zerreißen oder zerknittern oder mit Löffeln trommeln.
  • Sie halten sich gern an den lautesten Orte im Haus auf.
  • Typisch ist, dass das Kind nicht versteht, was du zu ihm sagst, und dass du deine Anweisung wiederholen musst.
  • Als Babys »babbeln« sie wenig oder gar nicht.
  • Sie sprechen mit lauter Stimme und/oder übermäßig viel.
  • Sie reagieren vielleicht nicht oder selten auf ihren Namen.
  • Sie haben Schwierigkeiten, das Gesagte zu verstehen oder sich daran zu erinnern.
  • Oft bitten sie darum, das Gesagte zu Wiederholen bzw. fragen »Was?«.
  • Sie sprechen sich vielleicht selbst durch die Aufgabe, oft laut.
  • Sie scheinen bestimmte Geräusche nicht zu bemerken.
  • Sie können nicht erkennen, woher ein Geräusch kommt.

Geschmackliche Hyposensibilität: Schmecken

Geschmackliche Hyposensibilität kann bedeuten, dass ein Kind immer auf der Suche nach neuen Dingen ist, die es in den Mund nehmen und schmecken kann.

Typisch dafür ist es:

  • intensiv schmeckendes Essen zu bevorzugen (zum Beispiel sehr scharf, süß, sauer oder salzig, stark gewürzt oder süß und sauer gemischt)
  • ungenießbare Gegenstände wie Erde, Kreide, oder Buntstifte zu essen.
  • häufig auf Haaren, Hemden oder Fingern herumzukauen.
  • gerne Gegenstände in den Mund zu nehmen.
  • häufig Gegenstände in den Mund zu nehmen, auch über das Kleinkindalter hinaus.
  • Zähneputzen/vibrierende Zahnbürsten und sogar Besuche beim Zahnarzt zu mögen.
  • an Gegenständen zu lecken, sie in den Mund zu nehmen, darauf herumzukauen, sie vielleicht auch zu essen. (Nicht-essbare Gegenstände zu essen nennt man Pica.)
  • Manche Menschen erbrechen das Gegessene wieder – Erbrochenes hat zweifellos einen intensiven Geschmack.

Olfaktorische Hyposensibilität: Riechen

Typisch ist:

  • Das Kind riecht ständig an Dingen – an Spielzeug, Gras, Erde, Pflanzen, Schuhen, Wäsche, Menschen… einfach an allem!
  • Es ist gern stark riechende Lebensmittel.
  • Das Kind liebt intensive Gerüche, zum Beispiel stark riechenden Seifen oder Duschgels.
  • Es nimmt unangenehme Gerüche nicht wahr oder ignoriert sie.
  • Es riecht übermäßig an neuen Gegenständen, Spielzeug und Menschen.
  • Das Kind trinkt oder isst möglicherweise Dinge, die schädlich/giftig sind, weil sie den schädlichen Geruch nicht wahrnehmen.
  • Es hat Schwierigkeiten, zwischen verschiedenen Gerüchen zu unterscheiden.

Vestibuläre Hyposensibilität: Gleichgewichtssinn

  • Kinder mit einem hyposensiblen Gleichgewichtssinn bewegen sich gerne und viel. Sie genießen und suchen alle Arten von Bewegung.
  • Sie drehen sich lange um sich selbst oder schaukeln heftig, ohne dass es ihnen übel oder schwindelig wird.
  • Sie schaukeln vielleicht mit dem Oberkörper, während sie sitzen.
  • Sie haben Schwierigkeiten, in einer Position stillzustehen.

Propriozeptive Hyposensibilität: Gespür für den eigenen Körper

Es ist bei autistischen Menschen sehr verbreitet, wenig Gespür für den eigenen Körper zu haben – auch bei denen, deren andere Sinne eher hypersensibel sind.

  • Menschen mit propriozeptiver Hyposensibilität haben Schwierigkeiten zu wissen, wo sich ihr Körper im Raum befindet.
  • Sie stoßen sich oft an Gegenständen oder stoßen mit Menschen zusammen, stolpern häufig und neigen zum Sturz. Sie haben oft einen schwachen Griff und lassen Dinge fallen.
  • Möglicherweise greifen sie Gegenstände nur schwach und lassen oft etwas fallen.
  • Hypopropriozeptive Kinder wirken oft schlaff und lehnen sich oft an Menschen, Möbel und Wände.
  • Oft sind sie sich ihrer eigenen Körperempfindungen nicht bewusst. Beispielsweise fühlen manche keinen Hunger.
  • Sie haben oft motorische Schwierigkeiten, zum Beispiel eine schlechte Handschrift oder Schwierigkeiten, einen Ball zu fangen.

Mein Kind ist hyposensibel und hypersensibel zugleich – kann das sein?

Es gibt Menschen, die auf einem oder mehreren Sinneskanälen hypersensibel sind und auf anderen hyposensibel. Es ist zum Beispiel häufig, dass Menschen auditiv und taktil hypersensibel sind und ihr propriozeptorisches System ist hyposensibel.

Was auch vorkommt: Menschen, die eigentlich hypersensibel sind, also sehr empfindlich auf eine hohe Reizintensität reagieren, lernen Reize auszublenden. Hypersensible Kinder müssen oft mehr Reize aushalten, als sie vertragen, zum Beispiel in der Schule, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei Restaurantbesuchen.

Meine Strategie war es, immer ein Buch dabei zu haben, in das ich mich vertiefen konnte. Dabei konnte ich meine Umgebung effektiv ausblenden – so sehr, dass ich nicht mehr ansprechbar war. Man musste mich an der Schulter rütteln, damit ich reagierte.

Dieses Ausblenden ist eine sinnvolle Strategie, um in unserer Welt zurechtzukommen. Zum Glück haben meine Eltern es toleriert. Andere Menschen haben sich schon mal über mich lustig gemacht, wenn ich Dinge nicht mitbekommen habe, weil sie gerade nicht in meinem Aufmerksamkeitsfeld lagen. Nicht schön, aber eine Reizüberflutung ist auch nicht schön.

Auch in anderen Situationen, in denen ich mich sehr auf eine einzige Sache konzentriert habe, z.B. beim Sport, habe ich meine Verletzungen manchmal nicht bemerkt.

Es gibt auch Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen, bei denen Reize in durchschnittlicher Stärke oder besonders stark wahrgenommen werden, aber vom Gehirn nicht entziffert werden können.

Dazu zählt zum Beispiel die Auditive Wahrnehmungsstörung: Ein Kind hört gut, reagiert vielleicht sogar sehr empfindlich auf Geräusche, hat aber Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen. Das Gehirn kann die schnelle Lautfolge einfach nicht entziffern.

Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben diese Schwierigkeiten, mehr oder weniger stark ausgeprägt.

Therapie und Behandlung von Hyposensibilität

Eine gute Ergotherapeut*in kann dir helfen zu verstehen, wie die Wahrnehmungsverarbeitung deines Kindes auf verschiedenen Sinneskanälen funktioniert.

Warum ist dieser Schritt so wichtig?

Nun, du willst eine Beziehung zu deinem Kind, und die läuft über Kommunikation. Wenn du mit deinem Kind sprichst, dein Kind das Gehörte aber nicht verarbeiten kann, dann habt ihr keine Kommunikation.

Und auch bei der Auswahl eines geeigneten Systems zur Unterstützten Kommunikation ist es wichtig zu wissen, auf welchen Kanälen dein Kind aufnahmefähig ist.

Diese genaue Diagnostik der Wahrnehmungsverarbeitung ist die Grundlage, um Strategien zu entwickeln, wie man damit umgehen kann.

Aktivitäten zur Sensorischen Integration bei einem Kind mit Autismus und Zerebralparese in der Kita

Es gibt auch bestimmte Therapien, die bei Hyposensibilität helfen können. Die sensorische Integrationstherapie wird für Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen angeboten. Sie findet im Allgemeinen im Rahmen der Ergotherapie statt und hilft Kindern, ihre Sinne besser zu regulieren.

Die sensorische Integrationstherapie findet häufig in einem Raum statt, der mit sensorischen Geräten und Material ausgestattet ist, zum Beispiel Gewichtswesten, überdimensionale Kissen, Trampoline, Schaukelmöglichkeiten und vieles mehr.

Wenn du oder jemand, den du kennst, an einer sensorischen Verarbeitungsstörung, einschließlich Hyposensibilität, leiden, solltest du mit einer Ergotherapeut*in zusammenarbeiten.

Das ist besonders wichtig für Kinder, die Schwierigkeiten haben, ihre sensorischen Probleme zu verstehen und zu bewältigen.

Die Sensorische Integrationstherapie wird die Hyposensibilität wahrscheinlich nicht komplett verschwinden lassen. Deshalb sind Anpassungen und Entgegenkommen im Alltag sehr wichtig.

  • Zugang zu sensorischen Hilfsmitteln wie z.B. Fidget Toys
  • sinnvolle Anordnen von Möbeln, um der Person eine sicherere Umgebung zu bieten
  • Ermöglichung häufiger Bewegungspausen
  • Bereitstellung von Essen mit starkem Geschmack, unterschiedlicher Beschaffenheit und starken Gerüchen
  • Angebot von Gewichtsdecken oder Gewichtswesten
  • Visuelle Hilfen anbieten (z.B. bei auditiver Hyposensitivität)

Hyposensible Kinder brauchen solche Anpassungen auch in der Schule. Eltern sollten deshalb mit der Schule über die Schwierigkeiten ihres Kindes und mögliche Anpassungen sprechen. Manchmal kann eine Schulbegleitung sinnvoll sein, zum Beispiel Kommunikationshilfen oder Bewegungspausen zu gewährleisten.

Leben mit Hyposensibilität

Manchmal verringert sich die Hyposensibilität mit der Zeit, wenn die Kinder erwachsen werden. In anderen Fällen bleibt sie bestehen.

Viele Jugendliche und Erwachsene verwenden weiterhin die selbst entwickelten oder in der Ergotherapie erlernten Hilfsmittel, Techniken und Bewältigungsstrategien, um mit ihrer hyposensiblen Wahrnehmungsverarbeitung zurechtzukommen und damit zu leben.

Möglicherweise brauchen sie Anpassungen in ihrem Tagesablauf oder am Arbeitsplatz.

Außerdem ist es ratsam, übermäßigen Stress zu vermeiden, denn Stress kann eine wichtige Rolle bei sensorischen Verarbeitungsstörungen spielen, insbesondere bei Erwachsenen.

Zuletzt bearbeitet am 11.06.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus