Wir sind autistisch und das ist gut so.

Viele Menschen im Autismus-Spektrum filtern und verarbeiten alltägliche Reize wie Geräusche, Licht und Gerüche anders als nicht-autistische Menschen. Oft nennt man das sensorische Integrationsschwierigkeiten oder sensorische Empfindlichkeit. Diese Unterschiede können einen tiefgreifenden Effekt auf das Leben einer Person haben und können beträchtliche Schwierigkeiten zur Folge haben.

In diesem Artikel sehen wir uns an:

  • wie unsere Sinneswahrnehmung funktioniert
  • die sieben Sinne im Detail
  • sensorische Besonderheiten, die Menschen im Autismus-Spektrum haben können

Wie unsere Sinneswahrnehmung funktioniert

Wir haben über unseren ganzen Körper verteilt Rezeptoren, die sensorische Informationen (Reize) aufnehmen: Zum Beispiel auf der Haut, auf der Netzhaut der Augen, im Innenohr und in der Nase.

Die aufgenommenen Reize werden als Impulse über Nervenbahnen an unser zentrales Nervensystem (Gehirn) weitergeleitet.

Tatsächlich verlaufen zwei bis drei Millionen Nervenfasern zu unserem Gehirn, und jede von ihnen übermittelt bis zu 300 Impulse pro Sekunde. Unser Gehirn wird also von Millionen Reizen pro Sekunde bombardiert. Nur einen kleinen Teil davon nehmen wir bewusst wahr.

Das Gehirn verarbeitet die sensorischen Informationen, die wir erhalten. Das geschieht ganz ganz automatisch, ohne dass wir bewusst darüber nachzudenken. Das Gehirn ist ständig damit beschäftigt, die unwichtigen Reize auszusortieren, Informationen zu sortieren, gruppieren, zu priorisieren und zu verstehen. Wir reagieren dann mit Gedanken, Gefühlen und Bewegungen, oder einer Kombination daraus.

Schon kleine Abweichungen in der Wahrnehmungsverarbeitung können dazu führen, dass unser Gehirn mit Reizen überflutet wird, Schwierigkeiten hat, sie angemessen zu sortieren, oder zu verstehen. Oder das Gehirn verwirft zu viele Reize, ohne sie weiter zu verarbeiten.

Wichtig zu verstehen ist, dass die Besonderheiten in der Wahrnehmungsverarbeitung nicht durch Sinnesbeeinträchtigungen entstehen. Augen, Ohren usw. funktionieren normal – es ist das Gehirn, das die Reize anders verarbeitet.

Es kann aber sinnvoll sein, die Funktion der Sinne zu überprüfen. Wenn zum Beispiel ein Kind nicht auf Geräusche reagiert, ist es wichtig herauszufinden, ob es schwerhörig oder gehörlos ist oder ob seine Wahrnehmungsverarbeitung anders funktioniert.

Menschen mit sensorischen Integrationsproblemen – und dazu gehören viele Menschen im Autismus-Spektrum – haben Schwierigkeiten, alltägliche Sinnesreize zu verarbeiten.

Menschen, die Schwierigkeiten haben, all diese Reize zu verarbeiten, werden oft gestresst oder angespannt, und verspüren möglicherweise körperliche Schmerzen. Das kann sich in Verhaltensproblemen äußern. Manchen Kindern gelingt es, sich für eine begrenzte Zeit zusammenzureißen (zum Beispiel in der Schule), sie agieren den Stress dann aber später aus.

Unsere sieben Sinne

Wir haben sieben Sinne:

  • Sehsinn
  • Hörsinn
  • Tastsinn
  • Geschmacksinn
  • Geruchsinn
  • Gleichgewichtsinn
  • Eigenwahrnehmung/Körperbewusstsein (Propriozeption)

Menschen im Autismus-Spektrum können im Vergleich zu nicht-autistischen Menschen in einigen oder allen dieser Bereiche über- oder unterempfindlich sein. Das nennt man hypersensibel und hyposensibel.

Eine Person kann sowohl Über- als auch Unterempfindlichkeiten haben; das kann auch abwechseln (eine Untersensitivität kann eine weitgehende Abschottung gegenüber Reizen als Folge einer Reizüberflutung sein – muss aber nicht). Die Über- als auch Unterempfindlichkeiten können sehr spezifisch oder situationsbedingt sein. Es ist für Eltern und Lehrkräfte wichtig, die Wahrnehmungsverarbeitung ihres Kindes zu kennen, um sein Verhalten besser zu verstehen und um beispielsweise zu wissen, was ablenkt und über welche Sinneskanäle das Kind im Moment Informationen aufnehmen kann.

Sensorische Besonderheiten

Sehen

Der Sehsinn sitzt in der Netzhaut der Augen und wird von Licht aktiviert. Er hilft uns, Gegenstände und Personen, Farben, Kontraste und räumliche Grenzen zu erkennen. Menschen im Autismus-Spektrum können die folgenden Schwierigkeiten haben:

Hyposensitivität (Unterempfindlichkeit)

  • Gegenstände sehen eher dunkel aus, oder einige ihrer Merkmale werden nicht wahrgenommen.
  • Die Sicht im Zentrum ist verschwommen, aber die periphere Sicht (am Rande des Sichtfeldes) ist scharf.
  • Ein zentrales Objekt wird vergrößert wahrgenommen, Dinge am Rand des Sichtfeldes werden verschwommen wahrgenommen.
  • Schlechte Tiefenwahrnehmung – Probleme beim Fangen und Werfen; Tolpatschigkeit

Hypersensitivität (Überempfindlichkeit)

  • Verzerrte Wahrnehmung: Objekte und grelle Lichter scheinen herum zu springen
  • Das Sichtbild kann gebrochen erscheinen.
  • Der Fokus auf Details kann einfacher und angenehmer sein, als den gesamten Gegenstand zu betrachten.

Hören

Diese Form der sensorischen Beeinträchtigung kommt am häufigsten vor. Schwierigkeiten, akustische Reize zu verarbeiten, beeinträchtigt die (lautsprachliche) Kommunikation und möglicherweise auch das Gleichgewicht.

Hyposensitivität

  • Geräusche werden möglicherweise nur aus einem Ohr wahrgenommen, Reize aus dem anderen Ohr werden nicht oder nur teilweise wahrgenommen.
  • Keine Reaktion auf bestimmte Geräusche.
  • Spaß an belebten, lauten Orten oder am Knallen von Türen oder Objekten.

Hypersensitivität

  • Lärm werden wie durch einen Verstärker wahrgenommen, einzelne Geräusche werden verzerrt.
  • Intensive Abneigung gegen spezifische, vielleicht auch relativ leise Geräusche, die aber besonders hoch oder tief sind (zum Beispiel das Summen oder Fiepsen elektrischer Geräte).
  • Besondere Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen, zum Beispiel werden Gespräche aus großer Distanz mitgehört.
  • Unfähigkeit, Geräusche auszufiltern – zum Beispiel Schwierigkeiten, eine einzelne Stimme unter vielen Geräuschquellen herauszufiltern. Hintergrundgeräusche führen oft zu Konzentrationsschwierigkeiten, oder Teile eines Gesprächs (oder des Lehrervortrags) werden nicht verstanden, weil sie von Hintergrundgeräuschen übertönt werden. Ein Gespräch an einem belebten Ort zu führen ist schwierig.
  • Der Hall in einem großen, leeren Raum kann stören.

Berührungen

Berührungen sind wichtig für soziale Beziehungen. Sie helfen uns auch, unsere Umgebung zu verstehen (ist ein Gegenstand heiß oder kalt?) und entsprechend zu reagieren. Auf diese Art können wir auch Schmerzen wahrnehmen.

Hyposensitivität

  • Sehr enges Festhalten / starkes Festklammern an Personen – anders kann der Druck auf den Körper nicht gespürt werden.
  • Hohe Schmerztoleranz.
  • Möglicherweise Selbstverletzungen.
  • Entspannung und Wohlbefinden durch schwere Gegenstände (zum Beispiel beschwerte Bettdecken) auf dem Körper.

Hypersensitivität

  • Berührungen können unangenehm und schmerzhaft sein; die Person mag vielleicht keine Berührungen und meidet sie.
  • Mag es nicht, irgendetwas an Händen oder Füßen zu haben (zum Beispiel Ringe, Armbänder, Schuhe, Socken).
  • Schwierigkeiten beim Haare waschen, kämmen und Haare schneiden, weil der Kopf besonders empfindlich ist.
  • Nur bestimmte Arten von Kleidung oder Texturen (Oberflächenstruktur) wird toleriert.

Geschmack

Rezeptoren in der Zunge ermöglichen es uns, verschiedene Geschmäcker zu erfahren – süß, sauer, salzig usw. Menschen im Autismus-Spektrum können dabei folgende Besonderheiten haben:

Hyposensitivität

  • Bevorzugung von sehr scharfem Essen.
  • Alles wird gegessen – Erde, Gras, Knetmasse. Das wird auch Pica-Syndrom genannt.

Hypersensitivität

  • Manches Essen wird als zu intensiv im Geschmack empfunden. Nur bestimmte Nahrungsmittel werden gegessen.
  • Die Konsistenz von bestimmtem Essen kann unangenehm sein, manche Kinder essen zum Beispiel nur weiche Nahrungsmittel wie Kartoffelpüree oder Eis.

Geruch

Rezeptoren in der Nase lassen uns wisse, wie es in unserer unmittelbaren Umgebung riecht. Menschen im Autismus-Spektrum können folgende Besonderheiten haben:

Hyposensitivität

  • Manche Menschen im Autismus-Spektrum haben praktische keinen Geruchsinn und nehmen selbst extreme Gerüche einfach nicht wahr. Das kann den eigenen Körpergeruch einschließen.
  • Manchmal werden ersatzweise Dinge abgeleckt, um ein besseres Verständnis davon zu bekommen, was sie sind.

Hypersensitivität

  • Gerüche sind intensiv und überwältigend. Eine Folge kann sein, dass ein Kind ungern auf die Toilette geht.
  • Abneigung gegenüber stark duftenden Parfums, Shampoos u.ä.; Meiden von Personen, die danach riechen.

Gleichgewicht

Der Gleichgewichtsinn sitzt im Innenohr und ermöglicht es uns, Gleichgewicht und Körperhaltung zu wahren. Personen im Autismus-Spektrum haben vielleicht folgende Besonderheiten:

Hyposensitivität

  • Ein Bedürfnis den Oberkörper zu wiegen, (auf Schaukeln) zu schaukeln oder sich zu drehen, um sensorische Eindrücke zu bekommen.

Hypersensitivität

  • Schwierigkeiten mit Sport, wo eine genaue Kontrolle der Bewegungen nötig ist.
  • Schwierigkeiten, mitten im Gehen oder während einer Tätigkeit plötzlich aufzuhören.
  • Übelkeit beim Autofahren.
  • Schwierigkeiten mit Tätigkeiten, bei denen der Kopf nicht oben ist oder die Füße nicht auf dem Boden.

Eigenwahrnehmung

Dieser Sinn sitzt in unseren Muskeln und Gelenken, und unser Körper teilt uns darüber mit, wo im Raum wir uns befinden, welche Haltung oder Lage unser Körper gerade einnimmt, wie verschiedene Körperteile sich bewegen, wie der Spannungszustand von Muskeln und Sehnen ist. Außerdem können wir damit erkennen, ob wir uns gerade bewegen und in welche Richtung. Menschen im Autismus-Spektrum können folgende Besonderheiten aufweisen:

Hyposensitivität

  • Zu nahe bei anderen stehen, weil sie ihren Abstand zu anderen nicht einschätzen können. (Das kann auch ein soziales Problem sein: den persönlichen Raum anderer nicht zu erkennen.)
  • Probleme, durch einen Raum zu navigieren und dabei Hindernisse zu meiden.
  • Rennen unabsichtlich in andere Leute hinein oder rempeln sie an.

Hypersensitivität

  • Feinmotorische Schwierigkeiten: Kleine Gegenstände wie Schnürsenkel oder Knöpfe handzuhaben.
  • Bewegung des ganzen Körpers, um etwas anzusehen.

Synästhesie

Synästhesie ist eine seltene Besonderheit, die einige Menschen im Autismus-Spektrum (aber auch andere) aufweisen. Eine sensorische Wahrnehmung wird durch ein System aufgenommen, löst aber (auch) eine Empfindung in einem anderen System aus. Beispielsweise hört eine Person ein Geräusch und hört die Farbe Blau.

Weiterlesen in Teil 2: Umgang mit sensorischen Unterschieden

Zuletzt bearbeitet am 13.04.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus