Wir sind autistisch und das ist gut so.

Wenn ein Kind für sein Alter außergewöhnlich gut liest, kann es sich um Hyperlexie handeln. Aber es kann schwierig sein, den Unterschied zwischen einem hochbegabten Kind und einem Kind mit Hyperlexie zu erkennen.

Hyperlexische Kinder sind oft (aber nicht immer) autistisch.

Was ist Hyperlexie?

Hyperlexie ist ein Syndrom, das durch die frühzeitige Lesefähigkeit eines Kindes gekennzeichnet ist. Kinder mit Hyperlexie lesen typischerweise vor dem vierten Geburtstag, ohne dass es ihnen jemand beigebracht hätte. Oft können sie zwar sehr gut Wörter entschlüsseln, haben aber Schwierigkeiten im Leseverständnis.

Symptome von Hyperlexie

Das kennzeichnende Merkmal von Hyperlexie bei Kindern ist eine außergewöhnliche Lesefähigkeit, die deutlich über das Alter und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes hinausgeht. Diese Lesefähigkeiten werden autodidaktisch erworben.

Weitere Anzeichen von Hyperlexie können sein:

  • Faszination für Zahlen und Buchstaben
  • eine starke Vorliebe für Buchstaben und Bücher
  • Extrem gutes auditives und visuelles Gedächtnis
  • sensorische Sensibilität
  • Schwierigkeiten bei der verbalen Kommunikation
  • Hyperlexische Kinder bevorzugen möglicherweise Bücher gegenüber Spielzeug und Spielen.
  • Die Fähigkeit zur Wortdekodierung ist in der Regel deutlich höher als ihr Leseverständnis.

Als der Begriff in den 1960er Jahren geprägt wurde, bezeichnete man mit Hyperlexie vor allem Kinder mit neurologisch bedingten Behinderungen, die überdurchschnittliche Fähigkeiten beim Lesen von Wörtern zeigten.

Tatsächlich kann Hyperlexie ein Anzeichen für eine neurologisch bedingte Behinderung sein, vor allem Autismus (einschließlich des Asperger-Syndroms).

Frühes Lesenlernen kommt auch bei Kindern mit Hochbegabung vor, dabei kann es sich um Hyperlexie handeln, muss es aber nicht. Denn Hyperlexie wird meist darüber definiert, dass die Lesefähigkeiten weit über das hinausgehen, was man aufgrund der kognitiven Fähigkeiten erwartet würde.

Bei hyperlexischen Kindern ist die Fähigkeit zur Wortdekodierung deutlich höher als ihr Leseverständnis. Auch ihre verbalen Kommunikationsfähigkeiten liegen möglicherweise unter ihrem Altersniveau. Diese Schwierigkeiten werden leicht übersehen, sie können einigen Kindern aber große Probleme machen.

Diagnose von Hyperlexie

Es gibt keinen standardisierten Test auf Hyperlexie. Hyperlexie wird anhand des Verhaltens und des spezifischen Profils der Fähigkeiten diagnostiziert. Die Diagnose kann Gespräche sowie Leseaufgaben und andere Sprachtests umfassen.

Manchmal wird Hyperlexie zunächst übersehen. Oft konzentrieren sich Eltern und Lehrer so sehr auf die Stärken der Schüler, dass sie die Verständnisprobleme nicht erkennen.

Wenn dein Kind extrem früh zu lesen begonnen hat, solltest du dein Verständnis überprüfen. Bitte es, dir zu erzählen, was in der Geschichte passiert ist, oder stelle gezielte Fragen zum Text, vor allem, wenn das Kind andere Lernschwierigkeiten hat.

Welche Ursachen hat Hyperlexie?

Der Psychiater Darold Treffert unterscheidet drei Formen von Hyperlexie, die jeweils unterschiedliche Ursachen haben können.

  • Hyperlexie 1 – Neurotypische Kinder, die einfach sehr früh und über die alterstypischen Fähigkeiten hinaus lesen lernen. Andere Kinder holen dies mit der Zeit auf, sodass es bald keinen Unterschied mehr gibt.
  • Hyperlexie 2 – Diese Form der Hyperlexie tritt bei autistischen Kindern auf. Sie wird durch ein intensives Interesse an Buchstaben verursacht, das dazu führt, dass die Kinder ein viel höheres Leseniveau erreichen als andere Kinder ihres Alters. Manchmal wird es auch als Inselbegabung bezeichnet.
  • Hyperlexie 3 – Diese Kinder lesen früh und zeigen einige autismusähnliche Verhaltensweisen, sind aber relativ aufgeschlossen und interaktiv. Sie haben einige Sprachschwierigkeiten und sind sozial unbeholfen im Umgang mit Gleichaltrigen, wenn auch weniger im Umgang mit Erwachsenen. Mit der Zeit verschwinden diese Symptome jedoch.

Bei Kindern mit Hyperlexie 3 wird manchmal fälschlicherweise Autismus diagnostiziert, und dann davon gesprochen, dass der Autismus sich »ausgewachsen« hätte oder »geheilt« wäre. Tatsächlich waren diese Kinder aber nie autistisch.

Hyperlexie ist allerdings wenig erforscht und es gibt hyperlexische Kinder, die in keine dieser Kategorien genau hineinpassen.

Hyperlexie und Autismus

Einer Studie zufolge werden 84 % der hyperlexischen Kinder dem Autismus-Spektrum zugerechnet.

Weil Hyperlexie seltener ist als Autismus, haben umgekehrt nur 6 bis 14 % der Kinder, bei denen Autismus diagnostiziert wird, eine Hyperlexie.

Hyperlexie kann auch zusammen mit anderen neurologischen Behinderungen auftreten, zum Beispiel dem Williams-Beuren-Syndrom.

Therapie und Herangehensweisen

Hyperlexie ist keine Störung und muss nicht behandelt werden. Aber wie bereits beschrieben, haben hyperlexische Kinder oft Schwierigkeiten, bei denen sie Unterstützung brauchen.

Das effiziente und genaue Dekodieren von Wörtern ist zwar ein wichtiger Bestandteil des Lesens, aber eben nicht die einzige Fähigkeit, die für den schulischen Erfolg erforderlich ist. Die Schüler*innen müssen auch in der Lage sein, das Gelesene zu verstehen und es in ihre Hausaufgaben und andere schulische Aktivitäten zu integrieren, um erfolgreich zu sein.

Hyperlexische Kinder brauchen deshalb trotz ihrer Stärken möglicherweise Unterstützung in bestimmten Aspekten. Ein häufiger Ansatz ist Logopädie.

Was ist Hyperlexie?

Logopädie

Logopädische Therapie kann helfen, die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten hyperlexischer Kindern zu verbessern. Jeder logopädische Behandlungsplan ist anders, aber er konzentriert sich beispielsweise auf Bereiche wie

  • Hörverständnis,
  • Sprechen,
  • Schreiben, und
  • soziale Kommunikation.

App für Hör- und Leseverständnis

Es gibt auch eine kostenlose App für autistische hyperlexische Kinder, die darauf abzielt, das Hör- und Leseverständnis zu verbessern. Sie heißt Activities for Reading Comprehension (ARC) und entstand aus einem Forschungsprojekt heraus. Leider gibt es keine deutsche Version, aber es ist möglich, eigene Wörter und Bilder hinzuzufügen.

Das Prinzip der App ist einfach und es gibt ähnliche Apps, mit denen Kinder Vokabeln lernen können – möglicherweise kann man davon auch eine zweckentfremden.

Ergotherapie

Je nachdem, wo die Schwierigkeiten liegen, kann auch Ergotherapie helfen. Sie wird individuell gestaltet und konzentriert sich auf die Bereiche, in denen das Kind Schwierigkeiten hat, zum Beispiel:

  • Selbstfürsorge und lebenspraktische Fähigkeiten
  • Teilnahme an sozialen Aktivitäten
  • Teilnahme an schulischen Aktivitäten
  • Schreiben
  • Sensorische Integration (Reizverarbeitung)

Hilfreiche Strategien

Einige Strategien, die nützlich sein können, um an diesen Fähigkeiten zu arbeiten, sind

Als Elternteil machst du einen großen Teil des Behandlungsplans für dein Kind aus. Du bist oft die erste Person, die erkennt, was dein Kind braucht und was funktioniert bzw. nicht funktioniert.

Mach dir Notizen über deine Beobachtungen und tausche dich regelmäßig mit den Lehrer*innen und Therapeut*innen deines Kindes aus. Der Behandlungsplan deines Kindes wird sich wahrscheinlich im Laufe seines Wachstums und Lernens weiterentwickeln und verändern, und du spielst dabei eine wichtige Rolle.

Vorsicht vor Überforderung

Eltern und Lehrkräften überfordern hyperlexische Kinder manchmal kognitiv, weil sie automatisch annehmen, dass ein Kind, das bereits lesen kann, auch in anderen Bereichen weiter ist. Das ist bei Hyperlexie aber in der Regel nicht der Fall.

Außerdem besteht ein Schultag aus sehr viel sprachlichem Input (mündlich und schriftlich), und ein Kind, das Schwierigkeiten im Verständnis hat, ist davon oft erschöpft.

Es ist wichtig, das zu berücksichtigen und dem Kind genug Möglichkeiten geben, sich zu erholen und zu entspannen.

Quellen und Studien
  • Aaron, P. G. (2012). Dyslexia and hyperlexia: Diagnosis and management of developmental reading disabilities (Vol. 1). Springer Science & Business Media.
  • Grigorenko, E. L., Klin, A., & Volkmar, F. (2003). Annotation: Hyperlexia: disability or superability?. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 44(8), 1079-1091.
  • Grigorenko, E. L., Klin, A., Pauls, D. L., Senft, R., Hooper, C., & Volkmar, F. (2002). A descriptive study of hyperlexia in a clinically referred sample of children with developmental delays. Journal of Autism and Developmental disorders, 32, 3-12.
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  • Ostrolenk, A., Forgeot d’Arc, B. F., Jelenic, P., Samson, F., & Mottron, L. (2017). Hyperlexia: Systematic review, neurocognitive modelling, and outcome. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 79, 134-149.
  • Silberberg, N. E., & Silberberg, M. C. (1967). Hyperlexia—Specific word recognition skills in young children. Exceptional children, 34(1), 41-42.
  • Treffert, D. A. (2011). Hyperlexia III: Separating ‘autistic-like’behaviors from autistic disorder; Assessing children who read early or speak late. WMJ, 110(6), 281-286.

Zuletzt bearbeitet am 14.06.2023.

Linus Mueller
Linus Mueller, M.A.

Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus