Reizüberflutung & Co.: Sensorische Probleme im Studium
Sensorische Empfindlichkeiten sind ein häufiges Problem autistischer Studierender im Studium.
Die Uni ist oft laut und unruhig, die Beleuchtung möglicherweise grell, und die vielen Menschen auf dem Campus bringen viele weitere sensorische Reize mit. Studierende im Autismus-Spektrum haben oft sensorische Empfindlichkeiten, die es schwierig machen, mit dieser Umgebung umzugehen.
Inhaltsverzeichnis
Häufige sensorische Probleme im Studium
Die sensorischen Erfahrungen eines jeden Menschen sind einzigartig. Welche sensorischen Reize ein Problem sind, unterscheidet sich von Person zu Person.
Manche autistischen Menschen reagieren sehr hypersensitiv auf laute und plötzliche Geräusche, für andere stellt eine kontinuierliche Geräuschkulisse wie die große Menschenmengen in einem Raum das größere Problem dar. Manche Menschen empfinden vor allem hohe Töne als besonders störend, anderen ist die Tonhöhe nicht so wichtig.
Im Folgenden liste ich einige Beispiele für sensorische Probleme im Studium – die individuelle Erfahrung einer autistischen Person kann jedoch auch ganz anders sein.
Laute Menschenmengen
Es gibt viele Orte auf dem Campus, an denen man auf laute Gruppen und Menschenmengen trifft. Das ist oft ein großes sensorisches Problem für autistische Menschen mit auditiver Sensibilität. In Studierendenwohnheimen ist es sehr wahrscheinlich, dass es dort laute Menschen gibt. Cafeterien und Supermärkte können ebenfalls problematisch sein. Auch in den Gängen vor großen Hörsälen, direkt vor und nach den Lehrveranstaltungen, und in einigen Bereichen der Hochschulbibliotheken, in denen Studierende in Gruppen lernen können, sind laute Gruppen anzutreffen.
Die Aktivitäten und Veranstaltungen, die die Hochschulen zu Beginn eines jeden Studienjahres für die Erstsemester organisieren, können ebenfalls mit viel Lärm, Gedränge und Reizüberflutung verbunden sein.
Durch eine Menschenmenge zu navigieren, kann für Autist*innen auch unabhängig vom Geräuschpegel wegen des Gedränges stressig und reizüberflutend sein.
Hintergrundgeräusche
Viele Autist*innen haben Probleme mit Hintergrundgeräuschen, die ihre Aufmerksamkeit von wichtigen Dingen wie Vorlesungen und Prüfungen ablenken oder sie am Lernen im Wohnheim und in der Bibliothek hindern (selbst in den theoretisch ruhigen Teilen der Bibliothek).
Solche Hintergrundgeräusche können zum Beispiel das Knarren von Stühlen, Lüftungsanlagen und andere Maschinen, Schlürfen, Kauen, die Geräusche von Besteck, geflüsterte Gespräche anderer Studierender oder das Rascheln von Papier sein.
Natürlich können auch lautere Geräuschen ablenken und Probleme bereiten. Manche Autist*innen haben zum Beispiel große Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit wieder auf eine Vorlesung zu lenken, nachdem sie ein Handy haben klingeln hören.
Ganz bestimmte Reize
Oft ist es der allgemeine Geräuschpegel, der Reizüberflutung verursacht. Aber Autist*innen können auch eine starke Empfindlichkeit gegen sehr spezifische Geräusche haben, z.B. das Surren einer Maschine, bestimmte hohe Töne, oder auch eine bestimmte Farbe.
Licht
Häufig reagieren autistische Menschen empfindlich auf flackerndes Licht. Viele empfinden auch helles Licht als störend. Daher können Leuchtstoffröhren besonders problematisch sein.
Leider ist die Beleuchtung in der Hochschule oft hell, flackernd oder beides.
Gerüche
Parfüms und duftende Produkte können für manche Autisten ein großes Problem darstellen. Leider werden wir in der Uni zwangsläufig von anderen Menschen umgeben sein, und einige dieser anderen Menschen werden parfümierte Produkte tragen.
Auch der Geruch des Mittagessens anderer Studierender kann Anlass zur Sorge geben. Das ist kein Problem, das sich auf die Cafeteria oder andere Essbereiche beschränkt: Zu den Essenszeiten bringen Studierende möglicherweise intensiv riechende Lebensmittel in den Veranstaltungsraum und essen sie, während sie auf den Beginn der Vorlesung warten.
Taktiles
Kleidung ist eines der größten taktilen sensorischen Probleme. Manche Autist*innen haben eine starke Vorliebe für weite Kleidung, andere bevorzugen engere Kleidung. Viele autistische Menschen hassen bestimmte Arten von Stoffen (kratzige Stoffe, synthetische Stoffe – das ist von Person zu Person unterschiedlich).
Viele autistische Menschen fühlen sich sehr unwohl, wenn andere Menschen sie berühren, besonders wenn diese Berührung ohne Vorwarnung erfolgt.
Wie können sensorische Probleme sich auf dein Studium auswirken?
Weil die Wahrnehmungsverarbeitung autistischer Menschen sehr unterschiedlich ist, können sich sensorische Probleme auf ganz unterschiedliche Weise auf das Studium auswirken:
- Reizüberflutung frisst viel Energie, die dann für anderes fehlt. Das gilt auch dann, wenn sie auf einem Level ist, wo die Person noch funktioniert und »damit umgehen kann«.
- Reizüberflutung kann es erschweren, einem Gespräch oder einer Lehrveranstaltung zu folgen oder neue Informationen aufzunehmen.
- Sensorische Empfindlichkeit kann zu Schlafproblemen führen, wenn der Schlaf durch nächtliche Geräusche gestört wird. Wenn du in einem Wohnheim wohnst, kann es sein, dass andere Studierende bis spät in die Nacht aufbleiben und Lärm machen, oder dass sie laut sind, wenn sie spätabends nach Hause kommen.
- Sensorische Probleme können bedeuten, dass bestimmte Bereiche oder Aktivitäten der Uni für dich nicht zugänglich sind.
- Sensorische Empfindlichkeiten können bedeuten, dass du mehr Rückzugsräume und -zeiten brauchst.
Diese Liste ist in keinster Weise abschließend, nennt aber einige häufige Probleme.
»Autistische Studierende erleben oft einen erhöhten sensorischen Input, den sie nur schwer verarbeiten können. Die meisten Studierenden können sich selbst regulieren, indem sie parallele Reize herausfiltern, aber einige, insbesondere diejenigen mit Asperger-Syndrom (AS), haben Probleme mit der sensorischen Regulierung. Sie reagieren negativ auf die Reizüberflutung und ihr Lernen, ihr Verhalten und ihre sozialen Erfahrungen können dadurch beeinträchtigt werden.«
Monique Harte und Dr. Greg Kelly, Ergotherapeut*innen an der Ulster University
Strategien zum Umgang mit sensorischen Problemen
Rückzugsorte
»Ich verließ die Vorlesungen, wenn die Lautstärke und Unruhe unerträglich wurde.«
Sandrine
Es ist sehr nützlich, Orte zu haben, an die man sich zurückziehen kann, wenn man sich überlastet fühlt oder sich entspannen muss – viele autistische Studierende sagen, dass ruhige Orte für sie sehr wichtig sind.
Hier sind die Orte, zu denen sie gehen:
- Bibliothek
- Fachschaftsräume, AStA-Räume
- Draußen spazieren gehen
- Grünflächen rund um den Campus
- Ruhige Studienräume, leere Seminarräume
- Cafeteria
- Computer-Pool
- Zurück nach Hause
- ruhige Ecken in den Fluren
- Getränkeautomat
- Fitnessstudio, Schwimmhalle o.ä.
Es ist wichtig, dass du möglichst früh in deinem Studium sensorisch angenehme Orte findest. Du wirst du Unangenehme in der Regel nicht komplett vermeiden können, aber im Laufe des Tages wirst du immer wieder Zeiten haben, zu denen du selbst entscheiden kannst, wo du dich aufhältst.
Sensorische Abschirmung
- Geräuschdämmende Kopfhörer können in bestimmten Situationen nützlich sein, zum Beispiel in der U-Bahn auf dem Weg zur Uni oder in den Pausen. Sie helfen nicht, wenn eine Situation Kommunikationsbereitschaft oder Zuhören erfordert, und auch beim Essen können sie als störend empfunden werden.
- Es gibt auch »intelligente« Technologie, die störende Hintergrundgeräusche ausfiltert und im Gegenzug die Stimme des Gegenübers klarer macht. Das Hauptproblem: Diese Geräte sind sehr teuer und in der Regel werden die Kosten nicht übernommen. Auch weiß ich nicht, wie sie in verschiedenen Uni-Umgebungen funktionieren.
- Sonnenbrillen und/oder Schirmmützen können gegen bestimmte Arten von Licht helfen, gegen andere möglicherweise nicht.
- Auch der intensive Fokus auf eine Sache kann eine Strategie der sensorischen Abschirmung sein: Möglicherweise stört dich der Lärm in der Cafeteria weniger, während du ein Buch liest. Oder du findest eine Stimming-Strategie, die dir hilft.
Anpassungen und Nachteilsausgleich
In bestimmten Situationen musst du möglicherweise eine Anpassung der Umgebung. Das kann das Auswechseln einer flackernden Lampe sein oder eine besonders ruhige Prüfungsumgebung.
Das bedeutet in der Regel, dass du deine sensorischen Probleme erklären musst und dich für deine Bedürfnisse einsetzen musst.
Für einen Nachteilsausgleich bei Prüfungen oder anderen Studienleistungen musst du deine Diagnose bei der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung offenlegen und den Nachteilsausgleich beantragen und begründen.
Die Gesamtsituation verbessern
Viele autistische Menschen machen die Erfahrung, dass ihre sensorischen Probleme stärker werden, wenn sie gestresst oder ängstlich sind.
»Meine sensorischen Empfindlichkeiten werden schlimmer, wenn ich gestresst bin, und das ist sehr typisch für die sensorischen Erfahrungen, die andere Autisten beschreiben. Das macht Sinn: Es ist leichter, überlastet zu werden, wenn man bereits gestresst ist.«
Maike
Das Studium kann definitiv Stress und Ängste mit sich bringen.
Deshalb halte ich es für sehr hilfreich, an der Fähigkeit zu arbeiten, dich selbst zu überprüfen und festzustellen, wie gestresst du gerade bist. Die Fähigkeit, dein Stressniveau zu überwachen, gibt dir eine gute Vorstellung davon, wie viel sensorische Belastung dein System verkraften kann.
Wenn du bereits müde und gestresst bist, solltest du zusätzliche Bewältigungsstrategien vorbereiten oder dich einfach von unangenehmen Sinnesreizen in deiner Umgebung zurückziehen.
An deinen Stressfaktoren zu arbeiten, wird deine sensorischen Probleme nicht komplett verschwinden lassen, kann sie aber möglicherweise lindern.
Viele Menschen im Autismus-Spektrum machen die Erfahrung, dass auch die Kontrolle über die eigene Umgebung die Sinneserfahrungen beeinflusst:
»Im Allgemeinen kann ich einen Sinnesreiz viel besser ertragen, wenn ich die Kontrolle über ihn habe, als wenn ich sie nicht habe. Vor allem macht es mir nichts aus, Geräusche zu hören, die ich selbst erzeuge, weil ich weiß, dass ich sie erwarten kann und weil ich weiß, dass ich sie jederzeit beenden kann. Selbst wenn mich ein Geräusch schmerzen und überfordern würde, wenn es jemand oder etwas anderes außer mir machen würde, stört mich das Gefühl nicht, wenn ich genau das gleiche Geräusch produziere.«
Lukas
Studien zeigen auch, dass sensorische Probleme neben Ängsten auch mit der Teilnahme an täglichen Aktivitäten und der Lebensqualität zusammenhängen.
Überlege dir, welche Faktoren bei deinen sensorischen Erfahrungen eine Rolle spielen und welche Möglichkeiten es gibt, damit umzugehen. Es kann sinnvoll sein, sich dabei Hilfe zu suchen, z.B. durch eine Ergotherapeut*in – diese haben in der Regel Erfahrung mit abweichender Wahrnehmungsverarbeitung und können helfen, Strategien zu entwickeln, um damit umzugehen (siehe auch: Ergotherapie im Studium).
Aus der Sicht von Dozent*innen
»Eines der aufschlussreichsten Gespräche, die ich mit einem Studenten mit Autismus hatte, der sich in einem Kursraum abmühte, war der Grund, den er für seine Schwierigkeiten angab.
›Ich kann in diesem Kurs nicht aufpassen… Das Leuchtstoffröhrenlicht flackert und brummt. Ich kann vor lauter Summen nichts hören und kann mich kaum konzentrieren…‹
Die Lösung für dieses Problem war einfach. Der Student und ich riefen bei der Gebäudewartung an, stellten einen Antrag, und das Problem wurde behoben. Auch wenn nicht alle Situationen so einfach sind, ist es wichtig, eine sensorische Umgebung zu schaffen, die das Lernen fördert.
Wenn man das Klassenzimmer im Vorfeld auf Zugänglichkeitsprobleme untersucht und am ersten Unterrichtstag eine Diskussion über sensorische Ablenkungen führt, können viele Probleme für Studierende mit Autismus und anderen Behinderungen vermieden werden.«
Yvette Q. Getch, Associate Professor, Western Kentucky University
»Wenn ein Student im Unterricht still ist oder keinen Augenkontakt herstellt, sollten Sie nicht das Schlimmste annehmen (z. B. dass er nicht vorbereitet ist oder nicht aufpasst). Autisten neigen dazu, sensorische Informationen anders zu verarbeiten, sodass sich ein autistischer Student vom Unterricht überfordert fühlen kann und nicht engagiert wirkt, selbst wenn er sehr engagiert ist. Das Klassenzimmer ist schließlich ein chaotischer Ort voller Bewegung und Lärm. Dinge, die manche Studenten nicht wahrnehmen, wie z. B. brummende Leuchtstoffröhren, Kommilitonen, die Chipstüten öffnen, oder ein laut sprechender Professor, können für manche Studierende im Spektrum überwältigend sein. Anstatt anzunehmen, dass der stille Student nicht aufpasst, könnten Sie ihn als überfordert ansehen und anerkennen, dass er versucht, sich inmitten der Kakophonie zu konzentrieren. Sie wären wahrscheinlich auch ziemlich still, wenn Sie das erleben würden, was Ihr Student erlebt.«
Jennifer Hall, PhD, CETLOE and Department of English, Georgia State University
Quellen und Literatur
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Zuletzt bearbeitet am 01.12.2023.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus