Wir sind autistisch und das ist gut so.

In diesem Artikel geht es um die verschiedenen Autismus-Formen, worin sie sich unterscheiden, und was sie gemeinsam haben. Wir beginnen mit den Gemeinsamkeiten, jenen Merkmalen, die alle Menschen im Autismus-Spektrum in irgendeiner Weise gemeinsam haben: Die Definition von Autismus.

Autismus: Definition

Autismus
Eine neurologische Besonderheit, verbunden mit Schwierigkeiten

  • in der sozialen Interaktion
  • der sozialen Kommunikation und
  • dem sozialen Verständnis

sowie…

  • einer abweichenden Wahrnehmungsverarbeitung
  • ungewöhnlichen Denkweisen und Problemlösungen
  • intensiven, oft sehr speziellen Interessen (»Spezialinteressen«)
  • atypischen, manchmal repetitiven Bewegungen (Stereotypien) und
  • einem Bedürfnis nach Routinen und Beständigkeit.

Diese Besonderheiten verursachen Beeinträchtigungen im Leben in einer nicht-autistischen Welt, deshalb wird Autismus als Behinderung klassifiziert.

Autismus-Spektrum-Störung: Definition und Symptome

Willst du mehr darüber erfahren, was Autismus ist und was seine Merkmale sind?

Formen von Autismus

Autismus ist ein Spektrum. Das heißt, dass manche Menschen nur »ein bisschen autistisch« sind und andere sehr. Die Intelligenz einer Person ist unabhängig von der Stärke des Autismus.
Das Autismus-Spektrum wird in frühkindlichen Autismus, atypischen Autismus und das Asperger-Syndrom unterteilt. Oft wird auch hochfunktionaler Autismus genannt.

Die Formen von Autismus (und wie man sie unterscheidet) findest Du hier:
Formen von Autismus

Autismus-Formen nach ICD-10 und DSM-5

Die beiden diagnostischen Handbücher ICD und DSM zählen beide Autismus zu den »Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen«, haben aber unterschiedliche Herangehensweisen an die Unterteilung:

Die aktuelle Version des ICD, die bereits seit 1996 gültig ist, ordnet Autismus der Kennziffer F84 (Tiefgreifende Störungen der Entwicklung) zu und unterscheidet dabei drei Formen:

High-Functioning Autismus (HFA) wird dabei als Unterform des frühkindlichen Autismus betrachtet.
Die neue Version des DSM fasst (anders als die Vorgänger-Version) alle Formen von Autismus als »Autismus-Spektrum-Störung« zusammen. Die einzelnen “Symptome” werden in Schweregrade (leicht, mittel, schwer) unterschieden.

Warum die Unterscheidung verschiedener Formen von Autismus?

Die Unterscheidung zwischen Kanner-Autismus und Asperger-Syndrom rührt daher, dass Leo Kanner (1943) und Hans Asperger (1943/44) unabhängig voneinander Teile dessen beschrieben, was heute als Autismus-Spektrum gefasst wird. Das Asperger-Syndrom gilt heute oft als »leichte« Form von Autismus: Sprache und Intelligenz liegen auf einem durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Niveau. Hans Asperger bezeichnete die kleinen Autisten gern als »kleine Professoren«. Aber auch Kanner hob die geistigen Fähigkeiten »seiner« Autisten hervor – etwas, das heute oft in Vergessenheit gerät.

Was unterscheidet High-Functioning-Autismus von »klassischem« frühkindlichem Autismus?

Im Kern: die (gemessene) Intelligenz. Das kognitive Niveau von Menschen im Autismus-Spektrum ist allerdings schwierig zu messen – ein autistisches Kind, das kein Interesse an den Aufgaben hat, wird sich vielleicht gar nicht damit beschäftigen oder nur willkürlich Antworten ankreuzen. Zudem hat sich herausgestellt, dass ein häufig verwendeter Test, der Hamburger-Wechsler-Test, den IQ vom Menschen im Autismus-Spektrum systematisch unterschätzt.

Keine Unterschiede gibt es in anderen Bereichen: Auch HFA-Autisten haben eine Verzögerung der Sprachentwicklung und weisen die typischen Symptome einer »Autismus-Spektrum-Störung« auf, wie z.B. Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Stereotypien.

Was ist der Unterschied zwischen High-Functioning-Autismus und Asperger-Syndrom?

High-Functioning-Autismus und Asperger-Syndrom sind beides Teil des Autismus-Spektrums. Den Hauptunterschied zwischen beiden sieht man in der Sprachentwicklung: Kinder mit Asperger-Syndrom haben keine Verzögerung der Sprachentwicklung und fangen typischerweise früh an zu sprechen.

Mehr dazu: Asperger-Syndrom & High-Functioning-Autismus: Gibt es einen Unterschied?

Warum die Zusammenfassung als »Autismus-Spektrum«?

In der Praxis stellte sich die Unterscheidung nicht als sinnvoll heraus. Ob ein Kind ein Jahr früher oder später zu sprechen begann, konnte den Ausschlag für entweder eine HFA- oder Asperger-Diagnose geben, war in der Praxis (im späteren Leben des Kindes) aber meist nicht von Relevanz. Viele Psychologen vergeben die beiden Diagnosen eher in Abhängigkeit davon, wie stark die Schwierigkeiten der betreffenden Person sind.

Die Übergänge sind fließend; vielleicht haben Menschen mit frühkindlichem Autismus mehr Stereotypien, Menschen mit Asperger-Syndrom eher Spezialinteressen. Aber das sind nur Tendenzen, beide Gruppen können beides haben.

Außerdem sind keine zwei Personen mit Autismus gleich, und für jeden eine eigene Kategorie zu erfinden, liefe dem Zweck der Kategorisierung zuwider.

Autism is a universe, and we are all stars.

Der Begriff Autismus-Spektrum wird verwendet, um auszusagen, dass es zwischen verschiedenen Varianten von Autismus nur graduelle Unterschiede gibt, sie ineinander übergehen und die Grenzziehung willkürlich ist bzw. nur pragmatischen Zwecken dient. Diese Auffassung setzt sich in der Autismusforschung mehr und mehr durch.

Die Grauzone: Autistische Züge

Tony Attwood schreibt, dass das Asperger-Syndrom

… sich in einem nahtlosen Kontinuum vollzieht, das sich am äußersten Ende der normalen Skala auflöst. Es ist unvermeidlich, dass sich einige Kinder in einer Art Grauzone befinden, wo man sich nicht sicher ist, ob ihre ungewöhnliche Persönlichkeit und die Bandbreite ihrer Fähigkeiten die ausgeprägte Qualität haben, die in eine – anhand der geläufigsten Kriterien gestellten – Diagnose passen.

Attwood nennt dies eine “Andeutung” des Asperger-Syndroms, andere Fachkräfte sprechen von “autistischen Zügen” oder “subklinischem Autismus”.

Autistische Züge werden manchmal festgestellt, wenn der Psychologe der Meinung ist, dass die Charakteristika für eine Asperger-Diagnose nicht ausgeprägt genug sind und das Leben der Person davon nicht beeinträchtigt wird. Es stellt keine offizielle Diagnose dar. Die Grenze, wo noch Asperger-Syndrom bzw. Autismus-Spektrum diagnostiziert wird und wo nicht mehr, ist nicht eindeutig festgelegt und wird unterschiedlich interpretiert.

Autismus: Eine Störung?

Alle Formen von Autismus werden (in ICD und DSM) als Entwicklungsstörungen klassifiziert und gelten als Behinderung.

Ob Autismus eine Störung ist oder eine Wesensart, ob die genannten Besonderheiten einen Menschen beeinträchtigen oder ob Spezialinteressen und »autistische Intelligenz« ihn befähigen, das hängt zu einem großen Teil von der Umwelt ab, in der man lebt. Dieser Artikel erklärt die übliche medizinische Sicht auf Autismus und seine Formen. Die Medizin sieht naturgemäß eher die Störungen und Probleme als die Fähigkeiten und positiven Besonderheiten.

Wer eine andere Sicht auf Autismus kennenlernen will, dem empfehle ich Tony Attwoods Artikel »Die Entdeckung von Aspie». Denn die Definition von Autismus (oder, in diesem Fall, Asperger-Syndrom) kann ganz unterschiedlich ausfallen, je nachdem, aus welcher Perspektive man hinsieht.

Zuletzt bearbeitet am 25.03.2023.

Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus