Umgang mit Stress, Angst & Panikattacken
Studierende im Autismus-Spektrum erleben im Studium oft hohe Level von Stress und Angst. Hier findest du Tipps und Strategien, damit umzugehen.
Inhaltsverzeichnis
Stress
Etwas Stress zu erleben gehört zum Alltag. Kleine Mengen können gesund sein und Menschen motivieren, auf Erfolge hinzuarbeiten. Ein konstant hoher Stresslevel kann aber ungesund sein.
An jeder Uni gibt es einige Studierende, die unter ungesundem Stress leiden. Autistische Studierende gehören überproportional häufig dazu. Ich würde sogar sagen, dass praktisch alle autistischen Studierenden zumindest zeitweise ungesund hohe Stresslevel haben.
Einige der Dinge, die zu Stress im Studium beitragen, können sein:
- Eine Hausarbeit ist möglicherweise schwer zu schreiben.
- Du verstehst die Anforderungen einer benoteten Aufgabe oder Prüfung nicht.
- Möglicherweise findest du die Studieninhalte uninteressant oder zu schwierig, oder dich interessieren andere Aspekte daran.
- Die Studieninhalte können zu langsam oder zu schnell durchgenommen werden.
- Vielleicht erhältst du Feedback oder Noten, die du als unfair empfindest (oder schlechter als erhofft).
- Möglicherweise hast du Schwierigkeiten, einen Lernplan einzuhalten und hast das Gefühl, dass du zurückfällst.
- Du kannst keinen ruhigen Ort in der Bibliothek finden, an dem du lernen kannst, oder an dem du dich zwischen den Veranstaltungen erholen kannst.
- Es gibt einen Ortswechsel für die Klassen, plötzliche Änderungen von Stundenplänen und Aufgaben.
- Du hast Probleme oder Konflikte mit anderen Studierenden.
- Du fühlst dich sozial isoliert und ängstlich, wenn du mit anderen Studierenden zusammen bist.
- Du wirst durch äußere Reize in den Lehrveranstaltungen abgelenkt, zum Beispiel durch knarrende Stühle oder weil der Dozent dauernd »ähm« sagt.
- Vielleicht überfordert dich die Studienorganisation, der Weg zur Uni oder andere Hürden.
- Deine Wohnsituation ist stressig.
- Dein Alltag verursacht dir sensorische Probleme.
- Referate und andere Situationen, in denen du vor Menschen sprechen musst, bereiten dir Stress.
- Der Versuch, dich anzupassen und deinen Autismus zu verstecken, kann zu Stress und Ängsten führen.
- Möglicherweise bekommst du keine geeignete Unterstützung oder Nachteilsausgleich.
- Gruppenarbeiten können schwierig sein (siehe den Artikel zu Gruppenarbeit).
- Klausuren und Prüfungen sind stressig.
Stress beeinflusst deine Gefühle, und kann dazu führen, dass du dich ängstlich, gereizt, oder einfach überwältigt fühlst.
Stress beeinflusst auch die Art und Weise, wie sich dein Körper anfühlt. Ein hohes Maß an Stress kann zu erhöhter Muskelspannung, schnellerer Herzschlagfrequenz, Magenverstimmung oder Kopfschmerzen führen.
Ein hoher Stresslevel kann auch zu einem starken Bedürfnis nach Stimming führen. Gerade an der Uni fühlen sich viele autistische Studierende nicht wohl damit, erkennbares Stimming zu nutzen. Das kann zu weiteren Stress führen.
Angst
Ein gewisses Maß an Angst ist hilfreich als natürliche Reaktion, um das Bewusstsein für mögliche Bedrohungen oder Gefahren zu schärfen. Anhaltende Ängste sind ungesund.
Ängste können zu einem Problem werden, wenn sie nicht nachlassen und dich daran hindern, alltägliche Aufgaben auszuführen. Wenn du beispielsweise beim Betreten eines Vorlesungsraums oder der Cafeteria immer Angst hast, kann das darauf hinweisen, dass du nicht gut zurechtkommst.
Panikattacken
Panikattacken sind eine Reaktion auf Stress und Angst. Sie können durch stressige Situationen ausgelöst werden, zum Beispiel
- wenn du nicht weißt, was du in einer Situation tun sollst,
- wenn du von anderen verspottet wirst oder
- wenn deine Beziehung auseinanderbricht.
Panikattacken können eine furchterregende Erfahrung sein, bei der der Körper so reagiert, als wäre er in großer Gefahr, während man tatsächlich in einer Situation ist, in der die meisten Menschen keine Angst haben würden.
Panikattacken gehen mit unangenehmen körperlichen Symptomen wie schneller Herzfrequenz, Atembeschwerden, Muskelschmerzen, Magenschmerzen, Schwindel und Schwitzen einher. Regelmäßig interpretieren Menschen, die eine Panikattacke erleiden, diese Symptome als lebensgefährliche Krankheit. Das ist verständlich, verschlimmert die Angst aber nur.
Diese körperlichen Symptome sind die Reaktion des Körpers auf Gefahren. Es ist wichtig zu wissen, dass die Symptome nicht bedeuten, dass du eine lebensbedrohliche körperliche Krankheit hast.
Umgang mit Stress, Angstzuständen und Panikattacken
Praktische Tipps und Erfahrungen autistischer Studierender
Laut einer Umfrage von Autism&Uni nutzen viele autistische Studierende folgende Aktivitäten zum Stressabbau:
- Bewegung/Sport
- Musik
- Kunst
- Meditation und Achtsamkeit
- Lieblingsessen und -getränke
- Gespräche mit Familie und Freund*innen
- Mentoring
- Gespräche mit Dozent*innen und Tutor*innen
Wege zum Stressabbau können sehr individuell sein. Hier sind einige persönliche Erfahrungen autistischer Studierender, was für sie funktioniert:
»Handarbeit ist entspannend, und auch auf Situationen vorbereitet zu sein.«
»Meine Studienassistenz hilft mir, mich zu beruhigen.«
»In meinen Notizbüchern zeichnen.«
»Chatten in einem Online-Forum mit anderen neurodiversen Studenten.«
»Sich auf die Ursachen der Situation konzentrieren.«
»Ich habe mich in die AStA-Arbeit gestürzt: an Sitzungen teilgenommen, Veranstaltungen geplant, bei Kampagnen geholfen.«
»E-Mail-Kontakt mit meinem Tutor. Persönliche Treffen hätte ich nur ungern arrangiert oder besucht.«
»Clubbing :-)«
Finde deinen Weg zur Entspannung
Die folgenden Fragen können dir dabei helfen:
- Was tust du zu Hause gerne, damit du dich entspannt fühlst?
- Welche Speisen und Getränke helfen dir, dich besser zu fühlen? Kannst du dafür sorgen, dass du etwas dabei hast?
- Mit wem kannst du reden?
- Was wissen deine Dozent*innen und Tutor*innen darüber, wie es sich auf dich auswirkt, autistisch zu sein?
- Wohin kannst du gehen, wenn du dich gestresst fühlst? Erstelle eine Liste geeigneter Orten. (Denke dabei an sensorisch angenehme Orte.)
- Was ist deine Lieblingssportart? Auch unsportliche Menschen finden meist etwas, das ihnen Spaß macht.
Techniken zum Umgang mit Stress, Angst und Panikattacken
Es gibt eine Reihe von Techniken, die helfen, Stress, Angst und Panikattacken zu bewältigen. Mit ihnen kannst du verhindern, dass deine Reaktionen außer Kontrolle geraten, und sie können dazu beitragen, dass es dir besser geht.
- Wähle 2-3 Techniken aus, die du am sichersten und am besten anwenden kannst.
- Übe diese Techniken jeden Tag, auch wenn du wenig Stress oder Angst hast.
- Dann kannst du diese Techniken sicher anwenden, um herausfordernde Situationen zu meistern.
Muskelentspannung
Diese Übung hilft dir, den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung in den Muskeln zu erkennen. Übe diese Übung zweimal täglich für 15 Minuten. Konzentriere dich auf die 4 Hauptmuskelgruppen:
- Hände, Unterarme und Bizeps (Arme).
- Kopf, Gesicht, Hals und Schultern.
- Brust, Bauch und unterer Rücken.
- Oberschenkel, Gesäß, Waden und Füße (Beine).
Spanne die Muskeln für 5-7 Sekunden an und entspanne sie für 10-15 Sekunden.
Meditation
Meditation ist ein effektiver Weg, um deinen Körper und deinen Geist zu entspannen. Angeleitete Meditationen gibt es auf CDs, Apps oder im Internet. Versuche, mindestens einmal am Tag zu meditieren.
Langsames Atmen
Damit kannst du dich beruhigen, bevor du dich in eine stressige Situation begibst oder während du dich in einer stressigen Situation befindest. Langsames Atmen kann auch eingesetzt werden, um eine Panikattacke zu bewältigen. Je länger und tiefer du atmest, desto mehr wirst du dich entspannen. Übe das mehrmals am Tag.
- Atme langsam und tief durch die Nase ein.
- Zähle langsam bis fünf, während du einatmest.
- Halte den Atem ein paar Sekunden lang an.
- Zähle langsam bis fünf, während du ausatmest.
- Mache dies 6 Mal und wenn du dich immer noch ängstlich fühlst, wiederhole es weitere 6 Mal.
- Übe dies mehrmals am Tag.
Achtsamkeit
Achtsamkeit ist eine wirksame Methode, um Stress und Ängste abzubauen. Dazu gehört, dass du dir des gegenwärtigen Augenblicks voll bewusst bist und jeder Erfahrung mit einer Haltung der Neugier und Offenheit begegnest. Achtsamkeit kann dir helfen, mit verletzenden Gedanken und Gefühlen umzugehen. Ein Psychologe oder Berater kann dir helfen, Achtsamkeit zu lernen.
Fabic-Verhaltensskala
Die Fabic-Verhaltensskala ist eine visuelle Skala, die dir hilft, unerwünschte Verhaltensweisen, die durch Angst verursacht werden, zu ändern. Die Skala zeigt anhand von Gesichtern und Farben, wie du dich fühlst, wenn dein Angstlevel steigt.
Die Skala besteht aus 3 Schritten:
- Lerne, die eigenen Körperzeichen oder die einer anderen Person zu lesen, um zu erkennen, was der Körper tut, um Angst zu zeigen.
- Lerne zu verstehen, was die Ursache für die Spannungen in deinem Leben sein könnte.
- Lerne Verhaltensweisen, mit denen du auf herausfordernde Aspekte deines Lebens reagieren und sie bewältigen kannst.
Obwohl die Schritte einfach sind, brauchen viele Menschen Unterstützung, um diese 3 Schritte effektiv in ihrem Leben anzuwenden. Eine Psycholog*in kann dir dabei helfen.
Körperliche Bewegung
Regelmäßige körperliche Betätigung kann helfen, Stress und Ängste abzubauen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil deines emotionalen Wohlbefindens.
Versuche, Bewegung in deinen Tagesablauf einzubauen. Das kann ein 30-minütiger Spaziergang, Joggen, Wassersport, Fahrradfahren oder ein Training im Fitnessstudio sein.
Ernährung
Manche Menschen finden, dass koffeinhaltige Lebensmittel wie Kaffee und Schokolade Ängste oder Panikattacken verstärken können. Wenn das bei dir der Fall ist, solltest du diese Produkte meiden.
Positiv denken und handeln
Positives Denken und Handeln kann dein emotionales Wohlbefinden steigern und Stress und Ängste abbauen.
Spaß und Erholung
- Tu jeden Tag etwas, das dir Spaß macht.
- Überlege dir, was du gut kannst.
- Wenn du die Übung zu den Charakterstärken gemacht hast, überlege dir, wie du deine Charakterstärken jeden Tag einsetzen kannst.
- Schreibe jeden Abend 3 gute Dinge auf, die an diesem Tag passiert sind (z.B. pünktlich in der Vorlesung gewesen, eine Aufgabe abgegeben, mit einem Mitstudierenden gesprochen).
Visualisierung
Wenn du dir in deiner Fantasie angenehme Gedanken oder Erinnerungen vorstellst, kann das helfen, einen entspannten Zustand zu schaffen.
- Mach es dir zunächst bequem und wähle dann einen realen oder imaginären Lieblingsort.
- Konzentriere deine Vorstellungskraft: Wie sieht er aus, was kannst du hören, welche Gerüche sind mit dem Ort verbunden und was kannst du anfassen?
- Wiederhole für dich selbst bestätigende Aussagen wie
Ich lasse die Anspannung los
oderIch fühle mich entspannt
.
Übe die Visualisierung dreimal am Tag für ein paar Minuten oder länger. Am einfachsten ist das morgens und abends im Bett. Mit etwas Übung kannst du die Visualisierung auch in alltäglichen Situationen anwenden, wenn du dich gestresst fühlst.
Kämpfe nicht gegen die Panik
Wenn du eine Panikattacke erlebst, denke daran, dass die Empfindungen unangenehm und beängstigend, aber nicht lebensbedrohlich sind. Es spielt keine Rolle, ob du dich ängstlich oder unsicher fühlst, denn diese Gefühle sind nur eine Übertreibung der normalen Körperreaktionen. Verschlimmere deine Panik nicht noch mit beängstigenden Gedanken darüber, was passiert oder wohin es führen könnte. Lass die Zeit verstreichen und die Angst abklingen.
Verwende eine oder alle der folgenden positiven Aussagen:
Dieses Gefühl ist weder angenehm noch wohltuend, aber ich kann es akzeptieren.
Ich kann ängstlich sein und trotzdem mit der Situation umgehen.
Ich lasse meinen Körper einfach machen, was er will. Das geht vorbei.
Diese Angst wird mir nicht wehtun, auch wenn sie sich nicht gut anfühlt.
Wann du dir zusätzliche Hilfe suchen solltest
Die Techniken, Übungen und andere Methoden, die ich hier genannt habe, sind zwar prinzipiell wirksam. Sie haben aber ihre Grenzen.
Je nachdem, woher deine Ängste rühren, wie stark sie sind, und wie gut oder schlecht du persönlich auf diese Methoden ansprichst, kann es sein, dass solche Tricks
nicht genug sind.
Wenn du ständig unter Stress oder Ängsten leidest oder dich deprimiert fühlst, ist es wichtig, dass du mit jemandem sprichst, der dir helfen kann.
- Eine erste Anlaufstelle kann die psychologische Studierendenberatung deiner Hochschule sein. Dort kannst du über deine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle sprechen, und die Berater*in kann dir Strategien nennen, um sie zu bewältigen.
- Eine Psychotherapie kann dir langfristig helfen.
Hinweis: In diesem Artikel habe ich viele verschiedene Techniken zur Stressreduzierung vorgestellt. Du musst sie nicht alle verwenden. Wähle diejenigen aus, von denen du glaubst, dass sie für dich am besten geeignet sind, und übe diese. Wenn du unter hohem Stress oder Angstzuständen leidest, verwende die von dir geübten und bewerte sie, indem du die folgenden Fragen stellen:
- Kann ich sie in einer stressigen Situation problemlos verwenden?
- Haben sie mir geholfen, mich weniger gestresst und ängstlich zu fühlen?
- Finde und verwende die Techniken, die für dich am besten geeignet sind.
Hier findest du weitere Tipps für die psychische Gesundheit autistischer Studierender.
Zuletzt bearbeitet am 22.11.2023.
Linus Mueller befasst sich seit 20 Jahren mit Autismus. Er hat hat sein Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Magisterarbeit über Autismus und Gender abgeschlossen und in mehreren Autismus-Organisationen gearbeitet, bevor er Autismus-Kultur gründete. Linus ist selbst autistisch und Vater eines fabelhaften Kindes. Mehr über Linus