Wir sind autistisch und das ist gut so.

Es ist harte Arbeit, normal zu wirken

Ältere Asperger-Erwachsene sind aufgewachsen, bevor die Diagnose Asperger-Syndrom existierte. Sie wurde erst in den 90er Jahren in die diagnostischen Handbücher aufgenommen. Aber obwohl es keine Diagnose gab, gab es uns natürlich schon – und wir mussten Wege finden, um im Leben zurechtzukommen.

Asperger verstehen soziale Interaktionen nicht intuitiv – wir müssen das bewusst lernen, ähnlich einer Fremdsprache oder der Erforschung einer anderen Spezies. Nicht umsonst hieß Temple Grandins Autobiografie im englischen Original I am an Anthropologist on Mars.

Das Leben im Autismus ist eine miserable Vorbereitung auf das Leben in einer Welt ohne Autismus. Die Höflichkeit hat viele Näpfchen aufgestellt, in die man treten kann. Autisten sind Meister darin, keines auszulassen.

Axel Brauns

Viele von uns haben gelernt, ihre Umgebung genau zu beobachten. Wir versuchten, das verwirrende Verhalten der Menschen um uns herum zu verstehen und zu verstehen, was von uns erwartet wird.

Und wir haben bei der Entschlüsselung dieser Rätsel enorme Leistungen erbracht – die leider niemand bemerkt. Denn anderen Leuten scheint es nie gut genug zu sein.

Die Leute fragen: Du bist doch so intelligent, warum kannst du nicht einfach…

  • auf die Familienfeier gehen und dich normal verhalten (wenn dir Smalltalk ein Rätsel ist, du nicht verstehst, was die Leute eigentlich von dir wollen, die Feier dich sensorisch überfordert, und der soziale Druck dir Angst macht).
  • diese Aufgabe erledigen (wenn du Probleme mit exekutiven Funktionen hast, deine Verarbeitungsgeschwindigkeit eine andere ist, die Aufgabe Herausforderungen beinhaltet, die für nicht-autistische Menschen nicht als solche erkennbar sind, zum Beispiel Telefonieren).
  • …machen, was von dir verlangt wird (auch wenn niemand klar formuliert hat, was das ist, oder wenn es völlig unlogisch ist).

Das sind typische Erfahrungen, die Asperger-Autist*innen immer wieder machen.

„Es gab Zeiten, als ich dagegen gekämpft habe. Ich wollte nicht anders sein. Aus heutiger Sicht und meiner persönlichen Perspektive, wenn man mir eine Heilung anbieten würde: Nein, danke.“ Chris Packham

Durch Beobachtung und Versuch und Irrtum (und erneuten Versuchen) gelingt es uns, uns Verhaltensweisen von anderen Menschen abzugucken. Wir entwickeln Fähigkeiten und Strategien, um sie in bestimmten Situationen einzusetzen.

Viele Asperger-Erwachsene entwickeln ein Verständnis für die Welt um sie herum. Wir lernen, wie und wo wir uns einfügen können und wann wir aus dem Rahmen fallen.

Manche Asperger-Autist*innen perfektionieren ihre Fähigkeiten im Laufe der Jahre so gut, dass sie praktisch nicht mehr als autistisch erkennbar sind.

Das Problem: Der Preis dafür ist hoch. All diese Dinge müssen wir auf der Grundlage des Verstands und nicht auf der Grundlage von Intuition tun. Die ständige Anstrengung zehrt an den Kräften, Burnout und Depression können die Folgen sein.

Merkmale des Asperger-Syndroms bei Erwachsenen

Asperger-Autist*innen sind meist normal intelligent und haben gute sprachliche Fähigkeiten.

Soziale Interaktion

"Für das übliche Hin- und Her eines Gespräches hatte ich kein Gefühl. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn ich gleich hätte sagen dürfen, was ich zu sagen hatte und der andere anschließend gesprochen hätte. Dieses Vor- und Zurückspringen, diese Bemühung darum, eine Bemerkung an der richtigen Stelle unterzubringen, das war schwierig und ermüdend." Gunilla Gerland

  • Wir haben Schwierigkeiten, Sprache in sozialen Kontexten zu verwenden und zu verstehen. Es fällt uns zum Beispiel schwer, Anspielungen zu verstehen oder auf Witze zu reagieren.
  • Wir finden Smalltalk kompliziert.
  • In Gesprächen gibt es häufig Missverständnisse.
  • Wir haben Schwierigkeiten, non-verbale Hinweise wie Gesichtsausdrücke, Gesten oder der Tonfall zu verstehen. Vielleicht erkennen wir offensichtliche Gesichtsausdrücke, subtile jedoch nicht.
  • Es fällt uns schwer, die Stimmung, Gedanken oder Motive nicht-autistischer Menschen einzuschätzen. Dadurch wirken wir manchmal egoistisch oder arrogant – aber wie sollen wir auf Gefühle reagieren, von denen wir nichts wissen? Übrigens habe nicht-autistische Menschen dieselben Schwierigkeiten, sich in autistische Menschen hineinzuversetzen.
  • Blickkontakt lenkt uns eher vom Gesprächsinhalt ab, manchmal finden wir ihn auch unangenehm. Wir finden es schwierig, Blickkontakt zur sozialen Kommunikation zu nutzen: Wir erkennen die Informationen oft nicht, die unser Gegenüber uns damit gibt, und können den Blickkontakt oft nicht nutzen, um selbst solche Signale zu geben.
  • Soziale Regeln, die andere intuitiv verstehen, müssen wir bewusst lernen.
  • Soziale Interaktion ist für uns anstrengend und braucht Konzentration.
  • Wir haben oft Schwierigkeiten in Gruppen mit nicht-autistischen Menschen zu arbeiten. Gründe siehe oben.

Unsere Art, Beziehungen herzustellen, ist anders.

Jim Sinclair

"Ich weiß jetzt, dass es für mich völlig normal ist, Menschen nicht anzusehen, wenn ich mit ihnen spreche. Wir Asperger fühlen uns damit einfach nicht wohl. Ich verstehe wirklich nicht, warum es als normal gilt, jemandes Augäpfel anzustarren."  John Elder Robison

Fokus, Interessen und der Umgang mit Veränderungen

  • Wir fokussieren eher auf Details als auf das Gesamtbild.
  • Oft haben wir leidenschaftliche Interessen. In der Autismus-Forschung werden diese oft Spezialinteressen genannt. Die Interessengebiete können sehr unterschiedlich sein (zum Beispiel Computer, Katzen, Literatur, Ökologie, Lichtschalter). Manchmal kommt ein neues Interesse hinzu und ein altes wird in den Hintergrund gedrängt.
  • Es fällt uns schwer, flexibel auf plötzliche Veränderungen zu reagieren.
  • Deshalb bevorzugen wir oft bestimmte Routinen und Abläufe und geraten in Stress, wenn diese unterbrochen werden.

Wahrnehmung

Wir nehmen anders wahr (genauer gesagt, verarbeitet unser Gehirn Reize ein bisschen anders). Diese Unterschiede sind von Person zu Person verschieden. Ein paar Beispiele:

  • Oft nehmen wir Reize stärker oder schwächer wahr als andere Menschen. Helles Licht kann unangenehm grell sein, Geräusche zu laut, ein Parfüm unerträglich intensiv, überraschende Berührungen einfach zu viel. Oder man nimmt seinen eigenen Körpergeruch kaum wahr, spürt seinen Körper kaum, liebt Krach und laute Musik.
  • Manchmal finden wir bestimmte Reize extrem unangenehm (die andere Menschen überhaupt nicht stören).
  • In einer Umgebung mit vielen Reizen (zum Beispiel Schule, Supermarkt) werden wir manchmal von der Menge an sensorischem Input überflutet: Alles ist zu viel, es fühlt sich sehr unangenehm an, wir können nicht mehr funktionieren.

Während sich die meisten Menschen in wenigen Minuten an neue Kleider gewöhnen, brauche ich dafür drei oder vier Tage.

Temple Grandin

Siehe dazu Autismus und Wahrnehmung.

Motorische Probleme sind bei Asperger-Autist*innen häufig. Der Grund dafür liegt in der Wahrnehmung: Wir haben oft wenig Körpergefühl.

  • Zum Beispiel stoßen wir uns manchmal, wenn wir um ein Hindernis herumlaufen.
  • Oder wir haben eine merkwürdige Haltung oder einen auffälligen Gang und sind uns dessen gar nicht bewusst.
  • Unsere Handschrift kann krakelig sein, vielleicht haben wir Schwierigkeiten mit anderen feinmotorischen Sachen.
  • Viele von uns sind schlecht im Sport oder zumindest in einigen Sportarten. (Andere sind in einzelnen Sportarten sehr gut.)

"Ich schwankte oft zwischen verschiedenen Akzenten, Stimmlagen und Arten, wie ich Menschen beschrieb. Manchmal klang mein Akzent ganz geschliffen und kultiviert. Manchmal sprach ich, als käme ich aus der Gosse. Manchmal war meine Stimmlage normal, zu anderen Zeiten war sie tief, als würde ich Elvis nachmachen. Wenn ich jedoch aufgeregt war, hörte sie sich an wie Micky Maus, nachdem sie von einer Dampfwalze überfahren war – hoch und flach." Donna Willams

Diese Merkmale sind Beispiele, um dir einen Eindruck zu vermitteln. Nicht alle Anzeichen treffen auf alle Asperger-Autist*innen zu. Die Liste ist nicht dazu da, eine Diagnose zu stellen.

Einen ausführlicheren Artikel über die Merkmale des Asperger-Syndroms gibt es hier. Die Diagnosekriterien im ICD sowie im DSM-5 findest du hier.

Erfolge und Schwierigkeiten von Asperger-Autist*innen

Das Asperger-Syndrom gilt als das hochfunktionale Ende des Autismus-Spektrums, als leichte Form von Autismus. Leicht meint aber nicht, dass Menschen mit Asperger-Syndrom im Alltag keine Schwierigkeiten hätten – die haben wir. Die Schwierigkeiten sind nur von außen oft nicht unmittelbar ersichtlich.

"Der Unterschied zwischen hochfunktionalem und niedrigfunktionalem Autismus ist, dass hochfunktional bedeutet, dass deine Schwächen ignoriert werden und niedrigfunktional bedeutet, dass deine Stärken ignoriert werden." Laura Tisconik

Was heißt es, gut zu funktionieren? Es kann bedeuten, dass man in einigen Bereichen sehr gut und in anderen nicht gut funktioniert. Es gibt Asperger-Erwachsene, die beruflich sehr erfolgreich sind, aber außerhalb der Arbeit keine sozialen Kontakte aufrecht erhalten können und ihren Alltag nicht bewältigen können.

Erfolg für Erwachsene in unserer Gesellschaft bedeutet normalerweise Erfolg im Berufsleben. Wenn jemand beruflich erfolgreich ist, kann das verschleiern, dass die Person auch einige grundlegende Schwierigkeiten hat, die durch Asperger-Autismus erklärt werden könnten. Es kann andere Asperger geben, die nicht erwerbstätig sein können, aber sie kümmern sich um ihre Familie, haben eine oder mehrere Freundschaften, und meistern ein unabhängiges Leben. Andere können vielleicht weder berufstätig sein noch Freundschaften pflegen, aber sie schaffen geniale Kunstwerke oder sind bei einem Open-Source-Projekt aktiv.

Es gibt unendlich viele Kombinationen, und bei allen können wir sagen: Diese Person kann was. Aber sie hat auch Probleme und braucht Unterstützung. Zum Beispiel einen angepassten Arbeitsplatz; Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen; oder Hilfe bei Problemen im Alltag.

Je besser ein autistischer Mensch funktioniert, desto mehr Funktionieren wird erwartet, und desto weniger Unterstützung bekommt er. Die Anstrengung hinter dieser Leistung sieht niemand.

Gut zu funktionieren bedeutet nicht, keine Unterstützung zu benötigen.

Manche Asperger-Autist*innen brauchen ihr Leben lang irgendeine Form von Unterstützung, andere nur zeitweise (zum Beispiel beim Auszug aus dem Elternhaus, beim Übergang ins Berufsleben, in Krisensituationen).

Wie viel Unterstützung jemand braucht, hängt nicht nur von den Fähigkeiten dieser Person ab, sondern auch von den Menschen in ihrer Umgebung: Viele Asperger-Autist*innen scheitern zum Beispiel trotz guter fachlicher Qualifikationen am Bewerbungsgespräch. Oder sie können einen Job nicht behalten, weil der Arbeitsplatz sie sensorisch überlastet oder die Kolleg*innen im Umgang mit ihnen überfordert sind und beschließen, dass die Person nicht ins Team passt.

Andere finden ihre berufliche Nische in einer Firma, die Anderssein akzeptiert und einen ruhigen Arbeitsplatz einrichtet. Vielleicht finden sie einen Mentor, der ihr Talent erkennt und ihnen bei Fragen weiterhilft.

Ängste und Depressionen sind häufig

Autistische Erwachsene haben oft Mobbing und Ausgrenzung erlebt. Manche von uns meiden aufgrund negativer Erfahrungen soziale Kontakte. Andere arbeiten sehr hart daran, so normal wie möglich zu wirken. Das erfordert große Anstrengung. Außerdem bleibt oft (bewusst oder unbewusst) das schlechte Gefühl, dass die anderen das wahre Ich nicht kennen und nicht mögen würden

"Kinder mobbten und quälten mich unablässig über Jahre hinweg. Sie beschimpften mich, bedrohten mich, ignorierten mich und wiesen alle meine Bemühungen, mich einer Gruppen-Unterhaltung anzuschließen, zurück. Ich fühlte mich wie ein Außerirdischer auf einem Planeten, der nicht meiner war. Oft wurde ich sehr traurig und depressiv, obwohl ich weiterhin hartnäckig meine besten akademischen Leistungen in der Schule zeigte und vorwiegend Einsen (und einige Zweien) nach Hause brachte." Scott Robertson

Es ist deprimierend, wenn es keinen erkennbaren Ort auf der Welt gibt, wo du dazugehörst. Wenn alle anderen automatisch wissen, wie sie sich in einer sozialen Situation verhalten sollen und du das Handbuch nie bekommen hast.

Wenn man immer wieder versucht, Freunde zu finden, einen Job zu finden und zu behalten, unabhängig zu leben, das eigene Leben auf die Reihe zu kriegen, und dabei immer wieder scheitert, bekommt man das Gefühl, ein einziger Misserfolg zu sein.

Diese Erfahrungen führen nicht selten zu Depressionen.

Und natürlich löst es Angst aus, wenn die Außenwelt weitgehend unberechenbar und sensorisch schmerzhaft ist. Wenn Leute ständig von dir verlangen, dass du Dinge tust, die an den Grenzen der eigenen Fähigkeiten (oder jenseits davon) liegen (zum Beispiel ein Gespräch im Supermarkt, ein Telefonat, die Nutzung überfüllter Züge), du dir Mühe gibst, und trotzdem abfällige Reaktionen bekommst, dann löst das Angst aus.

Wenn du regelmäßig unerwartet negative Erfahrungen machst – dann änderst du irgendwann deine Erwartungen.

Ängste und Depressionen entstehen aus der Interaktion mit der Umgebung heraus. Deshalb kann eine autistische Person in einer Umgebung gut zurechtkommen, und in einer anderen zusammenbrechen.

Mehr als 50% der Asperger-Erwachsenen haben eine Depression.

Fehldiagnosen sind häufig

Trotz all dieser Herausforderungen haben viele erwachsene Asperger-Autist*innen gelernt, sich dem neurotypischen (~nicht-autistischem) Verhalten anzunähern. Sie haben gelernt, wie sie ihre Schwächen (zu einem gewissen Grad) kompensieren. Sie haben Tricks und Strategien erlernt und sich ein Leben aufgebaut.

Das kann dazu führen, dass ihnen die Asperger-Diagnose verweigert wird, weil sie die Kriterien nicht ganz erfüllen. Vielleicht wirken sie zu normal, oder es ist schwer erkennbar, was die Ursache ihrer Probleme ist.

Viele erwachsene Asperger-Autist*innen haben eine oder mehrere andere Diagnosen erhalten, bevor bei ihnen Asperger-Autismus erkannt wird.

Diese falschen oder unvollständigen Diagnosen können sein:
ADHS, bipolare Störung, Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörung, Depression, Angststörungen, narzisstische Persönlichkeitsstörung, Oppositionelles Trotzverhalten oder Störung des Sozialverhaltens.

Manche dieser Diagnosen sind korrekt – ich habe oben schon geschrieben, warum Depressionen und Angststörungen bei Asperger-Autist*innen häufige Co-Diagnosen sind. Auch ADHS kommt oft zusammen mit Asperger vor.

Hannah Belcher, autistische Autismus-Forscherin, erzählt:

Erst als ich 23 war, ging ich zu einer Kunsttherapeutin, die mich darauf hinwies, dass ich möglicherweise autistisch war. Ich bin mir sicher, ich hätte bezüglich meiner Ängste als Kind mehr Unterstützung bekommen und hätte weniger unter psychischen Problemen gelitten , wenn ich die Diagnose früher gehabt hätte. Ich habe meine autistischen Züge oft kaschiert, und ich denke, wenn ich gewusst und verstanden hätte, was sie waren, hätte ich mehr ich selbst sein können.

Diese Diagnosen allein sind aber oft wenig hilfreich, wenn Autismus nicht erkannt wird. Für die Behandlung einer sozialen Phobie macht es eben einen Unterschied, ob jemand nur Angst vor sozialen Situationen hat, oder eine Person Angst davor hat, weil sie diese Situationen grundlegend nicht versteht.

Viele Diagnosen sind Fehldiagnosen. Viele Psychiater*innen und Psycholog*innen sind mit dem Asperger-Syndrom nur unzureichend vertraut. Oft kommt es ihnen gar nicht als Möglichkeit in den Sinn. Manchmal verbinden sie damit nur Klischees, zum Beispiel dass Asperger-Autist*innen die Zahl Pi bis auf mehrere hundert Stellen aufsagen könnten. Viele denken, dass das Asperger-Syndrom vor allem bei Männern vorkommt.

Die Diagnosekriterien sind nicht perfekt

Die Diagnosekriterien beziehen sich auf das Verhalten. Eine Asperger-Diagnose bei Erwachsenen kann deshalb schwierig sein, weil sie viele Verhaltensweisen erlernt haben. Dadurch sind bestimmte Symptome vielleicht nicht mehr erkennbar und die diagnostische Fachkraft kommt zum Schluss, dass die Person die Diagnosekriterien nicht erfüllt.

Vielen Asperger-Erwachsenen gelingt Augenkontakt zumindest in bestimmten Situationen – oder sie verwenden scheinbaren Augenkontakt, bei dem sie die Nasenwurzel ansehen. Praktisch alle einen Sinn für Humor – und zwar einen ziemlich raffinierten!

Viele Erwachsene können wechselseitigen Gesprächen teilnehmen, indem sie abwechselnd sprechen und zuhören. Dass sie in der Lage sind, sich in andere hineinzuversetzen (Theory of Mind), zeigt sich in verschiedener Weise.

Einige hatten intensive zwischenmenschliche Beziehungen. Manche sind Eltern. Manche haben gute grob- oder feinmotorische Fähigkeiten. Nicht alle können gut rechnen! Die meisten sind in der Lage zu lügen (auch wenn wir sicherlich keine Meister darin sind). Einige vermeiden bestimmte laute Geräusche, drehen ihre Lieblingsmusik aber gern laut auf.

Wenn du eine autistische Person gesehen hast, dann hast du eine autistische Person gesehen.

Es ist besonders schwierig, die Diagnose danach zu stellen, wie sich jemand in einer therapeutischen Praxis verhält, weil das für viele Asperger-Erwachsene eine Situation ist, mit der sie relativ gut zurechtkommen: ein Einzelgespräch in reizarmer Umgebung, das Gesprächsthema ist klar definiert, und die therapeutische Fachkraft strukturiert das Gespräch oft durch Fragen.

In einer solchen Situation kann es schwer sein, anhand des Verhaltens Asperger-Autismus zu diagnostizieren.

Aber egal wie viel eine autistische Person lernt, sich anzupassen, ihr Gehirn bleibt immer noch autistisch. Die Anstrengung bleibt. Sie wird sogar mehr, je mehr eine autistische Person versucht, sich nicht-autistisch zu verhalten.

Eine Diagnose ist oft sinnvoll.

Ich empfehle dir, auf jeden Fall zu einer diagnostischen Fachkraft zu gehen, die Erfahrung mit dem Asperger-Syndrom hat. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man mit einer Fehldiagnose aus der Praxis kommt.

Hier kannst du mehr über die Diagnostik erfahren. Und wenn du eine erste Einschätzung haben willst, kannst du unseren Asperger Online-Test machen (er ist aber auch nicht perfekt).

Frauen mit Asperger-Syndrom

Hans Asperger dachte lange, dass Mädchen oder Frauen keine volle Ausprägung des Syndroms haben könnten, änderte seine Meinung aber später.

Lorna Wing kam 1981 in einer Studie zum Schluss, dass es bei Menschen mit Asperger-Syndrom oder hochfunktionalem Autismus 15 Mal mehr Männer und Jungen gibt als Mädchen und Frauen. Bei autistischen Menschen mit Lernbehinderungen lag das Verhältnis bei 2:1.

1993 ergab eine viel größere Studie zum Asperger-Syndrom in Regelschulen ein Jungen-Mädchen-Verhältnis von 4:1.

2017 kam eine Studie zum Ergebnis, dass das Verhältnis eher bei 3:1 liegt. Diese Studie basierte auf tatsächlichem Screening statt auf Einschätzungen der Lehrkräfte.

Tatsächlich liegt das Verhältnis wahrscheinlich noch niedriger. Ich wäre nicht erstaunt, wenn sich herausstellt, dass es bei 1:1 liegt.

Neue Forschungen weisen darauf hin, dass die Anzahl an Männern und Frauen im Autismus-Spektrum weit ausgewogener ist als man bisher dachte und diagnostische Statistiken es nahelegten. Das Problem ist, dass Fachkräfte oft nicht verstehen, dass sich Autismus bei Frauen und Mädchen auf andere Arten zeigen kann, weshalb durch Leben gehen, ohne diagnostiziert zu werden und ohne zu verstehen, warum sie sich anders fühlen.

Carol Povey, Direktorin des Centres for Autismus der NAS

Das Asperger-Syndrom wurde durch die Beschreibung von Jungen definiert. Bei Mädchen und Frauen kann es anders aussehen. Oft sind ihre Spezialinteressen vielleicht nicht Computer, sondern Literatur oder Mode. Das entspricht nicht dem Asperger-Klischee, und macht es sehr viel unwahrscheinlicher, das jemand an diese Diagnose denkt. Auch diagnostische Tests spiegeln dieses Problem wieder und sollten überarbeitet werden.

Außerdem sind Asperger-Mädchen und Frauen oft besser darin, ihre Probleme zu verbergen. Sie geben sich oft große Mühe, soziale Codes zu entziffern und sich sozialen Normen anzupassen.

Wenn du also eine Frau bist und denkst, dass das Asperger-Syndrom einerseits passt und andererseits auch wieder nicht, dann könnte das der Grund sein.

Das Thema ist erst in den letzten Jahren stärker ins Augenmerk gerückt, und wird die Forschung noch einige Zeit beschäftigen.

"Mädchen und Frauen können besser darin sein, sich zu ‘tarnen’, so dass ‘typische’ autistische Charakteristika versteckt sein können, wenn sie soziale Kompetenzen erlernen." Meng-Chuan Lai

Asperger als Identität

Auf den ersten Blick ist es vielen Menschen unverständlich, warum sich jemand mit einer Diagnose identifiziert. Aber viele Menschen suchen nach Antworten, um zu verstehen, warum sie ihr Leben lang Außenseiter waren, warum sie irgendwie anders sind als andere Menschen, und warum sie sich manchmal wie von einem anderen Planeten fühlen.

Menschen akzeptieren die Diagnose nicht, weil sie dazugehören wollen – sie akzeptieren sie, weil sie passt.

Warum sollte ich darüber weinen, kein Apfel zu sein, wenn ich als Orange geboren wurde. Ich würde über eine Illusion weinen, ich könnte genauso gut darüber weinen, kein Pferd zu sein.

Donna Williams

Das Wissen um Asperger-Autismus kann ein Werkzeug sein.

Wer im Erwachsenenalter die Diagnose Asperger-Syndrom oder eine Autismus-Spektrum-Diagnose erhält, kann auf sein oder ihr Leben zurückblicken und es in einem neuen Licht verstehen. Es kann einige der Erfolge sowie die vielen Schwierigkeiten erklären.

Dieses Verständnis für sich selbst bringt oft (aber nicht immer) Erleichterung. Die Selbstvorwürfe (Wie kann ich so schlau und gleichzeitig so dumm sein?) lassen nach; man kann sich oft für einige Dinge vergeben, die schief gelaufen sind. Manchmal kann man seinen Eltern, Lehrer*innen und anderen Leuten vergeben, die auch nichts vom Asperger-Syndrom wussten.

98 Prozent der Menschen um dich herum sind nicht-autistisch. Was für sie funktioniert, funktioniert vielleicht nicht für dich. Du brauchst deine eigene Strategie – und die Erfahrungen anderer autistischer Menschen helfen dir dabei. In Zukunft kannst du dein neues Wissen anwenden, um frühere Fallstricke zu vermeiden.

Der Unterschied, den dieses Verständnis im Leben eines Menschen ausmacht, ist tiefgreifend. Es bietet eine Gemeinschaft, einen Ort, an dem es normal ist, autistisch zu sein, und neurotypische Menschen in der Minderheit sind.

Das Privileg, du selbst zu sein, ist ein Geschenk, das viele als selbstverständlich hinnehmen, aber für autistische Menschen ist es das großartigste und seltenste Geschenk überhaupt.

Alyssa Aleksanian

Autismus als Teil der eigenen Identität zu akzeptieren, kann auch helfen, authentischer zu leben:

Erst in den letzten Jahren habe ich eine wichtige Fähigkeit erlernt, die mir wohl die größte Zufriedenheit gibt: Ich habe nun den Mut, authentisch zu leben und mir selbst treu zu sein, anstatt so zu leben, wie andere es von mir erwarten. Ich kann zu Hause die Kleidung tragen, in der ich mich wohlfühle. Auch dann, wenn sie schon uralt und längst aus der Mode ist. Ich darf meine Meinung sagen, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand ungerecht behandelt wird (wie viele andere Menschen mit Autismus habe ich einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn). Und ich muss mich nicht mehr in Lügen verstricken, wenn ich nach meinen Wochenendaktivitäten gefragt werde. Früher erzählte ich das, was andere Leute erzählten. Ich berichtete von Kinobesuchen mit nicht existierenden Freunden oder davon, dass ich ein gutes Buch gelesen hatte. Das brachte natürlich weitere Fragen mit sich wie welcher Film? oder welches Buch?. Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Heute erzähle ich selbstbewusst und glücklich davon, dass ich, meinen speziellen Interessen entsprechend, eine schöne Weihnachtszeitschrift durchgeblättert, über Stunden hinweg am Flussufer gesessen oder Flugzeugen beim Landeanflug zugesehen habe. Ich erzähle von schönen Erlebnissen im Rahmen meiner Vortragsreisen. Ich bin glücklich dabei und habe im Gegensatz zu früher nun das Gefühl, authentisch leben zu können. Das empfinde ich als sehr entspannend und als großes Glück. Und ich weiß heute, dass es egal ist, ob auch andere Menschen meine Lebensziele wichtig finden oder ob sie andere Prioritäten haben und meinen Weg vielleicht sogar ablehnen.

Christine Preißmann (Quelle)

Es ist nichts falsch daran, autistisch zu sein.

Du hast nur dieses eine Leben.

Es wäre schade, wenn du es damit verbringst, jemand anderes zu sein.

"Erst in den letzten Jahren habe ich eine wichtige Fähigkeit erlernt, die mir wohl die größte Zufriedenheit gibt: Ich habe nun den Mut, authentisch zu leben und mir selbst treu zu sein, anstatt so zu leben, wie andere es von mir erwarten." Christine Preißmann

Liebe, Partnerschaft und Familie

Falls du irgendwo gelesen hast, dass autistische Menschen keine Gefühle hätten: Das ist falsch.

Wir haben Gefühle, und die meisten von uns haben auch Interesse an Beziehungen:

Eine Studie befragte hochfunktionale Autist*innen und kam zum Ergebnis, dass die große Mehrheit Interesse an romantischen Beziehungen hat. Nur 7% hatten kein Interesse daran.

44% lebten zum Zeitpunkt der Studie in einer Partnerschaft. Frühere Beziehungen miteinbezogen, hatten 73% Erfahrungen mit romantischen Beziehungen.

Asperger und Partnerschaft

Ein interessantes Ergebnis der Studie war, dass Autist*innen, die in einer Partnerschaft mit einer Person lebten, die ebenfalls autistisch war, signifikant zufriedener mit ihrer Beziehung waren als die, die in einer Partnerschaft mit einer nicht-autistischen Person lebten.

Und Kinder? Es gibt meines Wissens keine Zahlen darüber, wie viele Autist*innen Eltern sind. Es sind aber nicht wenige. Oft kommt es vor, dass ein Elternteil erst als autistisch erkannt wird, nachdem ein Kind eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum bekommen hat.

Ich möchte ganz klar sagen, dass eine Autismus- oder Asperger-Diagnose eine Person nicht automatisch unfähig macht, ein guter Partner oder ein guter Elternteil zu sein. Tatsächlich sind die Menschen mit Autismus oder Asperger, die ich als Klienten oder Freunde kenne, außerordentlich gute Eltern und Partner. Sollte es zu einer Trennung kommen und ein Gericht die Frage des Sorgerechts und des Umgangs prüft, sollte meiner Meinung nach jegliche Entscheidung auf der Basis der Fähigkeiten eines jeden Elternteils getroffen werden und nicht einfach angenommen werden, dass der Elternteil mit Autismus oder Asperger-Syndrom nicht in der Lage sei, ein guter Elternteil zu sein.

Tony Attwood

Asperger-Autist*innen im Beruf

Asperger-Autist*innen haben oft große Probleme, Arbeit zu finden und zu behalten.

Überdurchschnittlich ausgebildete Arbeitslose ist der Titel und das Fazit einer Studie, welche die Situation erwachsener Autist*innen in Deutschland untersucht hat.

Die Studie zeigt einerseits, dass Asperger-Erwachsene überdurchschnittlich gut ausgebildet waren: 52% hatten Abitur, 39% einen Hochschulabschluss (zum Vergleich: in der Allgemeinbevölkerung lag die Abiturientenquote 2009 bei 46% und die Hochschulabsolventenquote bei 29%).

Über 80% der Asperger-Autist*innen verfügten über eine abgeschlossene Berufsausbildung (Lehre oder Studium).

In deutlichem Kontrast zur Ausbildung steht die Teilhabe am Berufsleben:
Die Asperger-Erwachsenen waren zu fast 60 % nicht berufstätig, 10 % waren deutlich unter ihrem Ausbildungsniveau beschäftigt und nur 30 % gingen einer regelmäßigen Berufstätigkeit nach, die ihrem Ausbildungsniveau entsprach.

Asperger-Erwachsene: gut ausgebildet, oft arbeitslos.

Übrigens zeigte sich auch in dieser Studie eine hohe Rate an Depressionen: 57% der Menschen im Autismus-Spektrum hatten eine Depression. Zum Vergleich: In der Allgemeinbevölkerung haben 6% eine Depression.

Universitäten sind bekannt für ihre Toleranz gegenüber ungewöhnlichen Charakteren, besonders wenn sie Orginalität und Hingabe zu ihrer Forschung zeigen. Ich sage oft, dass Universitäten nicht nur Kathedralen für die Verehrung des Wissens sind, sondern auch geschützte Werkstätten für Menschen, für die soziale Interaktion eine Herausforderung ist.

Tony Attwood

Für Asperger-Kinder gibt es heute viel mehr Unterstützung als noch vor einigen Jahren. Sie können in der Schule durch Schulbegleiter*innen unterstützt werden. Es gibt Autismus-Beauftragte an den Oberschulämtern und auch bei den Lehrkräften bildet sich allmählich ein Bewusstsein für Autismus.

Die Situation Erwachsener sieht ganz anders aus.

Autistisches Verhalten stößt bei Kolleg*innen und Vorgesetzten auf Unverständnis. Auch Sachbearbeiter beim Jobcenter haben im Allgemeinen keine Ahnung von Autismus und kein Verständnis für die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Jobsuche.

Wer sich auf die Suche nach autismusspezifischer Unterstützung im Beruf macht, muss feststellen, dass es fast keine gibt.

Eine Arbeitsassistenz bekommt man nur in seltensten Fällen. Ein Training berufsspezifischer sozialer Kompetenzen für Autist*innen? Wo gibt es das? Selbst autismusspezifische Berufsberatungen gibt es fast keine. Es gibt zwar einige Firmen, die speziell Autist*innen beschäftigen, aber es sind sehr wenige, meist IT-fokussiert, und sie sind nicht für jede*n geeignet.

Weil solche Maßnahmen Geld kosten, heißt es dann schnell: Wenn man es durch Schule und Studium geschafft hat, ohne groß aufzufallen, kann man ja so behindert nicht sein.

Die Studie zeigt, dass die Diskrepanz zwischen einer guten Ausbildung und großen Schwierigkeiten im Berufsleben typisch für Autist*innen ist.

Ja, es gibt eine Tragödie, die mit Autismus einhergeht: nicht das, was wir sind, sondern das, was uns widerfährt.

Jim Sinclair

Das müsste nicht so sein.

Menschen im Autismus-Spektrum können beruflich erfolgreich sein,

  • wenn das Arbeitsumfeld sie nicht sensorisch überlastet,
  • wenn die Arbeit kein Multitasking erfordert,
  • wenn sie nicht ständig unterbrochen oder mit plötzlichen Veränderungen konfrontiert werden,
  • wenn die Erwartungen an ihre Arbeit klar und direkt kommuniziert werden,
  • wenn soziale Kontakte am Arbeitsplatz stark strukturiert oder minimal sind,
  • wenn die Kolleg*innen und Vorgesetzten unterstützend und entgegenkommend sind oder ähnliche oder kompatible Persönlichkeiten haben.

Kleine Anpassungen am Arbeitsplatz können enorm helfen. Zum Beispiel hilft es manchen Aspergern, wenn sie Anweisungen schriftlich bekommen. Generell helfen klare Kommunikation und klare Strukturen.

Es gibt nicht wenige erfolgreiche und sogar berühmte Aspies. Einigen der größten Wissenschaftler*innen wird nachgesagt, dass sie autistisch gewesen seien. Ein paar sehr kreative und humorvolle Menschen sind Asperger, zum Beispiel Dan Aykroyd (Ghostbusters) und Dan Harmon (Community). Auch der Schöpfer von Pokémon, Satoshi Tajiri, ist ein Aspie.

Ich habe Asperger-Syndrom, aber ich komme damit klar. Eines meiner Symptome war meine Leidenschaft für Geister und Polizei – ich habe zum Beispiel immer ein Polizeiabzeichen mit mir herumgetragen. Ich war ganz besessen von Hans Holzer, dem großartigsten Geisterjäger aller Zeiten. So entstand die Idee für meinen Film Ghostbusters.

Dan Aykroyd

"Wenn ich jemand anderes wäre, wäre ich nicht Ladyhawke."

Es gibt Schauspieler*innen mit Asperger-Syndrom, zum Beispiel Daryl Hannah und Anthony Hopkins. Musiker*innen im Autismus-Spektrum sind Courtney Love, Adam Young (Owl City), Ladyhawke, Gary Numan, Craig Nicholls und David Byrne. Chris Packham, ein britischer Umweltschützer, Naturfotograf, Fernsehmoderator und Autor, ist Asperger, genauso wie Nobelpreisträger Vernon Smith und Bram Cohen, der Erfinder von BitTorrent.

Es scheint uns, als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss Autismus geradezu notwendig.

Hans Asperger

Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Aspies mehr Potential für beruflichen Erfolg haben als ein Durchschnittsmensch. Sie fokussieren sich stark auf ein Thema und werden Expert*innen darin, und sie sind oft intelligent und kreativ. Aber in einer nicht-autistischen Welt, die sie nicht versteht, werden sie zu einer traurigen Statistik von Arbeitslosigkeit und Depression.

Therapie und Unterstützung

Unterstützungsangebote, die gezielt auf erwachsene Asperger-Autist*innen zugeschnitten sind, sind rar. Und wenn man eines gefunden hat, das zu den eigenen Bedürfnissen passt, muss man unter Umständen jahrelang darum kämpfen, es bewilligt zu bekommen.

Ich liste hier einige Formen der Unterstützung, die mir bekannt sind. Nicht jedes Angebot ist für jede Person geeignet, ob etwas davon für dich geeignet ist, musst du selbst entscheiden.

Asperger-Gruppen

Hilfreich können Asperger-Selbsthilfegruppen oder auch andere Gesprächsgruppen sein. Auch Freizeitgruppen oder organisierte Reisen für Asperger-Erwachsene können das Leben bereichern.

Ambulant betreutes Wohnen

Manche Aspies leben in ihrer eigenen Wohnung oder einer betreuten Wohngemeinschaft (Aspie-WG) und erhalten Unterstützung von ihrer Einzelfallhelfer*in. Der Bedarf kann wenige Stunden pro Woche betragen oder auch deutlich mehr.

Einzelfallhelfer*innen können je nach Bedarf bei vielen unterschiedlichen Dingen helfen. Oft stehen lebenspraktische Alltagsaufgaben im Vordergrund, zum Beispiel:

  • Begleitung zu Terminen, Vereinbaren von Terminen
  • Papierkram erledigen, zum Beispiel Briefe beantworten, Formulare ausfüllen
  • Umgang mit Geld
  • Beratung bei sozialen Konflikten
  • Einkäufe
  • Sauberkeit der Wohnung
  • Körperhygiene

In vielen Wohngemeinschaften gibt es regelmäßige Gruppenversammlungen, in denen Angelegenheiten geregelt werden, welche die Gruppe betreffen. Bei Auseinandersetzungen der Bewohner*innen untereinander oder mit den Betreuungspersonen gibt es die Möglichkeit einer Konfliktberatung.

Das ambulant betreute Wohnen gibt es auch in der Form des Begleiteten Familienwohnens. Beim Begleiteten Familienwohnen werden auch die Kinder und die Partner*innen begleitet und unterstützt.

Übrigens: Sämtliche Leistungen zur Teilhabe können auch als Persönliches Budget in Anspruch genommen werden. Das gilt ausdrücklich auch für das betreute Wohnen.

Arbeitsassistenz

Arbeitsassistenz soll Menschen, die wegen ihrer Behinderung eine Hilfestellung bei der Arbeitsausführung benötigen, ansonsten aber in der Lage sind, ihre arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen, die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen. Der behinderte Mensch selbst leitet seine Assistenzkraft an.

Leider werden Arbeitsassistenzen für Menschen im Autismus-Spektrum nur selten bewilligt.

Integrationsfachdienst

Der Integrationsfachdienst berät und unterstützt arbeitssuchende und beschäftigte Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis und ihre Arbeitgeber. Die Autismus-Kompetenz ist unterschiedlich ausgeprägt.

Firmen

Es gibt einige Firmen, die ausschließlich Mitarbeitende im Autismus-Spektrum beschäftigen, in Deutschland zum Beispiel Auticon. Auch weitere Firmen, darunter SAP, stellen gezielt autistische Menschen ein.

Studium

An Universitäten gibt es meist eine Enthinderungsberatung, die beim AStA angesiedelt ist.

Studierende im Autismus-Spektrum haben Anspruch auf  Nachteilsausgleich. Welche Nachteilsausgleiche man dabei geltend machen will und kann, ist individuell.

Schwerbehindertenausweis

Ein Schwerbehindertenausweis hat gewisse Vorteile, zum Beispiel ein Steuerfreibetrag und ein gewisser Schutz vor Kündigung. Der Schwerbehindertenausweis ist in einigen Situationen nützlich, oft wird seine Bedeutung jedoch überschätzt.

Psychotherapie

Asperger-Erwachsene haben oft eine lange Geschichte von Missverstandenwerden, Ausgrenzung, Mobbing und einem Leben am Rande der Gesellschaft. Manchmal kann es hilfreich sein, diese Probleme in einer Psychotherapie aufzuarbeiten.

Psychologische Probleme wie Depression, Angststörungen und ähnliches sind behandelbar und wenn du damit zu kämpfen hast, solltest du dir Unterstützung suchen. Eine kognitive Verhaltenstherapie kann zum Beispiel bei Ängsten helfen. Einige Menschen im Autismus-Spektrum haben die Erfahrug gemacht, dass ihnen eine tiefenpsychologische Psychotherapie bei Selbstwertproblemen geholfen hat.

Hilfreich kann es sein, Probleme und Konflikte aus dem Alltag mit der therapeutischen Fachkraft zu besprechen. Dabei kann man zum Beispiel die eigene Wahrnehmung sozialer Situationen mit der einer neurotypischen Person vergleichen, neue Wege finden, Konflikte zu lösen, oder planen, wie man sich in einer neuen Situation verhalten will.

Logopädie

In einer Logopädie kannst du lernen, wie du deine Stimme besser einsetzt und modulierst. Das kann nützlich sein, wenn du einen Sprechberuf hast.

Soziales Kompetenztraining

Vereinzelt gibt es soziales Kompetenztraining für Erwachsene im Autismus-Spektrum.

Sensorisches Integrationstraining

Wer Schwierigkeiten mit der Wahrnehmungsverarbeitung hat, kann ein sensorisches Integrationstraining machen (meist im Rahmen einer Ergotherapie). Manche Aspies haben auch mit anderen ergotherapeutischen Angeboten gute Erfahrungen gemacht.

Assistenzhund

  • Ein Autismus-Assistenzhund kann bei Reizüberflutung beruhigend wirken und Meltdowns verhindern.
  • Er kann als Puffer zwischen der autistischen Person und der Außenwelt agieren, um andere Menschen auf Abstand zu halten.
  • Einige Menschen im Autismus-Spektrum berichten, dass ihr Hund sie warnt, wenn eine Person nicht vertrauenswürdig ist.
  • Je nach Bedarf gibt es weitere Situationen, in denen ein Autismus-Assitenzhund hilfreich sein kann.

Anders als ein Blindenhund wird ein Autismus-Assistenzhund bisher nicht von den Kassen bezahlt.

Diese Liste ist nicht abschließend, je nach individuellem Bedarf sind auch andere Formen der Unterstützung denkbar.

Ausblick

Asperger-Erwachsene, die ohne Diagnose aufgewachsen sind, haben bereits viel geleistet – oft mehr, als ihnen selbst bewusst ist. Viele haben sich jahre- oder jahrzehntelang in einer Berufswelt durchgeschlagen, die nicht für sie gemacht ist. Viele haben sich einen Platz in dieser Gesellschaft mühsam erkämpft.

Ihre Geschichte sind Überlebensgeschichten.

Ich wünsche mir, dass ihre Erfahrungen als Expertise anerkannt werden, und dass wir als Gesellschaft von ihnen lernen.

Ich hoffe, dass viele undiagnostizierte Erwachsene von Asperger-Autismus erfahren, sich selbst besser verstehen und ihr Leben zum Positiven verändern können.

Und ich wünsche mir, dass unsere Gesellschaft mehr Unterstützung für erwachsene Asperger-Autist*innen bietet. Nur dass jemand ohne spezielle Unterstützung 30, 40 oder 50 Jahre überlebt hat, heißt nicht, dass er oder sie keine Unterstützung gebraucht hätte.



Zuletzt bearbeitet am 15.06.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus