Wir sind autistisch und das ist gut so.

Eine Frage, die mir hin und wieder gestellt wird, ist: Asperger oder Autismus-Spektrum, was ist der Unterschied? Die Frage beruht teilweise auf einem Missverständnis, aber auch in der Forschung hat man lange darüber diskutiert.

Hochfunktionaler Autismus (High-Functioning-Autismus) und Asperger-Syndrom sind beides Formen von Autismus. Menschen mit Asperger-Syndrom und mit High-Functioning-Autismus sind im Erwachsenenalter oft nicht mehr zu unterscheiden. Warum dann zwei unterschiedliche Diagnosen?

Tatsächlich gibt es heute nur noch eine Autismus-Diagnose, nämlich die sogenannte Autismus-Spektrum-Störung. Diese findet man inzwischen sowohl im Diagnosehandbuch DSM-5 als auch in den Diagnosekriterien im ICD-11.

Der aktuelle Stand der Forschung ist es, dass Autismus ein Spektrum ist. Jeder autistische Mensch ist unterschiedlich, aber die Unterschiede sind graduell und individuell, nicht kategorial. Das war aber nciht immer Konsens.

Früher gab es mehrere Autismus-Diagnosen, und viele Forscher*innen versuchten, sie voneinander abzugrenzten – ohne wirklichen Erfolg.

Besonders über eine mögliche Abgrenzung zwischen hochfunktionalem Autismus und dem Asperger-Syndrom wurde diskutiert. In diesem Artikel geht es darum, welche Merkmale dabei zur Unterscheidung herangezogen wurden.

Den Hauptunterschied zwischen Asperger-Syndrom und hochfunktionalem Autismus sah man in der Sprachentwicklung: Kinder mit Asperger-Syndrom haben keine Verzögerung der Sprachentwicklung und fangen typischerweise früh an zu sprechen. Das ist der einzige Unterschied, den die Diagnosekriterien benannten.

In drei weiteren Bereichen gab es in der Wissenschaft lange Diskussionen darüber, ob es einen Unterschied zwischen den verschiedenen Autismus-Formen gibt:

Intelligenz

Das Asperger-Syndrom und hochfunktionaler Autismus gelten beide als Autismus-Formen ohne zusätzliche geistige Behinderung. Hans Asperger selbst sagte jedoch, dass es möglich sei, dass eine Person die Merkmale des Asperger-Syndroms habe, und gleichzeitig eine zusätzliche geistige Behinderung. Hingegen ist weithin akzeptiert, dass High-Functioning Autismus nicht diagnostiziert werden kann, wenn der IQ einer Person unter 65-70 liegt.

Motorische Geschicklichkeit

Hin und wieder wird die Ansicht geäußert, dass das Asperger-Syndrom immer mit motorischer Ungeschicklichkeit verbunden ist. Hans Asperger war sich der motorischen Schwierigkeiten der Kinder, die er beschrieb, bewusst.

Es ist wahrscheinlich, dass die meisten Kinder mit Asperger-Syndrom in irgendeiner Weise motorische Schwierigkeiten oder Koordinationsprobleme haben (Stichwort Sensomotorik). Deshalb gelten motorische Schwierigkeiten oft als Merkmal des Asperger-Syndroms. Viele Kinder mit hochfunktionalem Autismus haben in diesem Bereich jedoch auch Schwierigkeiten.

Sprachentwicklung

Die Sprachentwicklung ist der Bereich, der am häufigsten herangezogen wurde, um eine Abgrenzung zu finden. Sowohl das ICD-10 als auch das DSM-IV legten fest, dass für eine Asperger-Diagnose die allgemeine Sprachentwicklung (der Lautsprache) normal sein muss. Schwierigkeiten dürfen nur in den sozialen Aspekten der Kommunikation bestehen (Anwendung und Verständnis von Sprache in einem sozialen Kontext).

Kinder mit hochfunktionalem Autismus können eine deutliche Sprachverzögerung haben.

Die Diagnose Asperger-Syndrom wird auch oft gestellt, wenn Erwachsene diagnostiziert werden und sie oder ihre Eltern sich nicht mehr genau an die Sprachentwicklung erinnern.

Alter

Dieselbe Person kann zu einem Zeitpunkt ihres Lebens die Diagnose High-Functioning Autismus erhalten und zu einem anderen eine Asperger-Diagnose. Manchmal wird ein kleines Kind mit hochfunktionalem Autismus diagnostiziert und zu der Zeit, wenn es mit der Schule beginnt, wird die Diagnose auf Asperger geändert.

Manche Diagnostiker sind der Ansicht, dass das Asperger-Syndrom nicht diagnostiziert werden könne, bevor das Kind in die Schule geht. Das liegt hauptsächlich daran, dass viele Schwierigkeiten, vor allem in sozialen Bereich erst augenfällig werden, wenn das Kind viel Zeit in einem größeren sozialen Umfeld verbringt.

Asperger und HFA: Zusammenfassung

  • Sowohl Menschen mit hochfunktionalem Autismus als auch mit Asperger-Syndrom haben die autismustypischen Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation, der sozialen Interaktion und im sozialen Verständnis.
  • Beide Gruppen haben mit großer Wahrscheinlichkeit eine durchschnittliche oder überdurchschnittliche Intelligenz.
  • Inzwischen verwenden beide Diagnosehandbücher das Konzept der Autismus-Spektrum-Störung, innerhalb derer die Unterschiede graduell sind.

Die Frage »Asperger oder Autismus-Spektrum« kann man damit ad acta legen: Wir alle sind autistisch.

Alle Menschen im Autismus-Spektrum sind einzigartig und haben ihre ganz eigenen Stärken und Fähigkeiten. Diese verdienen ebenso viel Beachtung wie die Bereiche, in denen sie Schwierigkeiten haben.



Zuletzt bearbeitet am 23.04.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus