Wir sind autistisch und das ist gut so.

In diesem Artikel sehe ich mir den ADI-R-Test im Detail an: Wozu dient er, wie läuft er ab, welche Bereiche werden bewertet, und wie aussagekräftig ist er?

Was ist ein ADI-R Test?

Das ADI-R (Autism Diagnostic Interview – Revised) ist ein strukturiertes Interview zur Autismus-Spektrum-Diagnostik. Es wird von einem Psychologen oder Psychiater durchgeführt und misst autismusspezifische Merkmale in der sozialen Interaktion, Kommunikation und Sprache sowie eingeschränkte, repetitive Verhaltensweisen.

Es wird oft zusammen mit dem ADOS (Autism Diagnostic Observation Schedule) eingesetzt. Die Kombination von ADOS und ADI-R gilt als »Goldstandard« der Autismus-Diagnostik bei Kindern.

Während beim ADOS die Diagnostiker*in jedoch direkt mit dem Kind interagiert, wird beim ADI-R nicht das Kind befragt oder getestet, sondern die Eltern.

Der ADI-R-Test wird im Rahmen der Autismus-Diagnostik durch eine Fachperson durchgeführt und interpretiert. Er ist nicht öffentlich im Internet verfügbar. (Hier findest du einige Online-Autismus-Tests.)

Wozu dient der ADI-R-Test?

Durch das ADI-R-Interview lässt sich systematisch erfragen, wie sich eine Person in sozialen Situation verhält, wie sie kommuniziert und welche anderen autismustypischen Verhaltensweisen sie hat. Das kann Psychologen und Psychiatern helfen, zuverlässige Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen zu stellen.

Der ADI-R-Test unterscheidet nicht zwischen den früheren Subtypen von Autismus (z.B. Asperger-Syndrom oder frühkindlicher Autismus).

Das ADI-R kann für Personen verschiedenen Alters verwendet werden, vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. In der Praxis wird es meist bei Kindern eingesetzt, möglicherweise weil bei Erwachsenen die Eltern oft nicht für eine Befragung verfügbar sind.

Wie läuft der ADI-R-Test ab?

Der ADI-R-Test wird von einer psychologischen oder psychiatrischen Fachkraft durchgeführt. Diese muss sowohl ein umfassendes Verständnis von Autismus und möglichen Differenzialdiagnosen haben als auch mit der Verwendung des ADI-R vertraut sein.

Befragt werden die Eltern (oder andere primäre Betreuungspersonen) des zu diagnostizierenden Kindes, weil sie am meisten über die frühe Entwicklung und die Verhaltensmuster des Kindes wissen.

Das ADI-R-Interview besteht aus mehreren Bereichen, und die Diagnostiker*in folgt einem strukturierten Satz von Fragen, um Informationen zu erhalten. Die Fragen sind offen formuliert, sodass die Eltern detaillierte Antworten auf der Grundlage ihrer Beobachtungen und Erfahrungen mit der Person geben können.

Insgesamt besteht der ADI-R-Test aus 93 Fragen plus einleitenden Fragen. Das Interview nimmt in der Regel ein bis zwei Stunden in Anspruch.

Welche Bereiche erfasst der ADI-R?

Der ADI-R-Test bewertet drei Kernbereiche, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden: soziale Interaktion, Kommunikation sowie eingeschränkte und sich wiederholende Verhaltensweisen.

Hier sehen wir uns jeden dieser Bereiche im Detail an:

Soziale Interaktion

Der Bereich der sozialen Interaktion untersucht, wie gut das Kind in der Lage ist, sich an wechselseitigen sozialen Interaktionen zu beteiligen und Beziehungen zu anderen aufzubauen.

Der ADI-R-Test prüft, ob das Kind soziale Defizite hat, wie z. B. Schwierigkeiten beim Initiieren und Reagieren auf soziale Signale, eingeschränkter Blickkontakt und Schwierigkeiten beim Aufbau und der Pflege von Freundschaften. Außerdem wird abgefragt, ob das Kind Interesse hat, etwas zusammen mit anderen zu machen und ob es sich in sozialen Situationen ungewöhnlich verhält.

Beispielfragen:

  • Wie geht das Kind mit den Menschen in seinem Leben um?
  • Sieht es ihnen zum Beispiel in die Augen?
  • Lächelt es und nutzt es seine Mimik zur Kommunikation?
  • Scheint es Interesse daran zu haben, mit anderen Kindern zu spielen?
  • Kann es mit ihnen spielen und sich etwas ausdenken?
  • Macht es ihr Spaß zu sehen, wie sie Spaß haben?
  • Versucht sie, sie zu trösten, wenn es nötig ist?

Kommunikation und Sprache

Der Bereich Kommunikation fragt ab, wie das Kind kommunizieren kann und wie gut es die Kommunikation anderer versteht. Im Fokus stehen dabei sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikationsfähigkeiten, einschließlich Gestik, Mimik und Körpersprache.

Zudem wird abgefragt, ob das Kind eine Sprachverzögerungen hat oder hatte, ob es ungewöhnliche Sprachmuster verwendet (z. B. Echolalie oder das Vertauschen von Pronomen) und ob es Schwierigkeiten hat, Sprache im sozialen Kontext zu verstehen und zu verwenden (z.B. Redewendungen).

Beispielfragen:

  • Versucht das Kind zu kommunizieren?
  • Selbst wenn es noch nicht sprechen kann, versucht es zumindest zu gestikulieren oder Handlungen und Spiele nachzuahmen?
  • Wenn es sprechen kann, gibt es auffällige Probleme?
  • Wiederholt es zum Beispiel wahllos Wörter, die Sie verwenden (wenn Sie fragen, ob es einen Keks möchte, wiederholt es »Keks«, anstatt mit »Ja« zu antworten)?
  • Spricht sie sich selbst mit ihrem Namen an, anstatt »ich« oder »mich« zu sagen?

Eingeschränkte und sich wiederholende Verhaltensweisen

Der Bereich der eingeschränkten und sich wiederholenden Verhaltensweisen untersucht das Vorhandensein stereotyper Bewegungen (Stimming), das Festhalten an Routinen und intensive, fokussierte Interessen.

Diese Verhaltensmuster sind typisch für Menschen im Autismus-Spektrum und Teil der Diagnosekriterien.

Beispielfragen:

  • Hat die Person merkwürdige Rituale? Zum Beispiel, dass sie ihre Spielsachen an einem bestimmten Ort aufbewahrt und sie vor dem Schlafengehen anfasst? Oder stellt sie die gleichen Fragen und möchte, dass Sie eine bestimmte Antwort wiederholen?
  • Braucht sie strenge Routinen, wie das Anziehen in einer bestimmten Reihenfolge?
  • Verwendet sie sich wiederholende Bewegungen wie Schaukeln, Auf und Ab gehen oder mit den Händen flattern?

Außerdem enthält der ADI-R-Test Fragen zu Verhaltensweisen wie Selbstverletzung, Aggression und Hyperaktivität. Diese Fragen sind für eine Autismus-Diagnose nicht notwendig (und sie werden nicht immer abgefragt), aber die Informationen können bei der Entwicklung von Behandlungsplänen hilfreich sein.

Die Auswertung des ADI-R

Nachdem das Interview abgeschlossen ist, bestimmt die Diagnostiker*in auf der Grundlage seiner Bewertung der Antworten der Pflegeperson eine Bewertungsskala für jede Frage.

Bewertungsskala

  • 0: »Das in der Kodierung angegebene Verhalten ist nicht vorhanden«.
  • 1: »Das Verhalten der angegebenen Art ist in abnormaler Form vorhanden, aber nicht so schwerwiegend oder häufig, dass es die Kriterien für eine 2 erfüllt«.
  • 2: »Eindeutig abnormes Verhalten«
  • 3: »Extremer Schweregrad des angegebenen Verhaltens«
  • 7: »Eindeutige Abnormität im allgemeinen Bereich der Kodierung, aber nicht in der angegebenen Form«.
  • 8: »Nicht zutreffend«
  • 9: »Nicht bekannt oder gefragt«.

Antworten, die mit 1 gewertet werden, geben einen Punkt; Antworten, die mit 2 oder 3 gewertet werden, geben 2 Punkte. Alle anderen Antworten werden mit null Punkten gewertet, weil sie nicht auf autistische Verhaltensweisen hinweisen und daher nicht in die Gesamtwertung einfließen sollten.

Für jeden der Inhaltsbereiche des Interviews wird dann eine Gesamtpunktzahl berechnet.

Eine Autismus-Diagnose wird gestellt, wenn die Punktzahlen in allen drei Verhaltensbereichen die festgelegten Mindestpunktzahlen erreichen oder überschreiten. Diese Punktzahlen wurden auf der Grundlage von Studien festgelegt.

Cut-off-Werte

  • Soziale Interaktion: 10
  • Kommunikation und Sprache: 8 (wenn verbal) oder 7 (wenn nonverbal)
  • Eingeschränkte und sich wiederholende Verhaltensweisen: 3

Wie zuverlässig ist der ADI-R-Test?

Das ADI-R wurde gründlich auf Zuverlässigkeit und Validität getestet und wird allgemein als zuverlässiges Instrument im Rahmen der Autismus-Diagnostik anerkannt.

Die Autor*innen haben psychometrische Ergebnisse veröffentlicht, die sowohl die Zuverlässigkeit als auch die Validität des ADI-R belegen. Sowohl die Inter-Rater-Reliabilität als auch die interne Konsistenz waren für alle im Interview untersuchten Verhaltensbereiche gut.

Allerdings erreicht kein Test hundertprozentige Genauigkeit. Deshalb ist der ADI-R-Test nur ein Instrument im Rahmen der Autismus-Diagnostik.

Der ADI-R-Test in der Autismus-Diagnostik

Mit dem ADI-R-Interview können Diagnostiker*innen Informationen darüber sammeln, ob Autismus-Symptome vorhanden sind und welche. Sie bekommen einen Einblick in die Entwicklungsgeschichte des Kindes, seiner Verhaltensmuster und die Auswirkung der autistischen Züge im Alltag.

Diagnostiker*innen nutzen das ADI-R gern, weil es die Einschätzung, ob Autismus-Symptome vorhanden sind oder nicht und wie stark sie sind, standardisiert.

Das ADI-R-Interview ist jedoch nur eine Komponente einer umfassenden Autismus-Diagnostik. Es wird immer zusammen mit anderen Methoden verwendet, z.B. die Beobachtungen und Interaktion mit dem Kind sowie weitere standardisierte Tests.

Ein Test, der oft zusammen mit dem ADI-R eingesetzt wird, ist der ADOS (Autism Diagnostic Observation Schedule). Die beiden Methoden ergänzen sich gut, den der ADOS ist kein Elterninterview, sondern basiert auf der direkten Interaktion mit dem Kind.

Doch selbst die Kombination von ADOS und ADI-R, die oft als »Goldstandard« der Autismus-Diagnostik bezeichnet wird, bietet keine hundertprozentige Genauigkeit.

Die gewonnenen Informationen müssen immer durch die Fachperson interpretiert und im Kontext anderer Informationen gesehen werden, z.B. über Lebensumstände und -erfahrungen der zu diagnostizierenden Person.

Der ADI-R-Test konzentriert sich auf spezifische autismusbezogene Verhaltensweisen und Merkmale und kann Symptome anderer Behinderungen oder Störungen nicht erkennen. Das ist ebenfalls ein Aspekt, den die Diagnostiker*in im Auge behalten muss; möglicherweise sind differenzialdiagnostische Untersuchungen sinnvoll.

Die Entwicklung des ADI-R-Tests

Das ADI-R wurde von Michael Rutter, Ann LeCouteur und Catherine Lord entwickelt und 2003 veröffentlicht. Die erste Version, ADI (Autism Diagnostic Interview), aus dem Jahr 1989, wurde hauptsächlich für Forschungszwecke verwendet.

Das ADI wurde als Reaktion auf mehrere Entwicklungen im Feld der Autismus-Diagnostik entwickelt, die zu einem Bedarf an aktualisierten Diagnoseinstrumenten führten.

Zu diesen Entwicklungen gehörten

  • Verbesserungen der Diagnosekriterien,
  • die Notwendigkeit, zwischen Autismus und anderen Entwicklungsstörungen zu unterscheiden, die im frühen Alter ähnlich erscheinen, und
  • der Wunsch der Psychologie nach standardisierten Diagnoseinstrumenten.

Das ursprüngliche ADI konnte bei Personen mit einem chronologischen Alter von mindestens fünf Jahren und einem geistigen Alter von mindestens zwei Jahren eingesetzt werden.

Aber Autismus-Spektrum-Störungen werden oft früher als in diesem Alter diagnostiziert.

Diese Erkenntnis veranlasste Rutter, LeCouteur und Lord in den 1990er Jahren dazu, das ADI so zu überarbeiten, dass er zur Bestimmung einer Diagnose bei Personen mit einem Entwicklungsalter von mindestens 18 Monaten verwendet werden kann.

Dies würde es Diagnostiker*innen ermöglichen, das Interview zu nutzen, um Autismus von anderen Behinderungen und Störungen zu unterscheiden, die in der frühen Kindheit auftreten können.

Die Hauptziele der Autoren bei der Überarbeitung des ADI bestanden darin, das Interview effizienter, kürzer und für jüngere Kinder geeigneter zu gestalten.

Zu den Änderungen gehörte, dass sich einige Fragen mehr auf autismusspezifische Aspekte des Verhaltens konzentrierten und andere Fragen allgemeiner gehalten wurden, um die Effizienz zu verbessern.

Außerdem wurden dem Interview einige zusätzliche Fragen hinzugefügt, darunter spezifischere Fragen zum Alter, in dem die Verhaltensauffälligkeiten begannen.

Andere irrelevante Fragen wurden entfernt, um die Fähigkeit des Interviews zu erhöhen, Autismus in einem jüngeren Alter zu diagnostizieren.

Im Zuge dieser Überarbeitungen wurden auch der Auswertungsalgorithmus und die Cut-off-Werte überarbeitet, weil einigen Abschnitten mehr Fragen hinzugefügt wurden.

In diesem Artikel erfährst du mehr zum Ablauf der Autismus-Spektrum-Diagnostik.

Quellen und Studien

Zuletzt bearbeitet am 14.06.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus